Die Liebe der Väter


 

 

 

 

Roman "Die Liebe der Väter"

Schwierige Beziehung: Viele Väter sehen ihre Kinder nur am Wochenende (Bild: AP)

"Ansammlung von Schuldgefühlen"

Der Schriftsteller Thomas Hettche über seinen Roman "Die Liebe der Väter" und die Sorgerechts-Debatte Thomas Hettche im Gespräch mit Ulrike Timm Ein Mann kämpft darum, für seine Tochter da sein zu dürfen - die Mutter will den Kontakt unterbinden. Aus diesem selbst erlebten Leiden ist das passende Buch zur aktuellen Debatte um das Sorgerecht geworden.

Ulrike Timm: Wenn unverheiratete Paare ein Kind bekommen, dann müssen Vater und Mutter gemeinsam das Sorgerecht erhalten, wenn es denn dem Kindeswohl dient. Das hat vor ein paar Tagen das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Bislang lag das Sorgerecht bei ledigen Paaren automatisch allein bei der Mutter. Und für die Väter, die sich auch nach einer Trennung der Eltern weiter intensiv um ihre Kinder bemühen - und das werden immer mehr -, für die bedeutet das Urteil einen Durchbruch, denn bislang durften sie zwar für ihren Nachwuchs zahlen, hatten aber kein Recht, das Leben des Kindes wirklich zu begleiten. Wenn das Kind zum Beispiel in die Schule kommt oder ins Krankenhaus musste, entschied allein die Mutter, wohin es kam. Wie ein lediger Vater das erlebt, damit setzt sich der Schriftsteller Thomas Hettche in seinem neuen Buch "Die Liebe der Väter" auseinander, geschrieben aus eigener Erfahrung, verarbeitet in einem Roman. Herr Hettche, schönen guten Tag!

Thomas Hettche: Schönen guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Hettche, Ihr Buch hätte man dem Verfassungsgericht als Fallbeispiel vorlegen können, es ist auch eine literarische Klageschrift. Wollten Sie den Vätern eine Stimme geben?

Hettche: Das ist keine Klage, das ist ein Roman - nicht ein Buch, ein Roman - und erzählt eine fiktive Geschichte eines Vaters und seiner pubertierenden Tochter. Aber natürlich war der Hauptantrieb in der Tat zu versuchen, begreiflich zu machen, was in so einem Vater vorgeht, und diese Ansammlung von Schuldgefühlen und Ohnmachtsgefühlen der Väter, die durch ihre Rechtslage zu Ohnmacht gebracht werden. Und ich dachte, ich würde gerne versuchen auszudrücken, welche Gemengelage da entsteht emotional für diese Männer.

Timm: Wenn das Sorgerecht allein bei der Mutter liegt, wie erlebt denn ein Vater dieses Machtverhältnis?

Hettche: Na ja, ich meine, bei einer Trennung ist natürlich immer das Problem, dass Vater und Mutter in der Regel ja nicht im Guten auseinandergehen, und in der Rechtslage, die bisher herrschte, war das bei unverheirateten Paaren natürlich so, dass die Mutter in einer Machtposition war. Sie haben ja vorhin das Beispiel genannt, wenn man als Vater sein Kind im Krankenhaus besuchen möchte, weil irgendwas geschehen ist, und man braucht dafür eine Vollmacht der Mutter, die sie vielleicht nicht erteilt, ist man natürlich in einer sehr defensiven Haltung. Und das geht ja sozusagen bis zu Kleinigkeiten, dass man ein Kind nicht von der Schule abholen darf ohne eine Vollmacht. Und das produziert einfach ein Ungleichgewicht in der Art und Weise auch natürlich, wie die Kinder ihre Eltern wahrnehmen, weil der Vater, der natürlich im besten Fall ein beschützender, ein sorgender, ein Anteil nehmender Vater sein will, zu dieser Sorge wirklich nicht berechtigt ist. Und das ist ein bisschen die Grundkonstellation, aus der meine Romanfigur heraus dann agiert und spricht.

Timm: Und wie erlebt das aus Ihrer Sicht das Kind?

