Friedrich Schiller


 

 

 

 

„Dem Manne kann geholfen werden“

(Karl Moor in Schillers „Die Räuber“)

 

 

 


 

 

 

An die Freude.

 

Freude, schöner Götterfunken,

Tochter aus Elysium,

Wir betreten feuertrunken,

Himmlische, dein Heiligthum.

Deine Zauber binden wieder,

Was die Mode streng getheilt;

Alle Menschen werden Brüder,

Wo dein sanfter Flügel weilt.

Chor.

Seid umschlungen, Millionen!

Diesen Kuß der ganzen Welt!

Brüder - überm Sternenzelt

Muß ein lieber Vater wohnen.

 

 

Wem der große Wurf gelungen,

Eines Freundes Freund zu sein,

Wer ein holdes Weib errungen,

Mische seinen Jubel ein!

Ja - wer auch nur eine Seele

Sein nennt auf dem Erdenrund!

Und wer's nie gekonnt, der stehle

Weinend sich aus diesem Bund.

 

Chor.

Was den großen Ring bewohnet,

Huldige der Sympathie!

Zu den Sternen leitet sie,

Wo der Unbekannte thronet.

 

 

Freude trinken alle Wesen

An den Brüsten der Natur;

Alle Guten, alle Bösen

Folgen ihrer Rosenspur.

Küsse gab sie uns und Reben,

Einen Freund, geprüft im Tod;

Wollust ward dem Wurm gegeben,

Und der Cherub steht vor Gott.

 

Chor.

Ihr stürzt nieder, Millionen?

Ahnest du den Schöpfer, Welt?

Such' ihn überm Sternenzelt!

Über Sternen muß er wohnen.

 

 

Freude heißt die starke Feder

In der ewigen Natur.

Freude, Freude treibt die Räder

In der großen Weltenuhr.

Blumen lockt sie aus den Keimen,

Sonnen aus dem Firmament,

Sphären rollt sie in den Räumen,

Die des Sehers Rohr nicht kennt.

 

Chor.

Froh, wie seine Sonnen fliegen

Durch des Himmel prächt'gen Plan,

Wandelt, Brüder, eure Bahn,

Freudig, wie ein Held zu Siegen.

 

 

Aus der Wahrheit Feuerspiegel

Lächelt sie den Forscher an.

Zu der Tugend steilem Hügel

Leitet sie des Dulders Bahn.

Auf des Glaubens Sonnenberge

Sieht man ihre Fahnen wehn,

Durch den Riß gesprengter Särge

Sie im Chor der Engel stehn.

 

Chor.

Duldet muthig, Millionen!

Duldet für die beßre Welt!

Droben überm Sternenzelt

Wird ein großer Gott belohnen.

 

 

Göttern kann man nicht vergelten;

Schön ist's, ihnen gleich zu sein.

Gram und Armuth soll sich melden,

Mit den Frohen sich erfreun.

Groll und Rache sei vergessen,

Unserm Todfeind sei verziehn.

Keine Thräne soll ihn pressen,

Keine Reue nage ihn

 

Chor.

Unser Schuldbuch sei vernichtet!

Ausgesöhnt die ganze Welt!

Brüder - überm Sternenzelt

Richtet Gott, wie wir gerichtet.

 

 

Freude sprudelt in Pokalen,

In der Traube goldnem Blut

Trinken Sanftmuth Kannibalen,

Die Verzweiflung Heldenmuth - -

Brüder, fliegt von euren Sitzen,

Wenn der volle Römer kreist,

Laßt den Schaum zum Himmel spritzen:

Dieses Glas dem guten Geist!

 

Chor.

Den der Sterne Wirbel loben,

Den des Seraphs Hymne preist,

Dieses Glas dem guten Geist

Überm Sternenzelt dort oben!

 

 

Festen Muth in schwerem Leiden,

Hilfe, wo die Unschuld weint,

Ewigkeit geschwornen Eiden,

Wahrheit gegen Freund und Feind,

Männerstolz vor Königsthronen, -

Brüder, gält' es Gut und Blut -

Dem Verdienste seine Kronen,

Untergang der Lügenbrut!

 

Chor.

Schließt den heil'gen Zirkel dichter,

Schwört bei diesem goldnen Wein,

Dem Gelübde treu zu sein,

Schwört es bei dem Sternenrichter!

 

 

 

 

http://gutenberg.spiegel.de/schiller/gedichte/freude.htm

 

(Text: Friedrich von Schiller,

Musik: Ludwig van Beethoven)

 

 

Ode an die Freude. Von Friedrich von Schiller aus dem Jahre 1785, später von Ludwig van Beethoven vertont.

