Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Haase gegen Deutschland


 

 

 

 

European Court of Human Rights

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR

Strasbourg (Straßburg)

 

 

 

 

 

EuGHMR - EMRK Art. 6 I, Art. 8 I, Art. 8 II, Art. 34, Art. 41; BGB § 1666, § 1666a

(3. Sektion, Urteil v. 8.4.2004 - Beschwerde Nr. 11057/02 [ [Haase/Deutschland])

1. Zu den Voraussetzungen eines einstweiligen Sorgerechtsentzugs und der Durchführung einer Inpflegenahme.

2. Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers gemäß Art. 34 EMRK entfällt nicht bereits durch die Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen, sofern die innerstaatlichen Behörden die Konventionsverletzung nicht ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben.

3. Ein leiblicher Elternteil kann ungeachtet des erfolgten Sorgerechtsentzugs und der Bestellung eines Vormunds sein Kind vor dem EuGHMR vertreten, wenn diese Maßnahme einer der Streitpunkte vor dem Gerichtshof ist.

4. Der einstweilige Entzug des Sorgerechts und die Trennung der Kinder von ihren Eltern stellen Eingriffe in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 I EMRK dar, die gemäß Art. 8 II EMRK der Rechtfertigung u. a. durch einschlägige und ausreichende Gründe bedürfen.

5. Voraussetzung für einen einstweiligen Sorgerechtsentzug ist die tatsächliche Feststellung einer unmittelbaren Gefährdung des Kindeswohls. Eltern sind so weit wie möglich vor dem beabsichtigten Eingriff anzuhören, es sei denn, dass diesem dadurch die Effektivität genommen würde. Darüber hinaus müssen dessen Auswirkungen auf Eltern und Kind sowie mögliche Alternativen zur Trennung vorher sorgfältig geprüft werden. Ein Neugeborenes darf nur aus außergewöhnlich zwingenden Gründen ohne Anhörung der Eltern und gegen den Willen der Mutter aus deren Obhut genommen werden.

6. Die Inpflegenahme eines Kindes stellt grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden ist, sobald die Umstände dies erlauben. Alle Durchführungsmaßnahmen haben mit dem anzustrebenden Ziel der Zusammenführung von Eltern und ihrem Kind in Einklang zu stehen. Die Erfahrung zeigt, dass ein Prozess der irreversiblen Entfremdung von Kindern und ihrer Familie in Gang gesetzt wird, wenn Kinder für längere Zeit in der Obhut von Jugendämtern verbleiben. Eine Wiedervereinigung wird schließlich völlig vereitelt, wenn ein Umgangskontakt nicht gestattet wird. Getroffene Eilmaßnahmen können deshalb wegen ihrer unmittelbaren Auswirkungen und ihrer Folgen nur schwer wieder rückgängig zu machen sein.

(Leitsätze des Einsenders)

[m. Anm. Rixe, nachstehend S. 589]

 

[Zum Sachverhalt:]

Die seit 1994 miteinander verheirateten Beschwerdeführer [Bf.] haben gemeinsam fünf Kinder, die zwischen einem und acht Jahre alt sind. Bei ihnen lebten weiterhin drei von sieben Kindern aus der geschiedenen Ehe der Frau.

I. Verfahren auf Entzug des Sorgerechts

Im Februar 2001 beantragte die Bf. beim Jugendamt [JA] die Gewährung von Hilfen zur Erziehung. Ein von diesem mit Zustimmung der Bf. eingeholtes Gutachten des Dipl.-Psych. G. v. 17. 12. 2001 stellte auf der Grundlage von vier Hausbesuchen (September und Oktober 2001) fest, dass die bestehenden Versorgungsdefizite und die häuslichen Verhältnisse die Entwicklung der Kinder ernsthaft gefährdeten. Es habe eine Kette von schädigenden Ereignissen gegeben, wobei die Bf. wiederholt unangemessen streng mit ihren Kindern umgegangen seien und sie auch geschlagen hätten. Eine sichere langfristige Unterbringung der Kinder sei erforderlich und der weitere Umgang zwischen ihnen und den Bf. zu untersagen. Noch am selben Tage beantragte das JA beim FamG, den Bf. die elterl. Sorge für die damals bei ihnen lebenden sieben Kinder im Wege der einstweiligen [einstw.] Anordnung [AO] zu entziehen.

1. Ebenfalls am 17. 12. 2001 erließ das FamG die beantragte einstw. AO, ohne die Eltern und die Kinder vorher angehört zu haben. Zugleich ordnete es die unverzügliche Herausgabe der Kinder an und ermächtigte das JA zur Durchsetzung der Herausgabe-AO notfalls unter Anwendung von Gewalt. Zur Begründung verwies das FamG auf die Feststellungen des Sachverständigen-[SV-]Gutachtens und befand, dass das körperliche, geistige und seelische Wohl aller Kinder aufgrund des Versagens der Eltern, ihren Kindern eine zufriedenstellende Versorgung und Erziehung zuteil werden zu lassen, und durch missbräuchliche Ausübung der elterl. Sorge in einem solchen Ausmaß gefährdet erscheine, dass als einzig möglicher Weg die Trennung der Kinder von den Eltern angezeigt erscheine. Das FamG stützte sich insoweit auf §§ 1666, 1666a BGB.

Mit Beschluss v. 18. 12. 2001 schloss das FamG - ebenfalls im Eilverfahren - den Umgang der Bf. mit ihren Kindern sowie den drei Kindern der Bf. aus erster Ehe aus und ordnete zugleich an, dass ihnen der Aufenthaltsort der Kinder nicht mitzuteilen sei. Das FamG untersagte der Bf. ferner den Umgang mit den vier weiteren Kindern aus erster Ehe. Ihr wurde zudem verboten, sich der Wohnung der Kinder und ihren Schulen auf weniger als 500 m zu nähern. Zur Begründung verwies das FamG auf das Gutachten, das glaubhaft gemacht habe, dass die Trennung von den Eltern zum Schutz der Kinder erforderlich sei. Es sei mit erheblichen Widerständen und dem Versuch der Bf. zu rechnen, Druck auf ihre Kinder auszuüben. Um die Kinder von diesen Belastungen fernzuhalten, seien die erlassenen AOen zum Wohl der Kinder erforderlich.