Hettche: Es ist natürlich … Die Frage zielt ein bisschen auf diesen juristischen Streit, die Frage, was ist das Kindeswohl. Bisher ging man davon aus, das Entscheidende sei, dass das Kind einen festen Lebensmittelpunkt habe, und die Rechtsprechung, die automatisch das Sorgerecht der Mutter zusprach, tat das ja, um damit den Streit um das Kind zu vermeiden. Ich glaube aber, dass es in der Tat wichtig ist, dass das Kind beide Elternteile als mächtig erlebt, als fürsorglich in dem Sinn, dass sie handeln können für das Kind, was natürlich eine Konsensfindung der Eltern voraussetzt, was aber dann, glaube ich, sich auszahlt, weil eben beide Elternteile ihren Part leisten können. Und insofern glaube ich, dass die jetzige Rechtsprechung - und das ist auch die Erfahrung, die ich von vielen Vätern habe - dazu geführt hat, dass viele Kinder natürlich ihre abwesenden, anwesenden, ohnmächtigen Väter ja nicht als vertrauenswürdig erlebt haben.

Timm: Das juristische Problem ist ja mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus der Welt, aber bedeutet gemeinsames Sorgerecht denn automatisch weniger Zank und Streit?

Hettche: Natürlich nicht. Ich denke natürlich, im optimistischen Fall könnte man sagen, dass für die jetzt neugeborenen Kinder und ihre Eltern ja klar ist, dass sie beide in einem Trennungsfall Sorgerecht behalten würden, solange das Gericht nicht bei einem der beiden Elternteile einen massiven Nachteil sieht, und dass deshalb vielleicht natürlich Eltern anders in die Situation hineingehen, auch wenn sie nicht verheiratet sind. Insofern könnte das, glaube ich, in der Tat einen anderen Umgang mit befördern. Aber natürlich die ganz große Zahl von Fällen, die jetzt durch die Jahre entstanden sind und die dadurch auch geprägt sind von Frustration, Aggression und den Schwierigkeiten der jetzigen Rechtslage, die jetzt, wo die Väter sich jetzt einklagen oder versuchen, das Sorgerecht zu bekommen, das wird natürlich eine Lawine von Auseinandersetzungen produzieren, die erst mal nicht zur Harmonie beiträgt.

Timm: Und eingeklagtes Recht produziert auch keine gute Beziehung - zwischen Vater und Kind.

Hettche: Na, ich glaube, das Jugendgericht ist überhaupt natürlich kein guter Ort, um über Kinder zu reden.

Timm: Sie haben Ihr Buch "Die Liebe der Väter" jedenfalls perfekt getimt, bewusst oder unbewusst, der Verlag hat die Veröffentlichung jetzt vorgezogen. Wie bewusst war Ihnen, dass Sie in die politische Diskussion hineinschreiten?

Hettche: Überhaupt gar nicht. Also gerade bei diesem Roman, der nun wirklich ein sehr persönliches Buch ist, auch wenn er fiktiv ist und nicht auch meine Geschichte erzählt, dieses persönliche Buch, so was reift über Jahre. Und ich konnte dieses Buch erst jetzt schreiben und dazu musste wirklich mindestens mal ein Jahrzehnt vergangen sein. Und insofern ist diese Koinzidenz jetzt mit dem Urteil der reine Zufall. Und der Verlag hat das Buch, glaube ich, nur vier Tage vorgezogen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Schriftsteller Thomas Hettche über das Sorgerecht für ledige Väter und sein neues Buch "Die Liebe der Väter". Das gibt einem Vater eine Stimme, dem die Mutter sein Kind vorenthält. Herr Hettche, lassen Sie uns über Ihr Buch sprechen: Das Mädchen Annika, 13 Jahre alt, ist eher Spross einer Liebelei als einer echten Beziehung, und sie wirft Vater Peter immer wieder vor: Du bist nicht für mich da - in Worten oder auch wortlos. Der Vater muss das aushalten und sich zugleich ziemlich nüchtern eingestehen: Ja, stimmt. Ist das die immerwährende Spannung?

Hettche: Das ist das, was natürlich ein Vater aushalten muss, alle Elternteile aushalten müssen, weil ich glaube, dass Kinder ganz lange, auch wenn sie natürlich in der Trennung furchtbar vernünftig scheinen, ganz lange immer wieder vor der Frage stehen: Warum haben die Eltern sich getrennt und kann das nicht wieder anders sein? Das ist eine sehr furchtbare Frage, die einem dann immer wieder über Jahre hinweg gestellt wird, wo man längst denkt, der Zustand der Trennung ist akzeptiert, weil diese Sehnsucht nach der heilen Familie natürlich nicht aufhört.

