Ersatzmutter
Die Ersatzmutter
Dagmar Welinski entscheidet als Vormund für Kinder - manchmal gegen den Willen der Eltern. Sie will ihr Gesicht lieber nicht in der Zeitung sehen.
Foto: Benjamin Pritzkuleit
Dagmar Welinski bestimmt als Vormund über das Leben von 65 Kindern. Manche hat sie nie gesehen
von Julia Haak
Liebe gehört nicht zu ihren Aufgaben. Verantwortung dagegen schon. Dagmar Welinski hat Mutterpflichten, und zwar neben ihrem eigenen kleinen Sohn noch für 65 andere Kinder. Sie sorgt dafür, dass sie gut untergebracht sind und erzogen werden, sie klagt Unterhalt für sie ein, beschließt, ob ein Arztbesuch oder eine Operation nötig ist und vertritt sie auch vor Gericht. Dagmar Welinskis Kinder befinden sich im Heim oder in einer Pflegefamilie. Zu ihr kommen sie nur in Form von Akten. Es sind Kinder, deren Eltern gestorben sind, die Polizei und Jugendamt aus ihren Familien zu ihrem eigenen Schutz herausgenommen haben, Kinder von minderjährigen, entscheidungsunfähigen oder drogensüchtigen Müttern. Dagmar Welinski würde die Kinder gerne alle persönlich gut kennen. Aber mal zusammen ein Eis essen gehen, dafür ist keine Zeit.
Die 42-Jährige arbeitet seit 14 Jahren als Amtsvormund in Charlottenburg-Wilmersdorf. Im Bundesjustizministerium hat man ihren Job derzeit im Blick: Ein Gesetzentwurf wird vorbereitet, der eine persönliche Beziehung zwischen Vormund und Kind vorschreibt. Dafür soll die Anzahl der Mündel begrenzt werden. Ein Amtsvormund wird dann nur noch für 50 Kinder zuständig sein, nicht für 100 oder 200, wie es manchmal vorkommt.
Kaum persönliche Beziehungen
Eigentlich ist eine persönliche Beziehung zwischen Vormund und seinen im Berliner Durchschnitt 70 Mündeln jetzt schon erwünscht. In der Senatsjugendverwaltung gibt man aber zu, dass die „Beziehungsarbeit auf Grenzen gestoßen“ ist. „Wir sollen jedes Kind kennen – bisher ist das nicht möglich“, sagt Welinski. Aus Zeitgründen. Sie hat sich vorgenommen, wenigstens alle einmal zu sehen. Daran arbeitet sie. Aber eine richtige persönliche Bindung? Dagmar Welinski hält das nicht für realistisch, auch nicht, wenn es bald im Gesetz steht. Wahrscheinlich würden nur die Vaterschaftsklagen jemand anderem im Amt übertragen. Im Senat wartet man ab, bis sich der neue Bundestag konstituiert hat. Künftig sollen mehr ehrenamtliche Privatpersonen Vormundschaften übernehmen. So will man die Aufgaben neu verteilen. Welinski hält davon wenig: „Das hat man vor Jahren schon mal versucht, die Resonanz war gleich null. Wer will diese Verantwortung freiwillig übernehmen?“
Dagmar Welinski spricht schnell und bestimmt. Man gewinnt den Eindruck, dass sie ihre 65 Akten im Griff hat, dass sie weiß, wie es jedem einzelnen Kind geht und sich Gedanken darüber macht. „Aber wir können nicht hinter jeder Tür stehen“, sagt sie. Auch bei ihr hat es schon Fälle gegeben, bei denen sie lange nicht mitgekriegt hat, was läuft. Da war zum Beispiel ein Pflegevater, Teil einer sogenannten Profifamilie, bei der sich zwei Erzieher um mehrere Kinder kümmern, der Kinder missbraucht hat. „Man steckt nicht drin. Die Familien sind geprüft“, sagt Welinski. Das Jugendamt besucht jede Pflegefamilie und schreibt ein Gutachten. Dagmar Welinski verlässt sich darauf.
Es ist viel Papier, auf das sich Welinski in ihrem Urteil stützt. Wenn eine neue Akte auf ihrem Tisch landet, beantragt sie beim Familiengericht die Vormundschaft. Das Gericht beschließt und schon ist sie verantwortlich. „Für alles, was sonst die Eltern machen.“ Wo das Kind wohnt, ob es eine Brille oder eine Zahnbehandlung bekommen soll, die Erbschaft muss angenommen oder ausgeschlagen werden, das Eigentum verwaltet, ein Sparbuch eröffnet, die Schule ausgesucht und beschlossen werden, wann es überhaupt eingeschult werden soll. Weil Welinski das nicht allein leisten kann, muss sie viel telefonieren mit Ärzten, Lehrern, Erziehern, Sozialarbeitern, dem Jugendamt.