Noch am 18. 12. 2001 wurden die Kinder gegen Mittag aus ihren Schulen, dem Kindergarten und ihrer Familie genommen und in drei Kinderheimen untergebracht. Das sieben Tage alte jüngste Kind wurde direkt von der Entbindungsstation mitgenommen und lebt seither in einer Pflegefamilie.

Auf die von den Bf. am 19. 12. 2001 eingelegte Beschwerde gegen den Sorgerechtsbeschluss des FamG v. 17. 12. 2001 hörte das FamG die Beteiligten [Bet.], eine Vertreterin des Kindergartens sowie den SV G. am 7. 1. 2002 an. Das FamG bat den SV, die bisher nicht explorierten Kinder diagnostisch zu untersuchen und sein Gutachten abzuschließen. Es bestellte ferner den SV H., um die Erziehungsfähigkeit der Bf. überprüfen zu lassen. Mit Beschluss v. 1. 3. 2002 wies das OLG die Beschwerde zurück. Es stellte fest, dass sich das FamG auf den mit Antrag v. 17. 12. 2001 vorgelegten Bericht des JA sowie das SV-Gutachten gestützt habe, nach dem die angefochtene Maßnahme gerechtfertigt sei. Der SV sei zu dem Schluss gekommen, dass die basalen Bedürfnisse der Kinder nicht befriedigt würden und alle Lebensbereiche der Kinder darüber hinaus von gewaltförmigen Handlungen und einer permanenten Unterversorgung geprägt seien. Es sei deshalb erforderlich, die offensichtlich bestehende Kindeswohlgefährdung zu beenden. Bis Mitte April 2002 solle das weitere SV-Gutachten vorliegen. Deshalb könne die Beschwerde auch ohne persönliche Anhörung zurückgewiesen werden. Es widerspräche dem Kindeswohl, die Kinder jetzt aus der neuen Umgebung, in der sie neue Kontakte aufbauten, herauszunehmen und sie in ihre frühere Familie zurückzugeben, da die Gefahr bestünde, dass sie kurz danach erneut in eine neue Umgebung gegeben würden.

2. Mit Kammerbeschluss v. 4. 4. 2002 lehnte das BVerfG [FamRZ 2002, 947] den Erlass einer von den Bf. beantragten einstw. AO ab. Am 21. 6. 2002 hob das BVerfG [FamRZ 2002, 1021] die fachgerichtlichen Entscheidungen hinsichtlich des Sorgerechts wegen Verletzung von Art. 6 II S. 1 i. V. mit Abs. III GG auf und verwies die Sache an das FamG zurück. Zur Begründung führte es u. a. aus, dass schon nicht ersichtlich sei, dass die Gerichte die Bedeutung des Elternrechts bei ihrer Entscheidung zutreffend erkannt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend beachtet hätten. Auch hätten die Fachgerichte Art. 6 II S. 1 i. V. mit Abs. III GG bei der Ausgestaltung ihres Verfahrens nicht hinreichend Rechnung getragen. Soweit sich die Bf. gegen den Umgangsausschluss durch den Beschluss des FamG v. 18. 12. 2002 wandten, wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung als unzulässig zurück.

3. Nachdem das FamG zwischenzeitlich den Kindern einen Verfahrenspfleger beigeordnet, diesen angehört und Prof. K. als neue SV unter Entpflichtung der bisherigen SV bestellt hatte, übertrug es aufgrund mündlicher Verhandlung v. 1. 7. 2002 nach Anhörung der Bet. und SV sowie Vernehmung des Arztes der Kinder dem JA erneut im Wege einstw. AO die Personensorge für die Kinder und bestätigte den vorläufigen Umgangsausschluss mit Beschluss v. 18. 12. 2001. Das FamG stützte sich insbesondere auf die Feststellungen des SV G., nach denen die Trennung der Bf. von den Kindern aufrechterhalten werden müsse. Die Bf. seien wegen ihrer eigenen grundlegenden und irreparablen Erziehungsdefizite und des Missbrauchs der elterl. Sorge nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen.

II. Weitere Entwicklung

Mit Hauptsacheentscheidung v. 6. 3. 2003 entzog das FamG nach Anhörung aller Bet. sowie der SV den Bf. die Personensorge für die vier gemeinsamen Kinder und der Bf. die Personensorge für ihre bisher bei ihr lebenden Kinder und schloss den Umgang mit ihnen bis Juni 2004 aus. Zur Begründung führte das Gericht u. a. aus, dass die Situation innerhalb der Familie schwierig und für die Kinder gefährdend sei. Von den Bf. verhalte sich insbesondere die Bf. unflexibel und sei nicht in der Lage, die Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und geeignete Erziehungsmaßnahmen mit zu tragen. Die Kinder wüchsen in höchst unzureichenden Verhältnissen auf. Sie hätten in den Einrichtungen eine positive Entwicklung genommen, Vertrauen gefasst und seien weniger verhaltensauffällig. Mit gesondertem Beschluss vom selben Tage untersagte das FamG der Bf., mit drei ihrer ältesten Kinder vor Ende 2004 und mit ihrem ältesten Sohn vor Volljährigkeit Kontakt aufzunehmen. Die Bf. legten gegen die Entscheidungen Beschwerde ein.

