Narzissmus


 

 

 

 

AMOKLAUF IN WINNENDEN

"Seid ihr immer noch nicht alle tot?"

Fünfzehn Menschen hat der 17-jährige Tim K. bei seinem Amoklauf getötet - und am Ende die Waffe gegen sich selbst gerichtet

Olivia Schoeller, Maxim Leo, Gabriele Renz

WINNENDEN. Um 18.24 Uhr biegen die Leichenwagen in die schmale Straße, die zur Albertville-Realschule führt. Die drei silbergrauen Kombis rollen im Schritttempo an den Übertragungswagen der Fernsehsender vorbei, müssen immer wieder bremsen, weil Schaulustige den Weg versperren. Jugendliche stehen in Gruppen vor den Absperrbändern, liegen sich in den Armen. Der erste Leichenwagen hupt, der Fahrer ruft aus dem Fenster, es sei ein Skandal, dass man sich jetzt schon zu den Toten drängeln muss.

Die Fenster der Schule, ein weißer Flachbau mit nach oben gebogenen Dachspitzen, sind dunkel, nur zwei Zimmer im Erdgeschoss sind erleuchtet. Männer in weißen Overalls laufen über den Schulhof. "Jetzt bringen sie die Leichen raus", sagt eine junge Frau mit tonloser Stimme. Sie weint, zittert, hält sich an ihrem Freund fest, der schweigend neben ihr steht. Zwei Kamera-Teams stürzen auf die beiden zu. Dieser Platz ist an diesem Abend kein Ort für private Gefühle.

Es ist gegen 9.30 Uhr an diesem Mittwochmorgen, als der 17-jährige Tim K. in einem schwarzen Kampfanzug in die Albertville-Realschule in Winnenden läuft. Dort hat er ein Jahr zuvor seine Mittlere Reife abgelegt. Er läuft zu den Klassenräumen, die er kennt. Mal in den einen, dann in den anderen Raum. In die 10d kommt er ein paar Mal und schreit: "Seid ihr immer noch nicht alle tot?" Die junge Referendarin, Jahrgang 1984, stellt sich noch mutig vor ihre Schüler - und wird kaltblütig erschossen.

Es sind die neunten und zehnten Klassen, in die Tim K. geht. Alle neun Schüler, die umgebracht werden, sind 15 und 16 Jahre alt. Die meisten Opfer sind Mädchen und Frauen. Tim K. zielt offenbar vor allem auf die Schüler, die in der Nähe der Tür sitzen.

Um 9.33 Uhr geht der erste Notruf bei der Polizeistation in Winnenden ein. Sofort machen sich zwei Beamte des Kriseninterventionsteams auf den Weg. Die Teams sind in Baden-Württemberg seit Jahren im Einsatz. Die Polizisten, so schildert es später der Innenminister Heribert Rech (CDU), dringen ins "Objekt ein". Die Tatsache, dass sie rein gar nichts ausrichten konnten, lässt Rech vielleicht noch ausführlicher über die Güte dieser "besonders geschulten" Kräfte reden. Doch sie kommen zu spät. In den Klassenräumen bietet sich den Beamten "ein schreckliches Bild", berichtet der Minister. Drei Lehrerinnen sind tot, neun Schüler, einer schwer verletzt. Auch er wird den Tag nicht überleben.

Die Polizei ermittelt schnell die Identität von Tim K. Polizisten gehen zu den Eltern nach Weiler zum Stein, einem Ortsteil der Nachbargemeinde Leutenbach. Der Vater besitzt fünfzehn Waffen: Vierzehn sind im Tresor deponiert, eine Pistole liegt im Schlafzimmer. Diese Beretta 9mm und über hundert Schuss Munition hat Tim K. mitgenommen, stellt die Polizei fest. Tim K. ist da längst auf der Flucht. Wenige hundert Meter von der Realschule entfernt trifft der 17-Jährige auf ein zufälliges Opfer im Park des nahe gelegenen Psychiatrischen Zentrums. Tim K. schießt. Es ist sein Opfer Nummer 13.