Sie muss sich eine Meinung über die Berichte dieser Leute bilden – vom Schreibtisch aus. Und dabei muss sie aufpassen, dass sich die 65 Schicksale dort nicht zum unentwirrbaren Kuddelmuddel verknoten: Denn an einem einzigen Tag braucht ja ein Kind eine Zahnspange, ein zweites einen Ausbildungsplatz, für ein anderes empfiehlt der Kinderarzt ein Medikament mit Nebenwirkungen. Im Laufe der Jahre hat sie zu den älteren Kindern manchmal Kontakt. Die rufen an oder tauchen im Büro auf, wenn sie was wollen. Für die Kleinen ist sie nur eine weitere Tante vom Amt.
Wenn die Beziehung zum Mündel persönlich wird, gibt es meist einen gewichtigen Grund dafür. Dagmar Welinski hatte eine 16-Jährige, die ihre Brust verkleinern lassen wollte. Sie telefonierte mit den behandelnden Ärzten und erfuhr, dass es nicht um Kosmetik ging. Das Mädchen hatte massive Rückenprobleme, weil sie zu viel Gewicht trug, bleibende Schäden waren absehbar. Welinski stimmte der Operation zu, aber das reichte dem Arzt nicht. „Da bin ich in die Klinik gefahren und habe dort einen halben Tag verbracht“, sagt sie. Sie saß neben der 16-Jährigen, als der Eingriff und die Narkose erläutert wurden.
„Manchmal läuft alles rund in einer Pflegefamilie, die sieht man selten. Um andere muss man sich dauernd kümmern“, sagt Welinski. Ein anderes 16-jähriges Mädchen büxte immer wieder aus. Das Mädchen tauchte schließlich wieder auf, weil es Geld brauchte. Die Jugendliche war zu ihrem Freund gezogen. Aber dann saßen beide jammernd vor Welinski und verlangten Unterstützung. „Da darf man dann nicht lockerlassen.“ Welinski verweigerte den Unterhalt, bis das Mädchen zurück ins Heim zog. „Nicht zahlen, wenn sie nicht mitspielt“, sagt sie.
Eine private Versicherung
Wer Amtsvormund werden will, muss die entsprechende Persönlichkeit mitbringen. Dagmar Welinski ist Diplom-Verwaltungswirtin, hat einen Lehrgang zum Vormundschaftsrecht absolviert und besucht Fortbildungen. Aber das Verwaltungsrecht hilft nur wenig, wenn sie entscheiden muss, ob ein jahrelang sexuell missbrauchtes Mädchen Umgang mit seiner Ursprungsfamilie haben soll oder ob eine Drogenabhängige das Sorgerecht zurückbekommt, wenn sie clean ist. „Wir haben viel Verantwortung. Das ist nicht ohne“, sagt sie. Die spektakulären Fälle vernachlässigter Kinder, vor allem Kevin, der 2006 in Bremen tot im Kühlschrank gefunden wurde, während er in den Akten seines Vormundes als gesund galt, haben Dagmar Welinski stark mitgenommen. Auch sie könnte falsch entscheiden, das macht ihr zu schaffen. „Ich bin kein Mediziner, ich kann gar nicht beurteilen, ob bei Eltern oder einem Kind Tabletten im Spiel sind, ich muss mich auf Berichte verlassen“, sagt sie, Berichte von Sozialarbeitern, Ärzten, Familienhelfern.
In Charlottenburg-Wilmersdorf hat jeder der fünf Vormünder eine private Haftpflichtversicherung abgeschlossen. Welinski hat sie einmal gebraucht in ihrer Anfangszeit. Es war eine Unterhaltssache. Das Amt hatte einen Vater verklagt, aber der hatte schon einen Teil gezahlt. Weil sich in einer Stressphase die Mitarbeiter gegenseitig vertreten mussten, war das nicht aufgefallen. Anwaltskosten liefen auf. „Man darf Job und Probleme nicht mit nach Hause nehmen, das ist wichtig“, sagt Dagmar Welinski. Schließlich ist sie für jedes Mündel viele Jahre zuständig – bis zur Volljährigkeit.
Berliner Zeitung, 13.10.2009
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/berlin/142170/142171.php