III. Verfahren vor dem EuGHMR

Am 6. 3. 2002 hatten die Bf. wegen des einstw. Entzugs der elterl. Sorge sowie des Ausschlusses des Umgangs Menschenrechtsbeschwerde erhoben, die sie auf die Verletzung des Anspruchs auf Achtung ihres Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK sowie auf die Unfairness des Verfahrens gemäß Art. 6 I EMRK stützten. Durch Kammerentscheidung v. 23. 1. 2003 erklärte der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig. Der EuGHMR entschied mit Urteil v. 8. 4. 2004 einstimmig, dass die Beschwerde gegen den einstw. Umgangsausschluss mangels Rechtswegerschöpfung gemäß Art. 35 I EMRK unzulässig sei, im Übrigen eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliege und sich keine gesonderte Fragestellung nach Art. 6 I EMRK ergebe. Er verurteilte die BRD des Weiteren einstimmig gemäß Art. 41 EMRK, an die Bf. 35.000 € wegen immateriellen Schadens, 10.000 € wegen materiellen Schadens sowie 8.000 € für Kosten und Auslagen abzüglich im Wege der PKH geleisteter 1.355 € zu zahlen. Die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes für die Kinder lehnte der EuGHMR wegen verspäteter Antragstellung ab. Das Urteil ist gemäß Art. 44 IIb EMRK endgültig, nachdem keine der Parteien einen Antrag auf Verweisung des Verfahrens an die Große Kammer gestellt hat.

 

Aus den Gründen:

A. Zulässigkeit

65. Im Hinblick auf den Hauptsachebeschluss des FamG v. 6. 3. 2003 erinnert der Gerichtshof daran, dass diese Entscheidung nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde ist.

Einrede des Wegfalls der Opfereigenschaft

67. Die Regierung wandte ein, dass angesichts der Aufhebung der Beschlüsse des FamG v. 17. 12. 2001 sowie des OLG v. 1. 3. 2002 durch das BVerfG die Opfereigenschaft der Bf. weggefallen sei. Entsprechendes gelte auch für die einstw. AOen des FamG v. 17. 12. 2001 und 1. 7. 2002, die angesichts der Entscheidung des FamG in der Hauptsache v. 6. 3. 2003 außer Kraft getreten seien.

69. Der Gerichtshof erinnert daran, dass eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Bf. grundsätzlich seine Opfereigenschaft nicht entfallen lässt, sofern die innerstaatlichen Behörden die Konventionsverletzung nicht ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben (vgl. Dalban/Rumänien [GK], Urteil v. 28. 9. 1999 - Beschwerde Nr. 28114/95 -, Ziff. 44, EuGHMR 1999-VI).

70. Selbst wenn man zugrunde legt, dass die Entscheidung des BVerfG v. 21. 6. 2001 als ausdrückliche oder implizite Anerkennung der behaupteten Verletzung des Art. 8 EMRK angesehen werden kann, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Entscheidung faktisch keine aufschiebende oder abhelfende Wirkung im Hinblick auf die aufgrund des Beschlusses des FamG v. 17. 12. 2001 getroffenen Maßnahmen hatte.

71. Hinsichtlich der Hauptsacheentscheidung des FamG v. 6. 3. 2003 stellt der Gerichthof fest, dass die aufgeführten Gründe im Wesentlichen denen der einstw. AO entsprechen. Allerdings bestand der für die einstw. AO aufgeführte weitere Grund in der Dringlichkeit der Lage, die zu der sofortigen Trennung der Kinder von den Bf. und den drastischen Auswirkungen auf ihr Familienleben führte.

72. Deshalb ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bf. weiterhin behaupten können, Opfer i. S. von Art. 34 EMRK zu sein.

 

B. Begründetheit

I. Behauptete Verletzung von Art. 8 EMRK

73. Die Bf. rügten, dass ihnen das Sorgerecht entzogen worden sei und die Kinder in öffentliche Obhut genommen worden seien. Sie beanstandeten auch die Art und Weise der Vollziehung der Entscheidung. Sie machten eine Verletzung von Art. 8 EMRK geltend, dessen einschlägiger Teil wie folgt lautet:

1. Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines . . . Familienlebens . . .

2. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft . . . zum Schutz der Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

1. Zum Vorliegen eines Eingriffs

82. Nach ständiger Spruchpraxis des Gerichtshofs stellt das gegenseitige Erleben des Zusammenseins von Eltern und Kind einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens dar. Innerstaatliche Maßnahmen, die ein solches Erleben beeinträchtigen, stellen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK dar (vgl. u. a.: Johansen/Norwegen, Urteil v. 7. 8. 1996, Reports of Judgements and Decisions 1996 - III, Ziff. 52). Unstreitig sind die angefochtenen Maßnahmen

FamRZ 2005 - Seite 587

offenkundig Eingriffe in die Ausübung des von Art. 8 I EMRK geschützten Rechts der Bf.

2. Zur Rechtfertigung des Eingriffs

83. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens stellt eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar, es sei denn, er erfolgt in Übereinstimmung mit dem Gesetz" (in accordance with the law), verfolgt ein oder mehrere legitime(s) Ziel(e) (legitimate aims) nach Absatz II dieser Vorschrift und kann als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" (necessary in a democratic society) angesehen werden.

84. Auch wenn Art. 8 EMRK im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe staatlicher Behörden zu schützen, erlegt er jedoch dem Staat darüber hinaus positive Verpflichtungen auf, die sich aus dem Gebot effektiver Achtung (respect) des Familienlebens ergeben. Der Staat muss deshalb in Fällen, in denen eine familiäre Beziehung besteht, grundsätzlich so handeln, dass eine Fortentwicklung dieser Beziehung erfolgen kann, und geeignete Schutzmaßnahmen ergreifen, um den betreffenden Elternteil und das Kind wieder zusammenzuführen

(vgl. z. B.: Eriksson/Schweden, Urteil v. 22. 6. 1989, Ser. A, Bd. 156, S. 26-27, Ziff. 71; Gnahoré/Frankreich, Urteil v. 19. 9. 2000 - Beschwerde Nr. 40031/98 -, Ziff. 51, EuGHMR 2000-IX).

