Muttersuche


 

 

 

Peter Wawerzinek

Der Schrei nach der Mutter

Eine Provokation, ein literarisches Ereignis: Peter Wawerzineks Roman »Rabenliebe«.

 

Es versteht sich nicht von selbst, dass Mütter ihre Kinder lieben.

Unter Tieren ist die Brutpflege eine Regel, die Ausnahmen kennt. Bei Primaten wurde der Infantizid beobachtet, die Tötung des Nachwuchses.

Manche Naturvölker lassen Gebärende von kundigen Frauen begleiten – nicht allein, um ihnen die Niederkunft zu erleichtern, sondern auch, um sie daran zu hindern, das Neugeborene umzubringen. Die Mutterliebe, Gegenstand zahlloser Mythen und heroischer Erzählungen, ist kein Naturgesetz, sondern ein zivilisatorischer Standard, der verletzt werden kann. Die Nachricht von misshandelten, verhungerten, ermordeten Kindern ereilt uns in regelmäßigen Abständen. Wir neigen dazu, derlei als beklagenswerte Abweichung vom Normalfall zu betrachten. Doch selten ist die Perversion keineswegs.

 

Von einem perversen Fall, nämlich von seinem eigenen, erzählt der Schriftsteller Peter Wawerzinek in dem Roman Rabenliebe . [Teile daraus hat er kürzlich in Klagenfurt vorgetragen und dafür den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten] – mit Recht, denn dieses 450 Seiten starke Buch ist das zum Himmel schreiende Dokument eines verratenen, verlassenen Kindes, und es würde uns nicht erschüttern, wäre es nicht zugleich ein literarisches Kunstwerk, in dem sich das erlittene Leid zu einer gewaltigen Klage auftürmt. Wir hören das Oratorium einer Muttersuche, das Lied von der Einsamkeit, vom Barmen um Zuwendung. Keine ordentliche Chronologie lesen wir, sondern tauchen ein in die Erinnerungströme, in die Vergangenheitsbilder einer von Grund auf verstörten Seele. Die Sprache wechselt zwischen nüchternem Bericht und träumerischen Fantasien, lyrischem Singen und zorniger Anklage. Die notorischen Meldungen über Kindestötungen und Kindesmissbrauch werden eingeblendet. Geboren 1954 in Rostock, aufgewachsen in Kinderheimen der DDR, erfährt der Junge erst nach und nach seine Geschichte. Er weiß nicht, dass er eine Schwester hat. Man verschweigt ihm, dass seine Mutter noch lebt, dass sie in den Westen abgehauen ist, die beiden Kinder allein in der Wohnung zurückgelassen hat. Gerettet wurden sie, halb verhungert, von aufmerksamen Nachbarn. Am Ende, da ist er schon mehr als fünfzig, findet er die Adresse heraus. Drei Jahre lang quält er sich mit dem Entschluss. »Ich sollte die Fahrt zur Mutter nicht antreten, beschwöre ich mich. Meine Mutterfahrt ist wie eine Expedition ins Ewige Eis. Ich breche auf wie einst Scott zur Antarktis. Ich erreiche den Südpol, wenn ich den Klingelknopf zur Wohnung der Mutter drücke. Ich werde keine stolze Flagge setzen. Ich komme zu spät. Ich erreiche den Mutterpol viel zu früh. Ich werde mich zur Mutter aufmachen und dabei ums Leben kommen.«

Dennoch macht er sich auf. »Da bist du ja« ist das erste Wort der alten Frau. »Sie redet, als setzten wir eine Unterhaltung fort.« Keine Umarmung, keine Reue, nichts als Stumpfheit. »Es ist nicht genug Boden vorhanden für den beschämten Blick von mir, der sich im Boden vergraben will. Ich betrachte die Mutter und will nicht fassen, dass ich von dieser kalten Frau dort in die Welt geworfen sein soll.« Einige seiner insgesamt acht Halbgeschwister, alle im Westen geboren, lernt er kennen. Auch sie erzählen von Misshandlung und Vernachlässigung. Nach drei Stunden reist er ab. »Die Ausbeute füllt keinen Fingerhut im Vergleich zu den Gedanken, die ich mein Leben lang zu ihr gemacht habe, diesem See an Sehnsucht.« Ein Fiasko also, aber er kommt nicht ums Leben. Er rettet sich, indem er dieses Buch schreibt. Er zieht sich zurück, nimmt Abschied von der Welt da draußen. »Ich und ich. Und ich weiß mitunter nicht, ob es mich gibt, je gab, alles Einbildung von mir ist. Aus dem Spiegel hervor schaut mich niemand an. Ich führe keine Selbstgespräche mehr. Es gibt mein Spiegelbild nicht. Ich schreibe meint: Da ist also das Wesen dem Menschen fremd geworden, ein Ich, das ich nicht bin, und geht sich auch nichts an. Ich möchte mein Thema wie einen Bombengürtel tragen, mich mit ihm in die Luft jagen.« Man sieht: Wawerzinek ist ein um schrille Bilder nicht verlegener Radikalist, und zuweilen treibt er sein Lamento ins schwer Erträgliche.