Während hunderte Polizeibeamte - aus Göppingen, Ludwigsburg, Stuttgart - zum Tatort rasen und Hubschrauber die Innenstadt von Winnenden überfliegen, flüchtet Tim K. in die Innenstadt von Winnenden. Dort stoppt er einen VW Sharan und zwingt den 41-jährigen Fahrer, mit ihm zusammen die Fahrt fortzusetzen. Der Wagen fährt zunächst auf die Autobahn, über Metzingen und Nürtingen kommt er nach Wendlingen. Als das Fahrzeug auf der Autobahnausfahrt abseits der Straße im Morast steckenbleibt, springt der Fahrer raus. Auch Tim K. verlässt das Auto und geht zu Fuß ins Gewerbegebiet. Dort erschießt er in einem Autohaus einen 36-jährigen Verkäufer und einen 45-jährigen Kunden, verletzt bei einem Schusswechsel auf dem Parkplatz zwei Beamte schwer, bevor er sich nach Angaben der Ermittler selbst in den Kopf schießt.

Zu diesem Zeitpunkt liegt Schüler Steffen Sailer, der den Notruf ausgelöst hat, daheim auf dem Sofa und schaut, wie sein Vater erzählt, "nur an die Decke". Er sagt kein Wort, liegt wie gelähmt da. Als seine Mutter ihn abgeholt hat, hatte Steffen noch geweint - wie all seine Mitschüler. Nun sind sie wie versteinert. Manche lassen sich von den Psychologen vor Ort betreuen, manche wie Steffen sind mit den Eltern nach Hause gegangen. Steffen kannte Tim. Sie wohnen im gleichen Ort, der Amokläufer war knapp ein Jahr älter. Zusammen pendelten sie ins Winnender "Schulzentrum II", wo 1 700 Kinder aus dem Umland in drei Schularten unterrichtet werden.

Was ist dort geschehen in dieser Schule? Wie konnte es zu so einer Bluttat kommen in dieser Kleinstadt mit 27 000 Einwohnern, mitten im wohlhabenden Speckgürtel der zwanzig Kilometer entfernten Landeshauptstadt Stuttgart?

Es sind diese Fragen, die Offizielle wie der Innenminister, der Polizeipräsident und der Kultusminister auf Pressekonferenzen zu beantworten versuchen. Der Täter sei vollkommen unauffällig gewesen, heißt es, still, ein Einzelgänger. Warnsignale habe es keine gegeben. Derzeit werde der Computer von Tim K. untersucht, berichtet am Nachmittag der Polizeipräsident. Die Beamten wollen herausfinden, was er sich angesehen hat, welche Musik er gehört hat, welche Kleidung er getragen hat. Es ist ein Versuch, Tim K. und seine Tat zu verstehen. Doch die Fassungslosigkeit ist allen Beteiligten anzusehen.

Auch im Internet zeigt sie sich. Schon kurz nach der Tat haben Nutzer auf der Internetseite Facebook Kommentare hinterlassen. Winnenden hat dort eine eigene Diskussionsgruppe für Leute aus der Stadt und ehemalige Bewohner. Auf dieser Seite schreiben nun Menschen aus der ganzen Welt, wie geschockt sie sind. Aus London, aus Trinidad und Tobago und aus Südafrika.

Ali Osman steht an diesem Abend vor der Realschule und versucht dort zu begreifen, wie einer dazu kommen kann, um sich zu schießen, zu töten, alles auszulöschen, was ihm in die Quere kommt. "Man kann sich das Böse gar nicht so böse vorstellen", sagte er. Früh um zehn war Ali Osman in die Schule gegangen, er wollte Akin abholen, seinen elfjährigen Sohn. Akin hatte am Morgen gesagt, er fühle sich nicht gut. Als Ali Osman mit seinem Auto der Schule näher kam, sah er die Polizeiwagen, das Blaulicht. Er hörte die Sirenen, die von allen Seiten näher kamen.

Osman dachte, es gäbe vielleicht einen Brand, er suchte nach einer Rauchwolke, aber da war nichts. Im benachbarten Gymnasium standen Kinder an den Fenstern. Dann hörte Ali Osman die Schreie, sah die Kinder, die ohne Jacken über die Straße zur Schwimmhalle rannten. Er wusste immer noch nicht, was passiert war, "aber mein Herz schlug auf einmal ganz schnell".