85. Die Grenze zwischen den positiven und negativen Verpflichtungen des Staates nach dieser Vorschrift lässt sich nicht präzise bestimmen; die anwendbaren Grundsätze sind jedoch ähnlich. In beiden Fällen ist vor allem ein angemessener Ausgleich (fair balance) zwischen den widerstreitenden Interessen herzustellen. Ebenso verfügt der Staat in beiden Fällen über einen gewissen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation)

(vgl. z. B.: W., B. u. R./Großbritannien, Urteile v. 8. 7. 1987, Ser. A, Bd. 121, S. 27, Ziff. 60 = EuGRZ 1990, 533, 540, S. 72, Ziff. 61 bzw. S. 117, Ziff. 65; Gnahoré/Frankreich, a. a. O., Ziff. 52).

a) In Übereinstimmung mit dem Gesetz, legitimes Ziel"

86. Der gerügte Eingriff war unstreitig i. S. von Art. 8 EMRK gesetzlich vorgesehen und stützte sich auf §§ 1666, 1666a BGB.

87. Nach Auffassung des Gerichtshofs bezweckten die von den Bf. angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen den Schutz von Gesundheit oder Moral" und der Rechte und Freiheiten" der Kinder. Demnach verfolgten sie legitime Ziele i. S. von Art. 8 II EMRK.

b) Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"

aa) Allgemeine Grundsätze

88. Bei der Entscheidung, ob die angegriffene Maßnahme notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" war, hat der Gerichtshof im Lichte des Falles in seiner Gesamtheit zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung der Maßnahme aufgeführten Gründe i. S. von Art. 8 II EMRK einschlägig und ausreichend (relevant and sufficient) sind. Der Begriff der Notwendigkeit setzt einen Eingriff voraus, der einem dringenden sozialen Bedürfnis (pressing social need) entspricht und vor allem in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel steht (vgl. z. B.: Gnahoré/Frankreich, a. a. O., Ziff. 50 a. E.).

89. Zweifellos ist in jedem Fall dieser Art die Berücksichtigung des Kindeswohls (best interests of the child) von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die innerstaatlichen Behörden den Vorteil des direkten Kontakts mit allen Beteiligten haben, und zwar häufig seit dem Zeitpunkt, in dem Unterbringungsmaßnahmen in Betracht gezogen werden oder unmittelbar nach ihrer Durchführung (vgl. Johansen/Norwegen, a. a. O., Ziff. 64; K. u. T./Finnland (GK), Urteil v. 12. 7. 2001 - Beschwerde Nr. 25702/94 -, Ziff. 151, 154, 173, EuGHMR 2001-VII = FamRZ 2002, 305). Daraus ergibt sich, dass es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs ist, sich hinsichtlich der Regelung der öffentlichen Pflege von Kindern sowie der Rechte der Eltern der insoweit betroffenen Kinder an die Stelle der innerstaatlichen Behörden zu setzen, sondern deren Entscheidungen unter Berücksichtigung ihres Beurteilungsspielraums im Lichte der Konvention zu überprüfen

(vgl.: Hokkanen/Finnland, Urteil v. 23. 9. 1994, Ser. A, Bd. 299-A, S. 20, Ziff. 55; Kutzner/Deutschland, Urteil v. 26. 2. 2002 - Beschwerde Nr. 46544/99, EuGHMR 2002-I = FamRZ 2002, 1393; Sahin u. Sommerfeld/Deutschland (GK), Urteile v. 8. 7. 2003 - Beschwerde Nr. 25735/94 bzw. 31871/96 -, Ziff. 64 bzw. 62, EuGHMR 2003-VIII = FamRZ 2004, 377).

90. Der Umfang des den innerstaatlichen Behörden zustehenden Beurteilungsspielraums ist abhängig von der Natur der zugrunde liegenden Angelegenheiten und der Bedeutung der infrage stehenden Interessen. Zwar haben die Behörden, insbesondere in Eilfällen, einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Prüfung der Notwendigkeit der Inpflegenahme eines Kindes, jedoch muss der Gerichtshof im Einzelfall davon überzeugt sein, dass die vorliegenden Umstände eine Herausnahme des Kindes rechtfertigen. Der bekl. Staat hat zudem nachzuweisen, dass vor der Durchführung einer solchen Maßnahme deren Auswirkungen auf Eltern und Kind und mögliche Alternativen zur Inpflegenahme des Kindes sorgfältig geprüft wurden (K. u. T./Finnland, a. a. O., Ziff. 166; Kutzner/Deutschland, a. a. O., Ziff. 67; P., C. und S./Großbritannien, Urteil v. 16. 7. 2002 - Beschwerde Nr. 5647/00 -, Ziff. 116, EuGHMR 2002-VI).

91. Darüber hinaus stellt die staatliche Inobhutnahme eines neugeborenen Kindes einen äußerst schwerwiegenden Eingriff dar. Deshalb kann ein Säugling unmittelbar nach seiner Geburt nur aus außergewöhnlich zwingenden Gründen ohne vorherige Anhörung der Eltern und gegen den Willen der Mutter aus deren Obhut genommen werden (K. u. T./Finnland, a. a. O., Ziff. 168).

92. Nach erfolgter staatlicher Inobhutnahme ist ein strengerer Prüfungsmaßstab (stricter scrutiny) bei jeglichen weiteren Beschränkungen anzulegen, z. B. bei Einschränkungen des Sorge- und Umgangsrechts der Eltern und bei gesetzlichen Vorkehrungen zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Rechte von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens. Solche weitergehenden Beschränkungen beinhalten die Gefahr, dass familiäre Beziehungen zwischen den Eltern und einem kleinen Kind endgültig abgebrochen werden

(vgl.: Elsholz/Deutschland (GK), Urteil v. 13. 7. 2000 - Beschwerde Nr. 25735/94 -, Ziff. 49, EuGHMR 2000-VIII = FamRZ 2001, 341; Kutzner/Deutschland, a. a. O., Ziff. 67; Sahin/Deutschland, a. a. O., Ziff. 65).