Timm: Ihr Peter sagt, die Schuld hört nie auf, egal, wie viel man davon auf sich nimmt, ein immerwährender Brunnen, das meinte ich mit dieser inneren Spannung.

Hettche: Ja, das Umgehen mit dieser Schuld, die viele Väter ja auch schildern als eine Schuld, die so groß ist, wie sie sonst im Leben eigentlich nicht vorkommt, dass man da ein Kind hat, dem man ein Vater natürlich gern sein möchte, und das funktioniert nicht. Und alle anderen Möglichkeiten der Kontakthaltung kommen einem natürlich wie, ja, wie Surrogate des richtigen Lebens vor. Also diese Besuche im Zoo bei Wochenendaufenthalten und auch diese gemeinsamen Urlaube, wo ja gern in der Diskussion argumentiert wird von Müttern, dass die abwesenden Väter sich sozusagen die Rosinen aus dem Kuchen pickten, während sie die Alltagsleistung haben, diese Urlaube, diese nicht normale Zeit, sind natürlich auch etwas sehr Künstliches, was auch schwierig macht, eine Normalität herzustellen, weil dieses Entwachsen und das Sichentwickeln eines Kindes ja durch den unendlich langen Alltag begleitet wird. Und wenn das fehlt, muss man als Vater immer wieder neu eine Nähe herstellen. Und davon erzählt das Buch.

Timm: Ihre Geschichte kulminiert in einer schlimmen Ohrfeige, der Vater schlägt sein Kind. Man ist echt schockiert in dem Moment, wenn man das liest. Was genau kommt da zum Ausbruch? Er meint ja nicht das Kind, sondern die Mutter.

Hettche: Vielleicht darf ich noch einen Satz ausholen dazu. Also mir war es wirklich wichtig, die Emotion und die Gefühlslage dieses Mannes möglichst ungefiltert darzustellen und auch über Sachen zu sprechen, die man erst mal auch gerne wegschieben möchte. Dazu gehört natürlich, dass man gegenüber dieser Ohnmacht, die man empfindet, wenn man eben nicht mit entscheiden darf, eine Aggression, die da entsteht. Und mein Held, Peter, kommt mit Annika nach Sylt, ist eine Woche da über Silvester, und es bricht alles zwischen den beiden sozusagen wieder auf. Und das kulminiert, diese Silvesterszene, wo Annika ihm sagt, dass sie die Schule wechseln würde. Und das ist natürlich für ihn wieder so eine Erfahrung des Außen-vor-Seins und des Nicht-mit-gestalten-Könnens, und da geschieht diese Ohrfeige. Ich habe mir lange überlegt, ob man das hinschreiben darf, so was, aber ich glaube, dass es eine Richtigkeit hat in der Psychologie dieser Figuren.

Timm: Der Mann in Ihrem Roman, Herr Hettche, ist ein sehr mütterlicher Mann. Man glaubt sofort, dass er der Tochter sehr viel mehr Kontinuität schenken könnte, als es die Mutter tut oder kann, in der Lebenswirklichkeit überwiegen trotzdem die alleinerziehenden Mütter, die sich einen Vater wünschen würden, der mehr an der Seite des Kindes steht, auch nach der Trennung. Nach zwei, drei Jahren, so eine Statistik, seilen sich die meisten Väter doch häufig ab. Fürchten Sie für Ihr Buch eventuell auch falschen Beifall?

Hettche: Ja, allerdings. Also ich meine, das Buch, dieser Roman ist wirklich kein Pamphlet und keine Schrift gegen alleinerziehende Mütter, und ich weiß, dass natürlich in 80 Prozent, ich weiß nicht wie vielen, Prozent der Fällen die Frauen die Hauptlast tragen. Darum ging es mir gar nicht. Es ging mir wirklich einfach, es gibt einfach diese anderen Fälle auch, und es gibt oder ich hatte das Gefühl, es gibt noch nicht ein Profil von diesen Emotionen, die da entstehen, und dem wollte ich einfach eine Stimme geben. Und das hat überhaupt nichts zu tun mit anderen, aber ich denke, dass es einfach eine Berechtigung hat, diesen Männern auch eine Stimme zu geben.

Timm: "Die Liebe der Väter", damit haben Sie ein Buch geschrieben, das zugleich hoch aktuell und inaktuell ist in einem, denn künftig wird es dieses Problem ja so nicht mehr geben. Wie ist das für Sie?