Am Eingang der Schwimmhalle saß eine Cousine von Akin auf dem Boden und hielt sich die zitternden Hände vors Gesicht. Ali Osman fragte das Mädchen, was denn passiert sei und sie erzählte von den Knall-Geräuschen, von der Lehrerin, die die Tür des Klassenzimmers abgeschlossen hat. Und er sah Akin nicht. "Da habe ich geschrien und geheult wie eine alte Frau", sagt er. Ein paar Minuten später hatte er Akin in seinen Armen. Er sah seine schmutzigen Hosen, weil der Junge hingefallen war bei der Flucht aus der Schule. Und er dachte noch daran, ob seine Frau wohl schimpfen würde wegen der dreckigen Hose.

Akin erzählte dem Vater, dass er den Mann mit der Pistole gesehen habe, als der über den Schulhof rannte. "Der Junge war ganz ruhig, viel zu ruhig", sagt Ali Osman. Er hat die anderen Kinder gesehen. Die meisten waren aufgewühlt, weinten. Osman hat den Sohn auf den Arm genommen, ist einfach losgelaufen, nur weg von diesem Ort. Er hat sogar sein Auto stehen gelassen in der Aufregung. Und als er zu Hause ankam und die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, da hat er aufgeatmet. Bis er gemerkt hat, dass er zu Hause nicht bleiben kann.

So geht es vielen Menschen in Winnenden. Die katholische Kirche Sankt Karl Borromäus ist überfüllt am Abend. Jugendliche, Kinder mit ihren Eltern und Großeltern sind gekommen, um Trost zu suchen. "Aus tiefer Not schreie ich zu Dir .", beginnt der katholische Weihbischof Thomas Maria Renz seine Predigt. Doch in so einer Situation fällt es selbst Seelsorgern schwer, Worte zu finden. "Der Tod hat Einzug gehalten in einer hässlichen brutalen Form bei uns in Winnenden", sagt der evangelische Landesbischof Frank Otfried July. Er ruft am Ende dieses Tages die Menschen dazu auf, für alle zu beten, die ihr Leben verloren haben - auch für den jungen Mann, der sie alle in den Tod gerissen hat.

12.03.2009

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0312/amoklaufinwinnenden/0003/index.html

 

 

 

Winnenden

16 Tote nach Amoklauf - Täter erschossen

Nach dem Amoklauf in der Albertville-Realschule in Winnenden (Rems-Murr-Kreis) hat sich die Zahl der Getöteten doch nicht auf 17 erhöht. Das teilte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit. Der 17-jährige Täter wurde auf seiner Flucht in Wendlingen erschossen.

Amoklauf Schule Winnenden

* Furchtbares Blutbad in Winnenden und Wendlingen

Schaltgespräch aus BW aktuell Extra von 14.30 Uhr (4:30 min)

Am Nachmittag hatte es geheißen, eine Schülerin sei im Krankenhaus den Schussverletzungen erlegen. Die Berichte beruhten auf einem Missverständnis, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft.

Der Amokläufer erschoss zehn Schüler, drei Lehrerinnen und drei Passanten.

Bei der Schießerei am Mittag in Wendlingen, rund 40 Kilometer vom Tatort entfernt, wurden nach Polizeiangaben zwei Polizisten schwer verletzt. Nach dem Amoklauf an der Schule erschoss der Täter - laut Polizei ein 17-Jähriger aus Leutenbach - in der Nähe der Schule einen Mitarbeiter des Zentrums für Psychiatrie und Neurologie. Anschließend zwang er einen Autofahrer, ihn in Richtung Wendlingen (Landkreis Esslingen) zu fahren, ließ ihn aber unterwegs aussteigen und fuhr selbst weiter. Er hielt an einer Bundesstraße nahe einer Autobahnauffahrt an, lief zu einem Autohaus und erschoss dort zwei Mitarbeiter. Dort kam es auch zu dem Schusswechsel zwischen Polizei und Täter, wie ein Polizeisprecher in Waiblingen weiter mitteilte. Die Flucht war nach rund drei Stunden beendet.

Als Schüler nicht auffällig gewesen

Amoklauf in Winnenden

* Polizisten sichern die Schule

Über das Motiv für das Massaker wird noch gerätselt. Bei dem 17-Jährigen aus Leutenbach im Rems-Murr-Kreis handelt es sich um einen ehemaligen Schüler, der im vergangenen Jahr die Mittlere Reife an der Albertville-Realschule gemacht und eine Ausbildung angefangen hatte. Innenminister Heribert Rech (CDU) sprach davon, dass der Jugendliche während seiner gesamten Schulzeit nicht negativ aufgefallen sei.

