Alexandra Hildebrandt


 

 

 

Dabei "betonte der Führer (Adolf Hitler) mit aller Entschiedenheit, daß nicht die Sorge für das Wohl des Kindes in erster Linie ausschlaggebend sei, sondern das ethische Recht der Mutter auf das Kind"

zitiert nach Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1993, 703,704

 

 

 

 

Die Mutter vom Checkpoint

GESCHICHTEN EINER TRENNUNG - Ein Buch und eine Ausstellung erinnern an die deutsche Teilung. Eine Frau kämpfte jahrelang um die Ausreise ihrer Töchter aus der DDR. Ost-West-Briefe zeigen die alltägliche Sehnsucht.

05.10.2006

Lokales - Seite 24

Wiebke Hollersen

Sie hat den Tag nicht zufällig gewählt. Auch nicht aus praktischen Gründen, das könnte man denken. Der 4. Oktober ist ein Tag nach dem 3. Oktober. Ganz nah am Tag der Deutschen Einheit und damit gut für ihr Thema - und doch kein Feiertag mehr, an dem viele vielleicht keine Lust haben, eine Buchpräsentation zu besuchen. Jutta Gallus ist am 4. Oktober nach Berlin gekommen, um das Buch "Die Frau vom Checkpoint Charlie" vorzustellen, weil das der Tag ist, an dem sie zur Frau vom Checkpoint Charlie wurde. Sie sitzt im Mauermuseum am alten Grenzübergang. Wenn sie aufstehen und die Vorhänge zur Seite schieben würde, könnte sie auf die Straße hinuntergucken, auf der sie vor genau 22 Jahren zum ersten Mal stand.

Protest beim Papst

Am 4. Oktober 1984 fuhr Jutta Gallus von Stuttgart nach West-Berlin und stellte sich an den Grenzübergang, das Gesicht in Richtung Osten, vor ihrem Bauch ein Plakat, auf das sie geschrieben hatte: "Gebt mir meine Kinder zurück!" Jutta Gallus war Anfang 1984 von der BRD aus der DDR-Haft freigekauft worden, nach fast zwei Jahren Gefängnis. Sie hatte versucht, mit ihren beiden Töchtern über Jugoslawien aus der DDR zu fliehen und war erwischt worden. Seit ihrer Verhaftung hatte sie ihre Töchter nicht gesehen. Deswegen stand sie dort.

Jutta Gallus war damals 36, Fotos aus der Zeit zeigen eine zierliche Frau in einem riesigen Anorak, die dunklen Locken streng an den Kopf gekämmt. Es wurden viele Fotos von Jutta Gallus gemacht, denn sie blieb nach dem 4. Oktober 1984 am Checkpoint Charlie stehen. Ein paar Wochen lang, zwei davon aß sie nichts. Später protestierte sie in Bonn, Wien, dem kanadischen Ottawa, in Helsinki, beim Papst. Medien aus aller Welt berichteten über sie. Sie zeigten dazu noch ein Bild: Zwei schmale Mädchen in karierten Hemden, die Kopf an Kopf in die Kamera lächeln. Claudia und Beate, die Töchter von Jutta Gallus, waren 11 und 9, als die Flucht der drei missglückte. Als Jutta Gallus sie wiedersah, waren sie Teenager. Erst im Sommer 1988 durften Claudia und Beate die DDR verlassen und zu ihrer Mutter ziehen.

Im Haus am Checkpoint Charlie sitzt Claudia Gallus neben ihrer Mutter. Die Tochter sieht aus wie ihre Mutter auf den alten Bildern, nur dass Claudia Gallus ihre Haare kurz trägt. Sie sagt kein Wort, sie lächelt für ein paar Fotos und geht. Jutta Gallus ist kaum widerzuerkennen, zwei blonde Zöpfe stehen von ihrem Kopf ab. Neben den beiden sitzt Ines Veith, die Autorin von "Die Frau vom Checkpoint Charlie" hatte einst für eine Frauenzeitschrift eine Reportage über Jutta Gallus geschrieben, die Frauen freundeten sich an. Ines Veith sagt, das Buch solle den Leser miterleben lassen, was es heißt, in die Fänge einer Diktatur zu geraten. "Es ist ja zum Amüsement geworden, sich hier fotografieren zu lassen", sagt sie und zeigt in Richtung Straße, da, wo sich die Touristen um den alten Checkpoint drängen. Die Buchpräsentation findet in einem Raum über dem Souvenir-Laden des Mauermuseums statt. Der Raum ist voll, vor allem Ältere sind gekommen.

Alexandra Hildebrandt, die Chefin des Museums, sagt zur Begrüßung, es könne keine innere Einheit geben, solange die Verbrechen der DDR nicht aufgearbeitet werden: "Zwangsadoptionen, Folter, Morde". "Jawoll!", ruft ein Mann, "Und Enteignungen, vergessen Sie das nicht!", ruft ein anderer. Das Publikum klatscht, als Alexandra Hildebrandt sagt: "Es ist eine Selbstverständlichkeit weltweit, dass Kinder bei der Mutter bleiben."

Claudia und Beate Gallus haben ihrer Mutter viele Briefe geschrieben, ins Gefängnis und später in den Westen, viele hat Jutta Gallus erst nach der Wende in ihrer Stasi-Akte gefunden. Die Mädchen haben immer wieder geschrieben, dass sie zu ihrer Mutter wollen, als Teenager fingen sie an, sich selbst für ihre Ausreise einzusetzen. Jutta Gallus hatte sich schon vor dem Fluchtversuch scheiden lassen, als sie in Haft war, waren ihre Töchter kurz im Heim. Danach wuchsen sie bei ihrem Vater auf. Der habe sie "so weit ganz nett behandelt", heißt es in dem Buch - kein Wort mehr.

