Der Fall Elian


 

 

 

Der Berliner Kinderpsychologe Anton Spilimbergo warnt vor seelischen Folgen für den kubanischen Jungen

Anton Spilimbergo (61) ist Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Reinickendorfer
Krankenhauses.

Welche Auswirkungen hat ein so erbitterter Streit, wie um den sechsjährigen Elian aus Kuba, auf die Psyche des betroffenen Kindes?

Es kommt darauf an, wie alt das Kind ist und welche psychologische Reife es hat. Je jünger das Kind, umso schwerer sind die seelischen Folgen. Gerade während der ersten Lebensjahre können Beeinträchtigungen
entstehen, die lebenslang anhalten.

Warum?

Ein Kleinkind im Vorschulalter braucht eine gute Mutter- und eine gute Vaterfigur. Dann kann es sich zwischen beiden Mustern orientieren und entwickelt ein Gefühl der Selbstsicherheit. Es ist katastrophal, wenn
das Kind vermittelt bekommt, dass der eine der beiden Eltern gut und der andere böse ist. Das kann passieren, wenn bei einer Scheidung dem Kind eingeredet wird, Vater oder Mutter seien ein schlechter Mensch.

Elians Mutter ist auf der Flucht in die USA ertrunken. Nun macht der Großonkel des Jungen Stimmung gegen den in Kuba lebenden Vater. Wie beurteilen Sie dies?

Ein Kleinkind verinnerlicht seinen Vater so stark, dass er ein Teil seines Selbst ist. Insofern bedeutet die Entwertung des Vaters für das Kind die Vernichtung eines Teiles seiner Persönlichkeitsstruktur.

Die amerikanischen Verwandeten von Elian behaupten, der Junge wolle gar nicht zu seinem Vater nach Kuba zurückkehren.

Das ist sehr wahrscheinlich eine Manipulation, die das Kind schädigt. Für ein Kind vor der Pubertät ist es lebenserhaltend, zu glauben und daran festzuhalten, dass seine Eltern die besten sind. Der Junge kann nur Vertrauen in sich selbst haben, wenn er ein gutes Bild von seinem Vater hat.

Was sind die seelischen Langzeitfolgen solcher Erfahrungen?

Eine Folge kann chronische Depression sein mit einer Gefährdung zum Selbstmord. Hinzu können vielfältige Störungen im sozialen Bereich kommen. Dem Menschen fehlt später Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, was
sich auswirkt auf Motivation, Lebensgefühl und Leistungswillen.

Halten Sie die Strategie der amerikanischen Justizministerin für gerechtfertig, den Jungen notfalls mit Gewalt seinen Verwandten in Miami wegzunehmen?

Eine Gewaltanwendung ohne psychologische Vorarbeit halte ich für falsch. Aber man kann diesen Fall nicht allein juristisch bewerten. Ich nehme an, dass die Justizministerin von Fachpsychologen beraten wird.

Nehmen Fälle von solchen aggressiven Sorgerechtskonflikten in Deutschland zu? Lässt sich eine Tendenz erkennen?

Ich kann nur über Berlin sprechen. Ich stelle fest, dass in Scheidungsfällen das Verständnis der Eltern und auch der Rechtsanwälte für die Belange der Kinder
gewachsen ist. Das war anders vor dreißig Jahren, als ich mit meiner Arbeit begonnen habe. Damals waren die Kenntnisse über die Psychologie des Kindes nicht so ausgeprägt wie heute. Man hat Kinder häufig als Waffe
benutzt. Das ist inzwischen deutlich zurückgegangen.

Das Gespräch führte Martin Gehlen

http://www.tagesspiegel.de/archiv/2000/04/13/ak-po-we-20620.html

 

 


 

 


 

Elian wird Schuldgefühle verspüren

Gießener Psychoanalytiker Hans-Peter Wirth nimmt Stellung zu Erlebnissen des sechjährigen kubanischen Flüchtlingsjungen

Von Franz Maywald

14.April 2000

GIESSEN. Im Mittelpunkt des weltweit für Aufsehen sorgenden Gezerres zwischen Castro-Gegnern und dem Vater Juan Miguel Gonzalez von der Karibik-Insel Kuba steht der sechsjährige Flüchtlingsjunge Elián, dessen Mutter und Stiefvater auf der Flucht beim Schiffbruch ums Leben gekommen waren.

Über die psychischen Folgeschäden dieses traumatischen Verlustes und die Auswirkungen des wochenlangen Medienrummels auf die Entwicklung des Jungen sprach der Anzeiger mit dem Gießener Psychoanalytiker Privatdozent Hans-Jürgen Wirth, Mitglied und Dozent des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen und langjähriger Mitarbeiter am Zentrum für Psychosomatische Medizin der Justus-Liebig-Universität.