Infohotline des Regierungspräsidiums Stuttgart für betroffene Eltern:

0711- 904 401 49

Das Ausmaß des Geschehens sei nicht fassbar, sagte er. Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sprach in Winnenden von einer "grauenvollen und in keiner Form erklärbaren Tat".

Zehn Schüler und drei Lehrerinnen tot

Wie die Polizei weiter mitteilte, war der schwarz gekleidete Täter gegen 9.30 Uhr während des Unterrichts in verschiedene Klassenzimmer gegangen. Dort schoss er mit einer Waffe um sich. Um 9.33 Uhr ging bei der Polizei ein Notruf ein.

Amoklauf Schule Winnenden

* Schockierte Schüler in Winnenden

In der Schule wurden neun Schüler im Alter von 14 und 15 Jahren sowie drei Lehrerinnen erschossen. Eine Referendarin hatte erst vor vier Wochen ihre Arbeit an der Schule aufgenommen. Das Schulzentrum war kurz nach der Tat weiträumig abgesperrt. Rund 1.000 Einsatzkräfte versuchten, den Täter zu finden sowie Schüler und Passanten in Sicherheit zu bringen. Die anderen Schulen des Ortes wurden zunächst unter Polizeischutz gestellt. Teile der Innenstadt wurden ebenfalls abgesperrt, die Polizei fahndete unter anderem mit Spürhunden und Hubschraubern nach dem Täter.

Mehrere Seelsorger kümmern sich inzwischen gemeinsam mit Psychologen und Ärzten um Schüler und Lehrer. Die Albertville-Realschule ist zusammen mit einem Gymnasium in einem Schulzentrum mit insgesamt 1.000 Schülern untergebracht.

Vater besitzt 16 Waffen

Nach SWR-Informationen hat die Polizei bereits das Haus des mutmaßlichen Amokläufers in Leutenbach durchsucht und 16 Waffen gefunden. Der Vater des jungen Mannes ist Mitglied eines Schützenvereins und hatte sie legal erworben. Eine der Waffen und 50 Schuss Munition fehlten.

http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=4600618/9ja3jt/index.html

 

 

 


 

 

 

"Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung"

 

Bärbel Wardetzki, Kösel, 1991, ISBN 3-466-30320-6, 32 DM

 