Dann aber gelingen ihm Passagen von großer, trauriger Schönheit, etwa, wenn der Knabe, der erst spät das Sprechen lernt, vor lauter Einsamkeit mit den Bäumen spricht. »In der Nacht steht der Wald an meinem Bett.

Nächtliche Bäume reden auf mich ein. Wir sind vom Wind Bestäubte, wir haben wie du keinen Vater und keine Mutter nicht. Wir schütteln und wir rütteln uns dir zur Freude. Fledermäuse wohnen in unseren Armen. Wir wollen Freund dir sein.«

Und mit den Vögeln spricht das Kind. »Ich sitze mit Pudelmütze, Fäustlingen, Wintermantel am Fenster, hole mir Rotwangen, Kaltnase, Frostbeulen. Es kostet mich das Dutzend Haferflocken. Es vergehen nur einige Tage. Schon sind wir in Kontakt. Es saß ein schneeweiß Vögelein, auf einem Dornensträuchelein, din don deine, din don don, sag, willst du nicht mein Bote sein…« Und jetzt kommt das Vögelein: »Der Zaunkönig beginnt nervös auf und ab zu hüpfen. Wie soll ich es nur sagen, der Herr. Deutschland ist groß und verwinkelt. Ein Wagnis für den Herrn Sohn, nach seiner Frau Mutter Ausschau zu halten. Sie wissen so gar nix, nehme ich an, der Herr. Mein Zaunkönig schweigt, als müsse er überlegen. Sitzt lange in eingefrorener Pose, ehe er erwacht, mit neuer Kraft ein Lied zu singen beginnt: An einem Fluss, der rauschend schoss, ein armes Mädchen saß, aus ihren blauen Äuglein floss manch Tränchen in das Gras.« So bettet Wawerzinek die Lieder ein, Volkslieder, Kinderverse, die Lieder der jungen Pioniere. Sein Buch ist mehr als nur ein Leidensbericht, es ist reich an unterschiedlichen Sprachhaltungen und literarischen Bezügen, und immer spürt man sein leidenschaftliches, sprachfähiges Temperament.

Da hockt also ein Mann in der Mitte seines Lebens, betrogen um die letzte Mutterhoffnung, und Erinnerungen an die frühen Jahre suchen ihn heim. »Ich habe Angst vor den Erinnerungen und will mich vor ihnen wie vor Leibesübungen drücken. Aber es gibt für mich kein Entfliehen. Die Pfeife schrillt. Die Erinnerungen treten an, vom Hof her rufen sie laut nach mir.« Und er erinnert sich an den Schnee. Immer lag Schnee, wenn etwas Wichtiges geschah. Schnee lag, als er von einer großen schwarzen Limousine, einer russischen Tschaika, abgeholt und ins Kinderheim gebracht wurde. Hinten saß der kleine Junge, vorne schwärmte der Chauffeur von den technischen Daten der Staatskarosse.

Aber jetzt ruft sich der Erzähler zur Ordnung, fällt sich ins Wort und sagt: Dreizehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sei kein vierjähriges Waisenkind von einem Kleinkinderheim ins Vorschulkinderheim chauffiert worden, auch wenn es der Erinnerungsstolz gerne so hätte.