93. Die Inpflegenahme eines Kindes stellt grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden ist, sobald die Umstände dies erlauben. Alle Durchführungsmaßnahmen haben mit dem anzustrebenden Ziel der Zusammenführung von leiblichen Eltern und ihrem Kind in Einklang zu stehen (vgl.: Johansen/Norwegen, a. a. O., S. 1008 - 1009, Ziff. 78; E. B./ Italien, Urteil v. 16. 11. 1999 - Beschwerde Nr. 31127/96 -, Ziff. 69). In dieser Hinsicht ist ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des in Pflege gegebenen Kindes und denen der Eltern auf Zusammenführung der Familie herzustellen (vgl. Hokkanen, a. a. O., S. 20, Ziff. 55). Dabei misst der Gerichtshof dem Kindeswohl besondere Bedeutung bei, das je nach Art und Gewicht das Elterninteresse überwiegen kann (vgl. Johansen, a. a. O., S. 1008-1009, Ziff. 78). Insbesondere hat ein Elternteil nach Art. 8 EMRK keinen Anspruch auf Maßnahmen, die der Gesundheit und Entwicklung des Kindes schaden würden (vgl. Elsholz, a. a. O., Ziff. 50; Sahin, a. a. O., Ziff. 66).

94. Auch wenn Art. 8 EMRK keine ausdrücklichen Verfahrenserfordernisse enthält, muss der zu Eingriffen führende Entscheidungsfindungsprozess (decision-making-process) jedoch fair sein und die durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen ausreichend wahren. Der Gerichtshof hat deshalb zu entscheiden, ob die Bf. unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles und insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen in den Entscheidungsfindungsprozess insgesamt gesehen in einem Ausmaß einbezogen wurden, das ihre Interessen ausreichend schützte

(vgl.: W./Großbritannien, Urteil v. 8. 7. 1987, Ser. A, Bd. 121, S. 29, Ziff. 64 = EuGRZ 1990, 533, 540; Elsholz/Deutschland, a. a. O., Ziff. 52; T. P. u. K. M./Großbritannien (GK), Urteil v. 10. 5. 2001 - Beschwerde Nr. 28945/95 -, Ziff. 72, EuGHMR 2001-V).

95. Der Gerichtshof akzeptiert, dass es vor Durchführung von Eilmaßnahmen zum Schutz eines Kindes wegen der Dringlichkeit nicht immer möglich ist, die Sorgeberechtigten in den Entscheidungsfindungsprozess einzubeziehen. Selbst wenn dies möglich wäre, ist eine Einbeziehung dann nicht angezeigt, wenn von den Sorgeberechtigten eine unmittelbare Gefährdung des Kindes ausgeht, da eine entsprechende Vorwarnung der Maßnahme die Wirksamkeit nehmen könnte. Der Gerichtshof muss jedoch davon überzeugt sein, dass die innerstaatlichen Behörden davon ausgehen durften, dass die vorliegenden Umstände es rechtfertigten, das Kind ohne vorherigen Kontakt oder eine Anhörung sofort aus der Obhut seiner Eltern zu nehmen. Darüber hinaus hat der beklagte Staat nachzuweisen, dass die Auswirkungen der beabsichtigten Inpflegenahme auf die Eltern und die Kinder sowie mögliche Alternativen zur Trennung des Kindes von seiner Familie vor Durchführung einer solchen Schutzmaßnahme sorgfältig geprüft worden sind (vgl.: K. u. T./Finnland, a. a. O., Ziff. 166). Allein der Umstand, dass ein Kind in einem für seine Erziehung günstigeren Umfeld untergebracht werden könnte, rechtfertigt nicht eine zwangsweise Trennung von seinen leiblichen Eltern; ein solcher Eingriff in das Recht der Eltern auf Aufrechterhaltung eines Familienlebens mit ihrem Kind gemäß Art. 8 EMRK muss sich aufgrund anderer Umstände als notwendig" erweisen (vgl.: K. A./Finnland, Urteil v. 14. 1. 2003 - Beschwerde Nr. 27751/95 -, Ziff. 92, EuGHMR 2003-I).

bb) Anwendung im vorliegenden Fall

96. Im vorliegenden Falls stellt der Gerichtshof fest, dass der SV G. die Bf. und drei ihrer Kinder im September und Oktober 2001 in ihrer Wohnung besucht hat. Am 17. 12. 2001 legte er dem JA sein Gutachten vor. Noch an diesem Tage beantragte das JA den Erlass einer einstw. AO, die das FamG am selben Tag ohne vorherige Anhörung der Eltern erließ. Am darauf folgenden Tag wurden die Kinder aus ihrer Familie genommen, teilweise voneinander getrennt und in anonymen Pflegefamilien und Heimen untergebracht. Der Säugling wurde direkt von der Entbindungsstation mitgenommen. Am 1. 3. 2002 wies das OLG die eingelegte Beschwerde ohne mündliche Verhandlung zurück.

97. Am 21. 6. 2002 hob das BVerfG [FamRZ 2002, 1021] diese Entscheidungen wegen Verletzung des Elternrechts auf. Es stellte fest, dass das Bestehen einer Kindeswohlgefährdung nicht ausreichend geprüft worden sei. Insbesondere habe eine Würdigung des Beschwerdevorbringens der Bf. und die Prüfung gefehlt, ob nicht mildere Mittel zur Abwendung einer eventuellen Gefahr ausreichten. Sowohl das OLG als auch das FamG hätten die Kinder und die Verfahrensbet. nicht angehört. Auch seien Gründe zur Rechtfertigung der Eilbedürftigkeit des Verfahrens nicht dargelegt worden. Dem FamG hätten auch keine Erkenntnisse über mögliche Auswirkungen seiner Entscheidung vorgelegen, da weder das JA noch der Gutachter hierzu Stellung genommen hätten. Im Rahmen der Abwägung der Vor- und Nachteile einer familiengerichtlichen Maßnahme sei aber zu berücksichtigen, dass die Trennung der Kinder von ihren Eltern ihrerseits die kindliche Entwicklung, insbesondere in den ersten Lebensjahren, gefährden könne.

98. Nach Auffassung des Gerichtshofs zeigen die Feststellungen des BVerfG, dass der einstw. Entzug des Sorgerechts und die Herausnahme der Kinder nicht auf einschlägige und ausreichende Gründe gestützt und die Bf. nicht in einem Ausmaß in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen waren, das ihre Interessen ausreichend schützte.

99. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Behörden Eilmaßnahmen hinsichtlich einer so schwierigen Frage wie der des Sorgerechtsentzugs nur dann ergreifen dürfen, wenn eine unmittelbare Gefährdung tatsächlich festgestellt worden ist. Zwar bedarf es keiner vorherigen Beteiligung der Eltern bei einer offensichtlich bestehenden Gefährdung. Wenn es jedoch möglich ist, die Kindeseltern vorher anzuhören und mit ihnen die Notwendigkeit der Maßnahme zu erörtern, ist eine Eilmaßnahme unzulässig. Das gilt insbesondere dann, wenn die Gefahr - wie im vorliegenden Fall - bereits seit längerer Zeit bestanden hat. Die einstw. AO des FamG war deshalb mangels Eilbedürftigkeit nicht gerechtfertigt.

100. Der Gerichtshof hat des weiteren die Art und Weise der Durchführung der amtsgerichtlichen Entscheidung v. 17. 12. 2001 geprüft. Die sofortige Herausnahme der sechs Kinder aus ihren Schulen, dem Kindergarten und ihrer Familie und ihre Unterbringung in anonymen Pflegefamilien sowie Heimen und das Verbot jeglichen Kontakts mit den Eltern ging über das in dieser Situation Erforderliche hinaus und kann deshalb nicht als verhältnismäßig angesehen werden.

101. Insbesondere die Mitnahme des neugeborenen Kindes von der Entbindungsstation stellt einen äußerst schwer wiegenden Eingriff dar. Dieser führte nicht nur zu einer Traumatisierung der Mutter und setzte sie einer physischen und psychischen Belastung aus; darüber hinaus wurde dem Neugeborenen jeglicher Körperkontakt mit seiner Mutter vorenthalten einschließlich der Vorteile des Stillens, wie von den Bf. dargelegt wurde. Die Wegnahme des Kindes nahm auch dem Vater die Möglichkeit, seiner Tochter nach der Geburt nahe zu sein. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich an die Stelle der innerstaatlichen Behörden zu setzen und Mutmaßungen über die im vorliegenden Fall für die Kinder besten Betreuungsmaßnahmen anzustellen. Der Gerichtshof ist sich der Probleme bewusst, denen Behörden beim notwendigen Ergreifen von Eilmaßnahmen gegenüberstehen. Im Fall einer Untätigkeit besteht die tatsächliche Gefahr, dass Kinder Schaden nehmen und die Behörden dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Gleichzeitig wird den Behörden beim Ergreifen von Schutzmaßnahmen regelmäßig ein nicht hinnehmbarer Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens vorgeworfen. Wenn gleichwohl gegenüber der Mutter eine so drastische Maßnahme wie die der vollständigen Trennung von ihrem neugeborenen Kind sofort nach der Geburt in Betracht gezogen wurde, hätten die Behörden prüfen müssen, ob in einer derart entscheidenden Phase im Leben von Eltern und Kind nicht ein weniger einschneidender Eingriff in das Familienleben möglich war.

102. Wie bereits festgestellt (s. Ziff. 89 [richtig: Ziff. 91]), kann ein Säugling unmittelbar nach seiner Geburt nur bei Vorliegen außergewöhnlich zwingender Gründe ohne Anhörung der Eltern und gegen den Willen der Mutter aus deren Obhut genommen werden.

103. Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass solche Gründe im Hinblick auf die im Krankenhaus geborene Tochter vorlagen. Ungeachtet der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung des FamG v. 17. 12. 2001 durch das BVerfG stellte sie weiterhin die Grundlage für die seit dem 18. 12. 2001 fortdauernde Trennung der Bf. von ihren Kindern dar. Die Erfahrung zeigt, dass ein Prozess der irreversiblen Entfremdung von Kindern und ihrer Familie in Gang gesetzt wird, wenn Kinder für längere Zeit in der Obhut von JÄ verbleiben. Sind Kinder bereits seit längerer Zeit in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht, kann ihr Interesse, dass ihre tatsächliche familiäre

Situation nicht erneut geändert wird, das elterliche Interesse an der Zusammenführung ihrer Familie überwiegen. Die Möglichkeiten einer Wiedervereinigung werden kontinuierlich vermindert und schließlich völlig vereitelt, wenn den leiblichen Eltern und ihren Kindern überhaupt kein Umgang miteinander gestattet wird. Dem Zeitablauf kommt deshalb insofern maßgebliche Bedeutung zu, als immer die Gefahr besteht, dass Verfahrensverzögerungen zu einer faktischenEntscheidung des dem Gerichtshof vorliegenden Falles führen (A./Großbritannien, Urteil v. 8. 7. 1987, Ser. A, Bd. 120, S. 63 - 64, Ziff. 89 - 90). Darüber hinaus führt nach Auffassung des Gerichtshofs die drakonische Maßnahme der Wegnahme der Tochter der Bf. kurz nach der Geburt zwangsläufig zur Entfremdung des Kindes von seinen Eltern und Geschwistern und birgt die Gefahr, dass die familiären Beziehungen zwischen den Eltern und dem Kleinkind endgültig abgebrochen werden. Die getroffenen Maßnahmen sind deshalb wegen ihrer unmittelbaren Auswirkungen und ihrer Folgen nur schwer wieder rückgängig zu machen.

104. Unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des FamG v. 17. 12. 2001, die fehlende Einbeziehung der Bf. in den Entscheidungsfindungsprozess hinsichtlich dieses Beschlusses, die zur Durchführung des Beschlusses angewandten Maßnahmen, insbesondere die drakonische Maßnahme der Trennung des neugeborenen Kindes kurz nach der Geburt von seiner Mutter, und insbesondere die Irreversibilität dieser Maßnahmen nicht auf einschlägige und ausreichende Gründe gestützt waren, so dass sie nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden können.