Hettche: Na ja, ich beschreibe ja wirklich die Gefühlslage dieses Vaters, der in dieser Rechtsprechung seit 13 Jahren lebt, und das gilt für ganz viele andere Menschen in diesem Land auch, und da kann man nur sagen, schön, dass sich etwas ändert, das ändert aber nichts an den gemachten Erfahrungen.

Timm: Herr Hettche, dieses Buch ist Ihr persönlichstes heißt es, was bedeutet dieses Buch eigentlich für Ihre Tochter?

Hettche: Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten werde.

Timm: Das kann ich verstehen, aber fragen wollte ich es doch. Thomas Hettche über seinen neuen Roman "Die Liebe der Väter", erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. Herzlichen Dank fürs Gespräch!

Hettche: Vielen Dank!

16.08.2010

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1249115/

 

 


 

 

Schriftsteller Thomas Hettche

"Die Ohrfeige ist Ausdruck der Verzweiflung"

Herlinde Koelbl/ KiWi

Thomas Hettche: Beim Müttertalk außen vor

Er schreibt über "Die Liebe der Väter" und den Schmerz, der Männer ohne Sorgerecht erfasst, wenn ihnen ihre Kinder entgleiten. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der Schriftsteller Thomas Hettche über Familie, Schuld und die Bedeutung, die ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts für ihn hat.

 

SPIEGEL ONLINE: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Grundsatzurteil, in dem es das Sorgerecht unverheirateter Väter stärkte, ihrem neuen Buch "Die Liebe der Väter" ungeahnte Aktualität verliehen. Die "Süddeutsche Zeitung" meinte, das Urteil habe Ihren Roman überflüssig gemacht. Was gilt denn nun?

Thomas Hettche: "Die Liebe der Väter" ist kein Pamphlet, das man weglegt, wenn es nicht mehr dem Stand der Debatte entspricht, sondern ein Roman, der von Menschen erzählt. Die Erfahrung, die mein Held macht - die des Vaters, der kein Sorgerecht hat -, ist eine von Versagen und Ohnmacht, und insofern zeitlos gültig. Überraschend war für mich bei der Recherche aber, wie sehr sich die Geschichten lediger Väter gleichen, weil die Rechtslage ähnliche Schicksale hervorgebracht hat. Und insofern ist das Schicksal meines Helden auch wiederum mehr als ein einzelnes.

 

SPIEGEL ONLINE: Im Roman ist an einer Stelle vom "Krüppelblick der verlassenen Väter" die Rede. Wer verkrüppelt da wen und wie?

Hettche: Getrennt lebende Väter erzählen immer wieder von dem Misstrauen, mit dem man ihnen begegnet. Das fängt mit den Müttern auf den Spielplätzen an, betrifft Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen und die Jugendämter. Es gibt einen recht beherrschenden Müttertalk, bei dem man als Vater immer außen vor ist. Man spürt das Vorurteil, man habe die Familie im Stich gelassen. Dieser Verdacht verkrüppelt, schlägt sich nieder als Gefühl von Minderwertigkeit.

 

 

SPIEGEL ONLINE: "Man wird die Schuld nicht los, soviel man davon auch auf sich nimmt", sagt die männliche Hauptfigur über die kaputte Beziehung und das eigene Fehlen in der Familie. Geht es denn darum: Schuld los zu werden?

Hettche: Nein, natürlich nicht. Aber die Frage, die das Kind in meinem Roman seinem Vater immer wieder stellt: "Wann vertragt ihr euch wieder?", hat etwas unausweichliches. Man kann das Leben als getrenntes Paar noch so gut einrichten - dieser Wunsch, dieser Schmerz des Kindes vergeht nicht. Und dieser Schmerz des Kindes ist die Schuld, der man nie mehr entkommt.

 

SPIEGEL ONLINE: Am Ende sagt der Erzähler zur Tochter: "Du warst mir irgendwann nicht so wichtig wie ich mir selbst. Das ist die Schuld." Es gibt nun aber ganze therapeutische Schulen, die sagen: Das ist Integrität. Sich erst mal ehrlich um die eigenen Bedürfnisse kümmern und versuchen, glücklich zu werden.

Hettche: Vielleicht gibt es da ja einen unaufhebbaren Widerspruch? Vielleicht geht es Kindern ja gar nicht primär darum, dass ihre Eltern ihr Leben erfüllt leben. Zumal, wenn diese Erfüllung die Trennung bedeutet.