Dass die Töchter vor und nach dem Fluchtversuch in der DDR-Fernsehserie "Geschichten übern Gartenzaun" mitspielten, gar eine Art Kinderstars waren, wird kurz erwähnt. Für Zwischentöne ist nicht viel Platz im Buch, erst recht nicht in der Lesung im Mauermuseum. Hier sind die Dinge ganz klar. "Ich kann das nicht lesen, ohne zu weinen", sagt Museums-Chefin Hildebrandt ein paar Mal. Jutta Gallus selbst lacht viel. Sie hat viel erlitten, vor allem im Gefängnis und als sie darum kämpfte, ihre Töchter wiederzusehen. Aber sie hat auch gewonnen. Sie sagt, sie hoffe, dass das Buch spannend für die Leser ist.

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Foto: (2) 22 Jahre später: Am 4. Oktober 1984 begann Jutta Gallus mit ihren Protesten am Checkpoint Charlie. Gestern kamen sie und ihre ältere Tochter Claudia an den Ort zurück. Das Bild hinter den beiden Frauen und das Foto unten zeigen Jutta Gallus bei Protestaktionen am Checkpoint Charlie.

In Museum und Fernsehen:

Jutta Gallus übergab dem Mauermuseum gestern Briefe ihrer Kinder und persönliche Erinnerungsstücke für die Ausstellung. Ihre Geschichte wird bald auch im Fernsehen zu sehen sein. Eine Produktionsfirma dreht derzeit für die ARD einen Zweiteiler mit Veronica Ferres in der Hauptrolle. Der Film soll 2007 ausgestrahlt werden.

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Foto: Ines Veith: Die Frau vom Checkpoint Charlie - Der verzweifelte Kampf einer Mutter um ihre Töchter. Knaur, München 2006. 196 S., 7,95 Euro.

 

Berliner Zeitung, 05.10.2006

 

 

 

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/1005/lokales/0013/index.html?group=berliner-zeitung;sgroup=;day=today;suchen=1;keywords=die%20mutter%20vom%20checkpoint;search_in=archive;match=strict;author=;ressort=;von=5.10.2006;bis=;mark=mutter%20checkpoint%20die%20vom%20m%FCtter

 

 

 

 

 

Kommentar Väternotruf:

Wer wollte da nicht gleich in Tränen ausbrechen, wenn er die traurig geschriebene Geschichte über die Mutter Jutta Gallus in der Berliner Zeitung liest. Wir lesen ergriffen: "Das Publikum klatscht, als Alexandra Hildebrandt sagt: `Es ist eine Selbstverständlichkeit weltweit, dass Kinder bei der Mutter bleiben`.

Nun, Alexandra Hildebrand, die Chefin des Haus am Checkpoint Charlie mag es als eine Selbstverständlichkeit ansehen, "dass die Kinder bei der Mutter bleiben". Vielleicht hat sie selber ein Kind, das bei ihr, statt beim Vater "geblieben ist", weil das als eine "Selbstverständlichkeit" erscheinen mag. Schön, wenn in einem solchen Fall der Vater dann wenigstens mit seinem Kind im persönlichen Kontakt bleiben kann.  

 

Die Dinge sind wie immer klar, gut und böse wohl sortiert: Eine gute Mutter will mit ihren beiden Töchter aus der Diktatur der DDR in die Freiheit im Westen fliehen. Das böse DDR-Regime hindert die Mutter aber daran und sperrt sie ein. So weit die Lesart, die Alexandra Hildebrandt offenbar dem naiv erscheinenden Publikum präsentiert. Der Beifall ist ihr sicher, grad so wie Erich Honecker der Beifall sicher war, wenn er vor Parteifunktionären redete. 

Nun fragt man sich als kritischer Leser jedoch, ob die Mutter den Vater der beiden Kinder, vor ihrer geplanten Flucht in den Westen um Zustimmung gebeten hat, die gemeinsamen Kinder mit in den Westen zu nehmen. Darüber schweigt sich Jutta Gallus - soweit aus dem Artikel in der Berliner Zeitung jedenfalls ersichtlich aus. 

"Jutta Gallus hatte sich schon vor dem Fluchtversuch scheiden lassen, als sie in Haft war, waren ihre Töchter kurz im Heim. Danach wuchsen sie bei ihrem Vater auf. Der habe sie ´so weit ganz nett behandelt`, heißt es in dem Buch - kein Wort mehr.

Man darf vermuten, dass Jutta Gallus den Vater vor der Mitnahme der Kinder nicht um Zustimmung gebeten hat, grad so wie es zwanzig Jahre später noch immer jährlich einige Tausend Mütter tun, die bei innerdeutschen Kindesentführungen die Kinder aus der bisherigen gewohnten Umgebung der Kinder an einen neuen Wohnort der Mutter verbringen, bei weitestgehender Tatenlosigkeit der deutschen Behörden, Jugendämter und Familiengerichte.

 Wie sagte doch Alexandra Hildebrandt in trauter Eintracht mit mütterparteilichen Jugendamtsmitarbeiter/innen und Familienrichter/innen des Jahres 2006: "Es ist eine Selbstverständlichkeit weltweit, dass Kinder bei der Mutter bleiben".

 

 

 

 


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