II. Anwendung von Art. 41 EMRK

120. Im Hinblick auf das für die Kinder geltend gemachte Schmerzensgeld weist der Gerichtshof darauf hin, dass grundsätzlich auch eine nach innerstaatlichem Recht nicht vertretungsberechtigte Person unter bestimmten Umständen für eine andere vor dem Gerichtshof auftreten kann (Nielsen/Dänemark, Urteil v. 28. 11. 1988, Ser. A, Bd. 144, S. 21-22, Ziff. 56-57). Im Falle eines Konflikts zwischen dem gerichtlich bestellten Vormund und einem leiblichen Elternteil über Fragen des Kindeswohls besteht die Gefahr, dass einige der Interessen des Kindes dem Gerichtshof nicht zur Kenntnis gebracht werden und dem Minderjährigen ein effektiver Schutz seiner Rechte nach der Konvention versagt wird. Deshalb können Eltern ihr Kind vor dem Gerichtshof vertreten, um auch dessen Interessen zu wahren, selbst wenn ihnen elterl. Rechte entzogen wurden und dies tatsächlich einer der Streitpunkte vor dem Gerichtshof ist (vgl. mutatis mutandis, Scozzari und Giunta/Italien (GK), Urteil v. 13. 7. 2000 - Beschwerde Nr. 39221/98 und 41963/98 -, Ziff. 138, EuGHMR 2000-VIII).

Bearbeitung und Übersetzung von RA und Fachanwalt für Familienrecht Georg Rixe, Bielefeld

 

Anmerkung:

Das vorstehende Urteil stellt bereits die dritte Entscheidung des EuGHMR in kurzer zeitlicher Abfolge dar, mit der eine Verletzung des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK in einem deutschen Pflegekindfall festgestellt wurde. Während die Verfahren Kutzner[1] und Görgülü[2] innerstaatliche Hauptsacheentscheidungen betrafen, ging es im vorliegenden Fall um die Vereinbarkeit eines einstweiligen Sorgerechtsentzugs gemäß § 1666 I BGB sowie der folgenden Inpflegenahme der Kinder mit der EMRK.

1. Der EuGHMR, der in seiner Entscheidung die wesentlichen Grundsätze seiner Rechtsprechung zusammenfasst, sieht in den Erwägungen des BVerfG[3] zur Verfassungswidrigkeit des vorläufigen Sorgerechtsentzugs gemäß Art. 6 II, III GG ebenfalls Gründe für seine mangelnde Rechtfertigung nach Art. 8 II EMRK. Er betont darüber hinaus die Notwendigkeit einer vorherigen Anhörung der Eltern mangels Eilbedürftigkeit des Eingriffs und die Unverhältnismäßigkeit[4] der nur schwer rückgängig zu machenden anonymen Inpflegenahme der Kinder angesichts des erfolgten Ausschlusses von Umgangskontakten. Unter Verweis auf die Entscheidung der Grossen Kammer im Verfahren K. u. T./Finnland[5] kritisiert er besonders die Nichtbeachtung der außergewöhnlich strengen Anforderungen an die Wegnahme eines Neugeborenen von seiner Mutter noch in der Kinderklinik[6]. Demnach haben die Fachgerichte und das JA sowohl die std. Rspr. des BVerfG als auch des EuGHMR[7] offensichtlich nicht berücksichtigt[8].

2. Der Fall Haase ist im Übrigen deshalb bemerkenswert, weil der EuGHMR die auf Art. 8 EMRK gestützte Menschenrechtsbeschwerde als zulässig (Ziff. 69 f.) und begründet ansah, obwohl das BVerfG die fachgerichtlichen Entscheidungen wegen Verletzung von Art. 6 II, III GG aufgehoben hatte. Gegen die Annahme einer Opfereigenschaft der Bf. gemäß Art. 34 EMRK ist in der Literatur[9] im Wesentlichen eingewandt worden, es sei nicht erkennbar, wie das BVerfG anders hätte entscheiden können, um der vom Gerichtshof angenommenen fortbestehenden Rechtsbeeinträchtigung vollständig abzuhelfen. Soweit der Gerichtshof demzufolge den Grundsatz aufstelle, dass Kinder ihren Eltern allein wegen Fehlern im Eilverfahren zurückgegeben werden müssten, auch wenn absehbar sei, dass die Trennungsentscheidung nach einer Phase des Einlebens in einer Pflegefamilie letztlich in der Sache aufrechterhalten werden müsse, verliere er das Kindeswohl aus dem Auge.

Der Kritik kann jedoch bereits im Ansatz nicht gefolgt werden. Sie übersieht schon, dass der EuGHMR in std. Rspr.[10] die rechtlich relevante Beeinträchtigung der Eltern nicht allein in dem Sorgerechtsentzug sieht, sondern darüber hinaus in der vom JA auf dieser Grundlage durchgeführten sofortigen Inpflegenahme, die er in seinen Ausführungen zu der Sache als voraussichtlich irreversibel und damit als unverhältnismäßig ansah. Dass das BVerfG diese tief greifende tatsächliche Beeinträchtigung des Familienlebens durch seine Hauptsacheentscheidung v. 21. 6. 2002 nicht unmittelbar beseitigen konnte und durch die vorangegangene Entscheidung im einstw. AO-Verfahren nicht beseitigt hat, steht der fortbestehenden Opfereigenschaft der Bf. angesichts der Verantwortlichkeit der BRD auch für das JA ersichtlich nicht entgegen.

Weiterhin kann der Entscheidung des Gerichtshofs nicht entnommen werden, er fordere bei Fehlern im Eilverfahren unabhängig vom Kindeswohl im Einzelfall allein aus Prinzip die Rückführung von Kindern[11]. Vielmehr stellte er fest, dass die erfolgte Art und Weise der Durchführung der Inpflegenahme der Kinder eine gegen Art. 8 EMRK verstoßende faktisch präjudizierende Wirkung auf das Ergebnis der anschließenden, bei seiner Entscheidungsfindung noch nicht abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren haben werde. Schließlich bestand die Opfereigenschaft der Bf. auch schon deshalb fort, weil die BRD keine ausreichende Entschädigung gewährt hatte[12].