 

 

 


 

 

 

 

SÜDWESTRUNDFUNK

 

Schiller –

Die Tragödie vom verlorenen Vater

(Ein Beitrag zu SWR2 extra: Friedrich Schiller)

 

Autor: Prof. Dieter Borchmeyer *

Redaktion: Ralf Caspary

Sendung: Sonntag, 19. Dezember 2004, 8.30 Uhr, SWR 2

 

 

 

 

Herzog Carl Eugen war ein spätbarocker Fürst von unermesslichem Repräsentationsbedürfnis, ausufernder Verschwendungssucht und unersättlichem erotischem Appetit. Sein Hof suchte den von Versailles noch zu überbieten, das ganze Leben zum Gesamtkunstwerk und Fest ohne Ende zu verherrlichen. Doch dann, Ende der sechziger Jahre vollzog sich eine merkwürdige – und man darf sagen: epochentypische - Wende im Leben des Herzogs. Vom prassenden Repräsentationsfürsten wandelte er sich zum aufgeklärt-absolutistischen Herrscher, dem es nun um Rentabilität, Effizienz der Verwaltung und Wohlfahrt des Landes ging. Und je mehr er den sexuellen Eros unter dem Einfluss seiner Mätresse und späteren Gattin Franziska von Hohenheim zu bürgerlicher Liebe domestizierte, desto heftiger erwachte der pädagogische Eros, ja der Erziehungswahn in ihm. Der von Carl Eugen verfolgte und auf der Festung Hohenasperg eingekerkerte Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart witzelte – und dafür musste er büßen: „Als Dionys von Syrakus / Aufhören muss, / Tyrann zu sein, / Da ward er ein Schulmeisterlein.“

Zwischen Aufklärung und Despotismus ist die Grenze beileibe nicht so leicht zu ziehen, wie uns das heute anmutet. Despoten konnten im 18. Jahrhundert recht aufgeklärt, ja regelrechte Kenner und Adepten der Aufklärungsphilosophie sein, wie Friedrich der Große, Katharina die Große oder Joseph II., und reine Aufklärer konnten recht despotisch sein, wie die Geschichte der Freimaurerlogen und der Umschlag von Aufklärung in Terror während der Französischen Revolution zur Genüge lehren. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist keine Erfindung von Adorno und Horkheimer, sondern sie war den Zeitgenossen - gerade Schiller - hochbewusst.

Der pädagogische Ehrgeiz des Herzogs verlegte sich in erster Linie auf die von ihm gegründete Erziehungsanstalt, die als Hohe Carlsschule in die Geschichte eingegangen ist. Er ernannte sich selbst zum Rektor dieses Instituts, das sich von bescheidenen Anfängen in kurzer Zeit zur Militärakademie mit Universitätsprivileg mauserte und das er penibel bis in den Verwaltungs- und Schullalltag hinein überwachte. Selbst für die Inspizierung der Schlafsäle oder die Verabreichung von Ohrfeigen bei Verfehlungen der Schüler war er sich nicht zu schade. Die Eleven wurden unter ständiger Kontrolle gehalten, ja hatten sich selbst zu überwachen und Rapporte über ihre Mitschüler zu verfassen. Solche besitzen wir auch aus Schillers Feder. Schiller entging hier nichts von den aktuellen und innovativen Wissensschätzen seiner Zeit: Aufklärung in Kasernenform verabreicht.

Und doch, obwohl Schiller ihr seine gründliche Bildung verdankt, bedeutete die Einweisung in die Hohe Carlsschule für ihn einen traumatischen Schock, denn mit einem Schlage verlor er Vater, Mutter, Familie. Den Verlust der Kindheit hat er nie verwunden, und er durchzieht hintergründig-leitmotivisch sein ganzes Werk vom Drama über die Ästhetik bis zur Geschichtstheorie. Mit der Überlassung an die Akademie begaben sich die Eltern formell aller Rechte und Pflichten ihrem Sohn gegenüber. Er wurde vom Herzog regelrecht zwangsadoptiert. Zu seinem Erziehungsprogramm gehörte der Abbruch aller familiären Bindungen. Durch juristische Gutachter wie den Tübinger Staatsrechtler Gottfried Daniel Hoffmann ließ er sich ausdrücklich bestätigen, dass das Verfügungsrecht des Souveräns die Ansprüche der Eltern auf ihre Kinder aufhob, seine Vormundschaft die des leiblichen Vaters ersetzte.