 

SPIEGEL ONLINE: Sie würden den von Streit und Konflikten belasteten Paaren also zurufen: Reißt euch mal am Riemen?

Hettche: Das ist sicher keine Lösung. Aber auch wenn wir in unseren Lebensentwürfen nicht wissen, was wir tun sollen, wenn ein vitales Bedürfnis des Kindes möglicherweise konträr zu unseren Vorstellungen von Verwirklichung steht, ändert das ja nichts an der Analyse. Mit geht es auch gar nicht um Antworten. Ich wollte mit "Die Liebe der Väter" den Vater-Erfahrungen von Versagen und Ohnmacht einen Ausdruck geben, weil ich den Eindruck habe, dass diese Erfahrungen bisher keinen Raum hatten.

 

SPIEGEL ONLINE: "Man sieht den Söhnen und Töchtern an, dass sie wissen, sie werden niemals mehr erreichen, wofür sie doch vorgesehen waren", schreiben Sie einmal über die Generation der Hauptfigur. Was waren das für Pläne?

Hettche: Die Geschichte spielt ja auf Sylt, und Sylt ist ein wunderbarer Mikrokosmos, weil dort die westdeutschen Eliten über Jahrzehnte hinweg in Kontakt miteinander standen. Zugleich ist es heute ein ungeheuer spießiger Ort. Diese Träume der gehobenen Mittelschicht von Reichtum, die man dort ausgeführt sieht im Lifestyle, in den Restaurants und Hotels, sind heute auf eine seltsame Weise passé. Ich hatte den Eindruck, als sähe man den dortigen Söhnen und Töchtern die Zukunftsangst deutlich an. Und das gehört, wie ich finde, zu einem Roman über einen Vater dazu, der in den Sechzigern geboren und groß wurde mit dem Vertrauen auf staatliche Systeme. Denn unser Nachdenken über Familie geschieht ja heute unter einem äußeren, ökonomischen Druck, es sind ja nicht zuletzt unsere Konzepte von Selbstverwirklichung, die an Grenzen stoßen.

 

SPIEGEL ONLINE: Ein Kritiker sprach mit Blick auf die im Buch dargestellten Familien vom "dusseligen Dreingequatsche", das in der "verquatschten Mittelstandsgesellschaft" allgegenwärtig sei. Wie entkommt man denn dem Malstrom des Geredes? Mit Ohrfeigen, wie sie der Vater in Ihrem Buch der Tochter verpasst, ja wohl nicht.

Hettche: Ich habe den Eindruck, dass es, wenn Familien zusammen kommen, eigentlich immer darum geht, sich gegenseitig seine Modelle zu erzählen, um sie bestätigt zu bekommen. Familie ist für uns heute etwas so Unsicheres, Fragliches, dass sie immer wieder neu hergestellt werden muss. Für den ledigen Vater meines Romans, der in diesen Gesprächen keine Gelingensgeschichte beisteuern kann und eigentlich den Mund halten müsste, ist das furchtbar. Das ist Raum, in dem die Geschichte sich entwickelt. Die Ohrfeige ist keine Antwort, sie ist der Ausdruck der Verzweiflung.

Das Interview führte Daniel Haas

 

ZUR PERSON

Der 1964 geborene Thomas Hettche zählt zu den profiliertesten deutschsprachigen Schriftstellern seiner Generation. Bekannt wurde er 1995 mit "Nox", dem äußerst explizit erzählten Roman der Berliner Nacht des 9. November 1989. Später erschienen "Der Fall Arbogast", ein Kriminalroman über einen Lustmord, und 2006 "Woraus wir gemacht sind", Hettches erzählerisches Bild der USA zwischen 11. September und Irak-Krieg. Im Zentrum seines neuen Romans "Die Liebe der Väter" steht ein lediger Mann, der mit seiner 13-jährigen Tochter ein Wochenende auf Sylt verbringt. Da er kein Sorgerecht hat, muss er schmerzhaft feststellen, wie wenig Einfluss er auf die Entwicklung seines Kindes hat. Mitte August bekam der Text zusätzliche Aktualität: Das Bundesverfassungsgericht entschied, ledigen Vätern ein Sorgerecht für Kinder auf Antrag auch ohne Einverständnis der Mutter zuzugestehen.

03.09.2010

http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,715293,00.html

 

 

 


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