Also erzählt er die ganze Geschichte noch einmal, wieder liegt Schnee, aber jetzt sitzt der Junge hinter einem Ledermantelmann auf dem Motorrad. Und 33 Jahre später, als der längst Erwachsene das Heim noch einmal besucht und die Leiterin danach fragt, sagt sie ihm, nie seien Kinder mit einem Motorrad oder gar einer Tschaika gebracht worden, sondern selbstverständlich mit dem Linienbus. Der Erzähler: »Wenn ich mich erinnere, falle ich auf mich herein. Die Erinnerung ist eine Trickbetrügerin.«

So wissen wir also nicht, ob sich jedes Detail der Geschichte genau so abgespielt hat, aber dass sie wahr ist und glaubwürdig und damit eine Erkenntnis über den Einzelfall hinaus gewinnt, das bezeugt der bewegende Roman auf jeder Seite. Diese überaus deutsche Nachkriegsgeschichte erzählt ja auch vom hartnäckigen Fortleben des autoritären Charakters, von jenem Heimleiter etwa, der die Kinder dazu zwingt, den Rasen mit der Schere zu schneiden und die Kieselsteine der Einfassung weiß anzupinseln. Sie erzählt von der deutschen Teilung und von einer fast versuchten Flucht über die Grenze, als Wawerzinek Wachsoldat am Todeszaun war. Und sie gewährt einen tiefen Einblick in den spießigen Muff des Ostens während der Sechziger (der im Westen nicht viel anders war, nur komfortabler), als der Junge endlich in einer Familie landet, nach zwei gescheiterten Adoptionsversuchen. Der neue Vater ist ein zugeknöpfter Mann, die neue Mutter eine kleinkarierte Fanatikerin der Angepasstheit. Ihrer Dressur muss er sich fügen, seine Herkunft ist keiner Rede wert. »In der neuen Familie herrschte Mutterverschweigen. Mir ist ein Dach aus Schweigen über meinem Haupt gezimmert worden. Schweigen deckte mich zur Nacht zu. Schweigen erweckte mich am Morgen. Ich wusch mit dem Wasser und der Seife des Schweigens.« Allein die Großmutter begegnet ihm mit Wärme und Humor.

Fürchterlich und komisch die Schilderung einer abendlichen Orgie, als die Honoratioren der Kleinstadt zu Gast sind, fressen und saufen bis zum Erbrechen, schlüpfrige Witze erzählen und das deutsche Einheitslied Ein Prosit auf die Gemütlichkeit anstimmen, während der Junge im angrenzenden Zimmer den Schlaf sucht. Und dann die ersten Befreiungsversuche, Rockmusik, Jeans, erste Affären und kleine Revolten. Der Erzähler bemüht sich um Gerechtigkeit, schickt dem verstorbenen Adoptionsvater ein gutes Wort hinterher (nicht der Mutter) und schreibt über das Leben in den Heimen: »Ich bin nicht verhungert, musste mich nicht misshandeln und zu Tode schleifen lassen. Der Staat ist mein Kummerflügel. Das Heim ist meine Achselhöhle. Ich komme ohne Vater und Mutter aus. Das Heim ist die annehmbare Alternative zur Familie.« Dass er ohne die Mutter auskomme, ist nur eine flüchtige Illusion.

Das ganze Buch ist ein wahrhaft kindlicher, ein vergeblicher Schrei nach der Mutter, und der ist latent skandalös. Denn natürlich kann man fragen: Warum schreit er nicht nach dem Vater? Wir sind doch gerade dabei, uns in die Einsicht einzuüben, dass der Vater, um der Mutter ihren gleichberechtigten Weg in die Berufswelt zu ebnen, die Rolle der Bezugsperson genauso gut einnehmen kann, wenn er nur will. Wir setzen doch, jedenfalls im öffentlichen Diskurs, alles daran, die Mutter entbehrlich zu machen. Nein, sagt Wawerzinek, die Gebärerin, aus deren Leib das Kind kommt und wohin es nicht selten zurückwill, hat eine ungleich größere symbiotische Bedeutung als der Zeuger. Auf die Mutter kommt alles an. Und gerade deshalb, weil sich die Mutterliebe nicht von selbst versteht, ist sie unersetzlich. Diese Botschaft wird vielen missfallen. Insofern ist Peter Wawerzineks Rabenliebe nicht nur ein literarisches Ereignis, sondern auch eine Provokation.

23.08.2010

http://www.zeit.de/2010/34/L-Wawerzinek?page=all

 

 

 


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