Die Aufhebung der familiären Bande durch die despotische Anmaßung des Staates und seines Repräsentanten hat Schiller sein Leben lang verfolgt. Das aufschlussreichste Dokument dafür ist seine Jenaer Vorlesung Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon aus dem Jahre 1789. Der Vergleich der beiden griechischen Gesetzgeber arbeitet mit einem rhetorischen Trick. Die spartanische Gesetzgebung Lykurgs wird zunächst mit dem Anschein der Billigung beschrieben. Lykurg habe nicht nur „Gesetze für seine Mitbürger“, sondern auch „Bürger für diese Gesetze“ schaffen wollen. „Der wichtigste Teil seiner Gesetzgebung war daher die Erziehung.“ Die „Sorgfalt für die Kinder“ blieb öffentliche Angelegenheit. „Sobald das Kind geboren war, gehörte es dem Staat. – Vater und Mutter hatten es verloren.“ Die Knaben übergab man Wärterinnen, denen sie im Alter von sieben Jahren genommen wurden, um „gemeinschaftlich erzogen, ernährt und unterrichtet“ zu werden. Das führte dazu, „dass die Gemüter, durch keine Privatsorge zerstreut, nur dem Staate lebten“. Nachdem Schiller alle vermeintlichen Vorzüge der spartanischen Verfassung geschildert hat, kippt er plötzlich die Wertung radikal um: „Diese bewundrungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich“, bemerkt er mit abruptem Lichtwechsel, denn sie habe den Staat zum Selbstzweck gemacht. Und nun geht Schiller mit der spartanischen Erziehung rigoros ins Gericht: „Dadurch dass der Staat der Vater seines Kindes wurde, hörte der natürliche Vater desselben auf, es zu sein. Das Kind lernte nie seine Mutter, seinen Vater lieben, weil es, schon in dem zärtesten Alter von ihnen gerissen, seine Eltern nicht an ihren Wohltaten, nur von Hörensagen erfuhr.“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Schiller hier seine eigene verlorene Kindheit in der spartanischen Verfassung spiegelt. Lykurg ist Carl Eugen, Sparta die Hohe Carlsschule.

Der Verlust der Kindheit, die Tragödie vom verlorenen Vater durchzieht das dramatische Werk Schillers von den Räubern bis zum Wilhelm Tell. Schon in seinem ersten Drama – noch auf der Carlsschule verfasst und von ihren traumatischen wie intellektuellen Erfahrungen geprägt – bildet diese Tragödie, als Gegengeschichte zum immer wieder leitmotivisch angespielten Gleichnis vom verlorenen Sohn, den Angelpunkt der ganzen Handlung. Karl Moors Ausbruch aus der bürgerlichen Welt in die Räuberexistenz ist ein Akt der Verzweiflung über seinen Vaterverlust. Sein Bruder Franz legt es darauf an, seinen nach der feudalen Erstgeburtsordnung zum Alleinerben des gräflichen Vermögens eingesetzten Bruder aus seinem Recht zu verdrängen. Durch eine teuflische Intrige schafft er es, dass der Vater sich von seinem auf der Universität über die Stränge schlagenden erstgeborenen Sohn lossagt und es Franz überlässt, Karl einen Brief zu schreiben, der ihm verkündet, „dass ich meine Hand von ihm wende“. Die Hand, das alte Symbol der väterlichen Verfügungsgewalt und Fürsorgepflicht des Hausvaters! Für den alten Grafen Moor ist dieser Akt freilich nicht endgültig. Er denkt bis zu seinem letzten Auftritt in den Maßen der biblischen Parabel vom verlorenen Sohn, d. h. er rechnet mit einer reumütigen Rückkehr Karls. Das ahnt dieser jedoch nicht. Der abgefeimte Brief von Franz hat für ihn die tragische Umkehrung der Parabel des Lukas-Evangeliums zur Folge: die Tragödie vom verlorenen Vater.

„Ein allerliebstes köstliches Kind, dessen ewiges Studium ist, keinen Vater zu haben“, so nennt Franz seinen Bruder vor dem verzweifelten Vater. Infam dichtet er Karl sein eigenes „Studium“ an, pervertiert er doch gewissermaßen das Ziel der Aufklärung, deren radikale materialistische Philosophen er sich für seine Zwecke zynisch zunutze gemacht hat. Dieses Ziel besteht in gewisser Hinsicht tatsächlich darin, „keinen Vater zu haben“. In der bedeutendsten und griffigsten Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung – sie stammt von Immanuel Kant aus der Dezembernummer der „Berlinischen Monatsschrift“ 1784 – heißt es ja: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Mündigkeit und Unmündigkeit sind ursprünglich rechtliche Begriffe. Das Modell der Aufklärung ist also das Heraustreten aus dem Abhängigkeitsverhältnis der Vormundschaft: das Mündig-, d. h. das Rechtsfähig-Werden des Mündels – die Emanzipation von der väterlichen Gewalt, der patria potestas des Römischen Rechts, dessen Rezeption das neuzeitliche Europa so grundlegend geprägt hat. Auch der Begriff der Emanzipation ist ursprünglich ein Rechtsbegriff, bedeutet im Römischen Recht die Entlassung aus der >Hand< (manus), das ist aus der durch sie symbolisierten Verfügungsgewalt des Familienvaters, des pater familias, die sich auch noch auf die erwachsenen Söhne erstreckt hat. Diese wurden in der Regel erst durch den Tod des Vaters rechtsfähig, konnten im allgemeinen nur mit väterlicher Einwilligung durch formelle emancipatio selbständig werden.