Der weit gefasste Opferbegriff des Art. 34 EMRK ermöglicht demnach die Verwirklichung eines effektiven Menschenrechtsschutzes, da er nicht nur Rechtsbeeinträchtigungen durch gerichtliche Entscheidungen, sondern auch die häufig irreversiblen tatsächlichen Folgen jugendamtlicher Maßnahmen erfasst. Er führte im vorliegenden Fall zur Feststellung einer Verletzung der EMRK mit der Folge der Beachtenspflicht gemäß Art. 46 I EMRK[13] und der Gewährung einer angemessenen Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK[14]. Aus Art. 46 EMRK folgt außerdem die völkerrechtliche Verpflichtung der BRD zur künftigen Unterbindung gleichartiger Verletzungen in nicht rechtkräftig abgeschlossenen Parallelfällen[15], die im vorliegenden Zusammenhang eine Anpassung der Rechtsprechung und der JA-Praxis anspricht[16].

RA und Fachanwalt für Familienrecht Georg Rixe, Bielefeld

 

[1] Urteil v. 26. 2. 2002, FamRZ 2002, 1393.

[2] Urteil v. 26. 2. 2004, FamRZ 2004, 1456, m. Anm. Rixe, S. 1460.

[3] FamRZ 2002, 1021, m. Anm. Luthin, FF 2002, 138 f.

[4] Eine vergleichbare Beanstandung erfolgte bereits im Verfahren Kutzner/Deutschland [Fn. 1], während der Gerichtshof im Verfahren Görgülü/Deutschland [Fn. 2] zusätzlich die Nichtbeachtung der Maßstäbe des Art. 8 EMRK hinsichtlich der Zusammenführung des Kindes mit seinem Vater rügte. S. allgemein zur Problematik der Haltung des JA zur Rückführung von Kindern ("Philosophie") und der Aufgabenwahrnehmung im Einzelfall: Wiesner, epd-Dokumentation Nr. 6/97, S. 70, 72 f.

[5] FamRZ 2002, 305, m. Anm. Scherpe.

[6] Vgl. auch: EuGHMR (Venema/Niederlande), Urteil v. 17. 12. 2002 - Beschwerde Nr. 35731/97 -, der eine Verletzung von Art. 8 EMRK feststellte, weil die Eltern eines auf ihre Veranlassung im Krankenhaus wegen Atemstillständen behandelten Kleinkindes nicht vor dem einstweiligen gerichtlichen Sorgerechtsentzug und der Unterbringung des Kindes in einer anonymen Pflegefamilie angehört worden waren. Die Ärzte vermuteten das Vorliegen eines Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms bei der Mutter, einer seltenen Persönlichkeitsstörung, die zu schwerwiegenden Kindesmisshandlungen führen kann, die das Ziel haben, wiederholte ärztliche Untersuchungen herbeizuführen und damit Aufmerksamkeit und Zuwendung zugunsten des Elternteils zu erlangen. Im Verfahren P., C. u. S./Großbritannien beanstandete der EuGHMR mit Urteil v. 16. 7. 2002 - Beschwerde Nr. 56547/00 - als Verstoß gegen Art. 8 EMRK u. a. die noch am Tage der Geburt erfolgte, nicht erforderliche Wegnahme eines Kindes von seiner an einem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidenden Mutter im Krankenhaus.

[7] Willutzki, Kind-Prax 2004, 81, hat deshalb die vorliegende Entscheidung zum Anlass genommen, nachdrücklich die Beachtung der Rechtsprechung des EuGHMR und die Fortbildungsnotwendigkeit in der Familiengerichtsbarkeit einzufordern.

[8] Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EuGHMR durch alle staatlichen Organe: BVerfG, FamRZ 2004, 1857, m. Anm. Rixe, S. 1863. Zutr. Kritik an dieser Entscheidung durch: M. Breuer, NVwZ 2005 (im Erscheinen); ders., EuGRZ 2004, 782, 786; Cremer, EuGRZ 2004, 683 f., 692 ff.; E. Klein, JZ 2004, 1176, 1177 f.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 17, 19; Pernice, EuZW 2004, 705.

[9] Gose, MRM 2004, 199 f.

[10] S. nur: EuGHMR (Kutzner/Deutschland), FamRZ 2002, 1393, 1396 f., Ziff. 76.

[11] Zur std. Rspr. des EuGHMR s. Fn. 10; vgl. auch: Rixe, FamRZ 2004, 1460, 1463.

[12] Vgl. EuGHMR [GK] (Dalban/Rumänien), EuGHMR 1999-VI, Ziff. 44.

[13] Vgl. dazu: EuGHMR (Görgülü/Deutschland), FamRZ 2004, 1456, 1460, Ziff. 64; zum innerstaatlichen Umfang der Bindungswirkung: BVerfG, FamRZ 2004, 1857, w. N. in Fn. 8.

[14] Die Erstattungspflicht gemäß Art. 41 EMRK, die neben immateriellen Schäden auch materielle Schäden erfasst, wozu u. a. auch die Kosten und Auslagen für sämtliche innerstaatlichen Rechtsbehelfsverfahren gehören, die auf Abhilfe der durch den EuGHMR später festgestellten Konventionsverletzung gerichtet waren (vgl. Meyer-Ladewig, HK-EMRK, 2003, Art. 41 Rz. 18 ff.), geht demnach wesentlich über die im Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem BVerfG gemäß § 34a II BVerfGG bestehende hinaus, wonach allein die in diesem Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen erstattungsfähig sind.

[15] Vgl. zuletzt: EuGHMR (Sejdovic/Italien), EuGRZ 2004, 779, 781, Ziff. 46, m. Anm. M. Breuer, EuGRZ 2004, 782, 784; zur innerstaatlichen Wirkung s. BVerfG, FamRZ 2004, 1857, 1861.

[16] Vgl. Okresek, EuGRZ 2003, 168, 170 f.

 

 

Fundstelle:

FamRZ 2005, 585

 

 


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