"Der Kampf zwischen Abhängigkeit und Autonomie

Der zentrale Faktor im Leben selbstwertschwacher Frauen ist der Kampf zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit. Ihnen ist in ihrer Entwicklung die Integration von beidem nicht gelungen, so daß sie weiterhin Autonomie und Abhängigkeit als zwei voneinander getrennte Seinsweisen erleben.
Das Abhängigkeitsverhalten wird zum größten Teil schon früh geprägt. Wie ich schon beschrieb, beginnt die erste Loslösung von der Mutter ab einem Alter von circa sechs Monaten und drückt sich in dem Bedürfnis nach Distanzierung aus. Um dies erfolgreich zu verwirklichen, benötigt das Kind die Unterstützung der Mutter und ihre Erlaubnis. Erlebt die Mutter die Autonomie- und Loslösungsbestrebungen des Kindes als bedrohlich, so wird sie diese eher hemmen als fördern. Es besteht dann die Gefahr, daß die symbiotische Beziehung andauert und das Kind von der Mutter abhängig bleibt. Die Motive einer Mutter, das Kind an sich zu binden, sind vielfältig und haben oft etwas mit ihrer eigenen Trennungsangst zu tun. Denn Trennung beinhaltet immer Schmerz und Trauer. Diese Gefühle können vermieden werden, wenn die Trennung nicht vollzogen wird und der Mensch weiterhin in Abhängigkeit lebt. Die Mutter wird das Kind nur soweit eigenständig werden lassen, wie sie selbst fähig ist, es loszulassen.
Die Botschaft an die Kinder, die sich nicht separieren sollen, lautet im übertragenen Sinne: >Nur wenn du bei mir bleibst, bekommst du, was du brauchst. Wenn du gehst, entziehe ich dir meine Liebe.< Dadurch bekommt das Kind Angst und fühlt sich verlassen, wenn es sich distanziert, da ihm die Unterstützung der Mutter entzogen wird. Es gerät in eine sogenannte Verlassenheits- oder Vernichtungskrise, die mit starken Wut- und Leeregefühlen verbunden ist. Das Kind paßt sich daraufhin der mütterlichen Forderung an, bei ihr zu bleiben, muß dafür aber seine Ablösungstendenzen verleugnen. Sie werden in diesem Alter dann abgespalten und als >böse< etikettiert. Das >gute< Kind paßt sich an und trennt sich nicht, das >böse< ist wütend und will eigenständig werden, riskiert aber dadurch, die mütterliche Unterstützung zu verlieren.
Auch wenn die Separierungstendenzen nicht ausgelebt werden können, so bleiben sie doch vorhanden und verschaffen sich im Erwachsenenalter Ausdruck in neurotischen Symptomen oder EßBrech-Attacken. Der sogenannte >böse< oder auf Selbständigkeit gerichtete Teil von sich wird im Symptom ausgelebt. "Nur bei meinen Eß-Brech-Anfällen bin ich wirklich ganz bei mir. Da ist dann niemand, der mir reinredet oder was von mir will. Ich bin endlich ich selbst." Eine andere Variante ist der Trotz, der Distanz und eigenen Raum schafft, aber mit Unzufriedenheit und Beziehungsverlust bezahlt werden muß.
Wenn Separation, Eigenständigkeit und Abgrenzung nur über Krankheit und Selbstzerstörung möglich sind, können sie nicht befriedigend sein. Sie werden im Gegenteil eher wie ein Scheitern an der gefährlichen Welt erlebt und als Bestätigung. daß Eigenständigkeit schlecht ist. Die innere Stimme der >guten Mutter<, die das Kind nicht gehen lasen will, bestärkt dies: >Ich hab' doch gleich gesagt, bleib bei mir, alleine schaffst du es nicht.< Die Bedürfnisse nach Unabhängigkeit und Einssein können auf diese Weise nicht integriert werden. Denn gibt das Kind "dem Wunsch nach Symbiose nach, dann entsteht die Angst vor dem Verschlungenwerden. Beim Nachgeben gegenüber dem Trennungswunsch tritt die Angst vor der Trennung auf (Verlassenheitsdepression). Die Beziehung zur Mutter kann man daher als >stabil-instabil< bezeichnen. Das bedeutet, daß die Beziehung zwar über die Zeit erhalten, also stabil bleibt, aber in sich instabil ist, da sie zwischen symbiotischer Nähe und Distanz wechselt.
Es gibt also entweder nur Anpassung oder Autonomie, aber nicht beides zusammen. Im Erleben der Frau widersprechen sie sich aufgrund der frühen Erfahrungen, in denen Liebe und Zuwendung mit dem Aufgeben von Eigenständigkeit und Individualität verbunden war. Und das muß Beziehungen zum Scheitern bringen. Die erwachsene Frau wird in einer intimen Beziehung entweder mit Selbstaufgabe reagieren oder alleine bleiben. Sie hat nicht gelernt, eigenständig innerhalb einer Beziehung zu sein. Da, wo Liebe und Autonomie zwei sich ausschließende Erlebnisweisen darstellen, können sie nur alternativ gelebt werden, verbunden mit den entsprechenden Beziehungsproblemen.
Der Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt ist ein zentraler Konflikt in der Entwicklung des Kindes und im Leben des Erwachsenen.

...

Schneider-Henn spricht im Zusammenhang mit der Aggressionshemmung von der >>braven Tochter, die keine Probleme macht, angepaßt und lieb ist<<, Diese Mädchen wehren sich nicht und setzen sich nicht gegenüber der Mutter durch, entweder "weil ihr Wille gebrochen ist" oder um ihre Mutter nicht zu enttäuschen. die sich mit scheinbar selbstloser Liebe und Zuwendung um die Tochter sorgt. Sie, die Mutter, ist in den seltensten Fällen ein Modell für die Tochter in bezug auf Abgrenzung und konstruktive Aggressivität. Sie demonstriert eher das Bild einer angepaßten und von der Meinung anderer abhängigen Frau, die besser weiß, was andere bedürfen, als was sie selbst braucht.

S. 92ff

 

 


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