Wie beurteilen Sie den augenblicklichen Konflikt um das Kind vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen als Paar- und Familientherapeut?

Wirth: Aus familientherapeutischer Sicht wird hier ein Konflikt, der zwischen Erwachsenen besteht – auf der einen Seite der leibliche Vater und die Regierung Kubas, auf der anderen Seite der Großonkel und die Exil-Kubaner – auf dem Rücken des Jungen ausgetragen. Die politischen Interessen der Beteiligten und die Sensationsgier der Medien sorgen dafür, dass der ganze Konflikt gigantisch aufgeladen wird. Was für den Jungen gut oder schlecht ist, gerät völlig aus dm Blickfeld, auch wenn die Beteiligten das Gegenteil beteuern. Der ganze Vorgang erinnert mich stark an Brechts Stück "Der kaukasische Kreidekreis", das auf ein altchinesisches Singspiel vom Kreidekreis zurückgeht, wo ein Richter den Streit zweier Frauen um ein Kind dadurch entscheidet, dass er das Kind in einen Kreidekreis zwischen die Frauen stellt und es der zusagt, die es auf ihre Seite zu ziehen vermag. Er erkennt die leibliche Mutter in der, die verliert, weil sie dem Kind nicht weh tun will.

Welche Auswirkungen dieses Streits auf die Psyche Eliáns sind zu befürchten?

Wirth: In Wahrheit handelt es sich hier um den narzisstischen Missbrauch eines Kindes zum Zwecke der Selbstdarstellung, man kann auch von einer Funktionalisierung des Kindes für die eigenen Interessen der Erwachsenen sprechen. Viele Fälle aus der familientherapeutischen Praxis belegen, dass es immer dann zu einer erheblichen psychischen Schädigung des Kindes kommt, wenn die in einer Trennungssituation befindlichen Eltern versuchen, das Kind auf die jeweils eigene Seite zu ziehen und es sozusagen als Bundesgenossen oder als Pfand zu missbrauchen.

Wie reagieren Kinder, die sich plötzlich einem so schlimmen Zwiespalt ausgesetzt sehen?

Wirth: Das Kind denkt ständig daran, wie es dem jeweiligen Elternteil am ehesten entsprechen kann. Es fühlt sich nur geliebt, wenn es tatsächlich zu dessen Bundesgenossen wird, vor allem wenn der Druck durch Bemerkungen wie "Ich lieb dich nur, wenn du nicht zum Papa/zur Mama gehst" noch besonders groß wird. Solche Kinder entwickeln enorme Unsicherheiten, reden den Eltern nach dem Munde und neigen zur Überanpassung. Häufig sind das sehr sensible Kinder, die schon vorwegnehmend das spüren, was man von ihnen erwartet und die versuchen, solche Erwartungen auch zu erfüllen. Dabei vernachlässigen sie dann ganz ihre eigenen Bedürfnisse und Gedanken. 

Wenn so ein Prozess jahrelang anhält, ist dann nicht mit bleibenden Veränderungen oder Störungen zu rechnen?

Wirth: Natürlich. In solchen Fällen tritt immer die Symptomatik des Lügens auf. Das heißt, solche Kinder erfahren und lernen, dass es gar nicht auf die Wahrheit ankommt, am Ende wissen sie gar nicht, was das ist. Diese Haltung praktizieren sie beispielsweise auch in der Schule, indem sie Freunden, den Lehrern, einer anderen Clique nach dem Mund reden und so in ein heilloses Chaos geraten. Oft heißt es dann: "Aha, der lügt ja schon wieder."

Auch Elián hat schon einige dieser Symptome entwickelt und scheint bereits Geschichten zu erfinden. Man muss sich aber im klaren darüber sein, dass es sich um Krankheitssymptome handelt. Daran lässt sich auch ablesen, wie stark der Druck ist, der auf dem Jungen lastet. 

Welche Auswirkungen wird der gleichzeitige Verlust von Mutter und Stiefvater auf den Jungen haben?

Wirth: Ich denke, dass Elián eine mehrfache Traumatisierung erlitten hat. Dass der Junge Mutter und Stiefvater gleichzeitig verloren hat und selbst als einziger gerettet wurde, wird für ihn die Grundlage einer "Überlebensschuld" sein. Um dieses Gefühl möglichst gering zu halten, wären Ruhe und Zurückgezogenheit für die Trauerarbeit erforderlich. Stattdessen findet sich der Junge schon seit Wochen in einer ungeheuer aufgeputschten Atmosphäre wieder, wird mit Geschenken überhäuft, erlebt so etwas wie Starkult und Größen- und Allmachtsphantasien. Da ihm aber vor lauter Rummel zur Zeit keine Trauer möglich ist, wird er später um so größere Schuldgefühle verspüren.

Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Dr. Wirth.

http://anzeiger.net/artikel/artikel_ausgabe.asp?zeitung_id=ganz&rubrik_name=anzuni&artikel_id=2902669

 

 


 

 



Der Fall Elián erinnert Fidel Castro an seinen eigenen Sohn

Kubas Staatschef kämpfte selbst um das Sorgerecht für seinen Sprössling - Ist das der Hintergrund für die Staatsaffäre? 



Von Hero Buss


San José - Wieder gingen am Wochenende in Kubas Hauptstadt Havanna 150 000 Menschen auf die Straße, um die Rückkehr des kleinen Elián in seine Heimat zu fordern. Ist ein altes Trauma Fidel Castros die Ursache dafür, dass der Präsident seit Wochen die Kubaner für die Rückkehr des sechsjährigen Elián González demonstrieren lässt, dass der Streit um das Sorgerecht für einen kleinen Kubaner zu einer Staatsaffäre eskaliert ist? Vor 47 Jahren trug Castro selbst einen Streit um das Sorgerecht für seinen Sohn aus.

Castro war damals 28 Jahre alt und saß im Gefängnis. Die erste gewaltsame Aktion einer von ihm geführten Revolutionsbewegung, der Angriff auf eine Kaserne des Diktators Fulgencio Batista, war gescheitert und der junge Comandante zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. 1954, als er ein Jahr verbüßt hatte, bekam er Post von Mirta Diaz-Balart, mit der er seit sechs Jahren verheiratet war. Das Paar hatte einen Sohn, damals fünf Jahre alt. Sie werde sich scheiden lassen, schrieb Ehefrau Mirta, nach New York umziehen und ihren Sohn mitnehmen.

Castro tobte, wie jetzt die lateinamerikanische Wochenzeitung "Tiempos del Mundo" berichtet. Er vermutete einen "Komplott" seiner Schwiegereltern, einer der reichsten Familien Kubas. Er werde nur dann in eine Scheidung einwilligen, wenn der kleine Fidelito in Havanna bleibe. Um seinen Sohn werde er kämpfen, selbst zu dem Preis, "dass die Erde zerstört wird".

Die Richter entschieden zu Gunsten der Mutter. 1955 kam Castro durch einen Gnadenerlass Batistas frei und ging nach Mexiko, wo sich seine Truppe für den Kampf auf Kuba vorbereitete. Seiner Frau schrieb er, dass er möglicherweise dabei sterben werde. Er habe nur den einen Wunsch, vorher noch einmal seinen Sohn zu sehen, dann werde er ihn zurückschicken.

Aber Castro hielt nicht Wort und überließ den Jungen - damals sechs Jahre alt wie heute Elián González - einem mexikanischen Ehepaar.
Seine Ex-Frau sei unfähig zu einer von ihrer "Oligarchenfamilie" unbeeinflussten Erziehung ohne "verabscheuungswürdige Ideen", gegen die er kämpfe. In einem Brief schrieb er: "Diejenigen sollen sich um ihn kümmern, die die beste Erziehung garantieren."

Ähnlich argumentiert heute die Familie von Eliáns Großonkel in Miami. Wenn der Junge, dessen Mutter und Stiefvater beim Fluchtversuch ertranken, dem Vater auf Kuba übergeben werde, verlöre er eine "Erziehung in Freiheit". Man liefere ihn einem System aus, wo
Schulkindern eingetrichtert werde, ihre Eltern anzuzeigen, wenn sie sich als Konterrevolutionäre verdächtig machten.

Castros Rechnung ging damals zunächst nicht auf. Familie Diaz-Balart engagierte drei Privatagenten, die Fidelito in Mexiko entführten und nach New York zur Mutter brachten. Nach dem Sieg der Revolution gab sie dem Drängen des Ex-Ehemanns, nunmehr Herr auf Kuba, nach.
Fidelito kam nach Havanna und wuchs mit den Halbgeschwistern aus Castros zweiter Ehe auf. Er studierte in der Sowjetunion Physik und wurde Chef des (gescheiterten) kubanischen Programms zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, bis er in Ungnade fiel und auf einen drittrangigen Posten abgeschoben wurde. Zu den prominentesten Persönlichkeiten in den USA, die sich heute für ein Verbleiben von Elián González einsetzen, gehört der Kongressabgeordnete Lincoln Diaz-Balart. Er ist Neffe von Mirta Diaz-Balart, geschiedene Castro.

US-Präsident Bill Clinton hat indessen schärfere Sanktionen gegen Kuba im Rahmen des Helms-Burton-Gesetzes erneut blockiert.


 

 

http://www.welt.de/daten/2000/01/17/0117au147344.htx

 

 

 

 


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