Die Aufklärung hat die Termini der Mündigkeit und Emanzipation zu Grundbegriffen der religiösen, politischen und sozialen Befreiung verallgemeinert: eine Auflehnung gegen die vormundschaftliche Gewalt des Vaters, die nur vor dem Hintergrund der Steigerung der patria potestas im absolutistischen Zeitalter zu erklären ist.

So gewiss die Aufklärung auf die Emanzipation von diesem universalen Paternalismus römisch-absolutistischer Prägung zielt, hat sie, von einigen ihrer extremen Vertreter abgesehen, doch nicht daran gedacht, die väterliche Gewalt überhaupt zur Disposition zu stellen, sondern es galt, sie auf ihre >natürliche< Funktion zurückzuführen, sie wieder in den Grenzen zusammenzuziehen, welche die Natur diesem »heiligsten aller Ämter« (so Montesquieu) gesetzt habe. Die väterliche Gewalt bestehe darin, lesen wir im Artikel „Kindheit“ in der Enzyklopädie der französischen Aufklärer von 1755, die Kinder zu erziehen und zu leiten, solange sie noch nicht imstande sind, sich selbst zu lenken; weiter erstrecke sie sich nach dem „Rechte der Natur“ nicht.

Um zu Schillers Erstlingsdrama zurückzukehren: Karl Moors Räuberexistenz ist die Folge einer nicht gewollten >Emanzipation< im wörtlichen Sinn: hat doch der Vater wahrhaft die Hand von ihm abgezogen. Die Gründung der Räuberbande ist mithin eine aus Verzweiflung geborene Perversion aufgeklärter Mündigkeit! Dadurch dass der Vater die naturrechtlich gegebene und somit unauflösbare Liebesbeziehung zu seinem Sohn wie einen zivilrechtlichen Vertrag aufkündigt, verkehrt sich für Karl die Ordnung der Welt und der Natur. „Die Privaterbitterung gegen den unzärtlichen Vater wütet in einen Universalhass gegen das ganze Menschengeschlecht aus“, heißt es in Schillers Selbstrezension der Räuber. „Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, dass mir jemals etwas teuer war!“

Karls aus dem Vaterverlust geborener Universalhass wird erst vor dem Hintergrund der Liebesphilosophie voll verständlich, die sich der Autor der Räuber auf der Carlsschule zueigen gemacht hat und die auch den Gegenstand einer der Reden bildet, die der „Eleve Schiller“ zur „Feier des Geburts-Festes der Frau Reichsgräfin von Hohenheim auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht“ zu halten hatte: Die Tugend in ihren Folgen betrachtet. Die Rede ist geprägt von der religiösen Popularphilosophie der Zeit, die im Geiste der Newtonschen Attraktions- und Gravitationslehre die alte kosmologische Idee der großen Wesens- und Liebeskette, der chain of being, welche Gott, Natur und Mensch zusammenbindet, wiederbelebt hat. Schiller veranschaulicht die universale Attraktion der körperlichen und geistigen Elemente durch das Bild der Familie: „Liebe ist es, die aus der grenzenlosen Geisterwelt eine einzige Familie und so viel Myriaden Geister zu so viel Söhnen eines allliebenden Vaters macht.“ Die in eine Krise geratene Vaterordnung erfährt eine neue Legitimation – nicht mehr freilich als Herrschafts-, sondern als Liebesordnung, welche die Freiheit des einzelnen nicht beeinträchtigt, sondern Kind und Vater, Mensch und Gott in der Sympathie autonomer Wesen vereinigt. Das wird noch das Thema des Lieds An die Freude sein: „Brüder – überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen.“ Nicht mehr der allherrschende Vater, der den Welthaushalt lenkt, sondern der Vater der Liebe!

Immer wieder taucht hinter dieser überschwänglichen Liebesphilosophie ein apokalyptischer Gedanke auf: die Vorstellung, die universale Liebesanziehungskraft, das Gravitationsgesetz der Sympathie könnte sich erschöpfen. „Würde die Liebe im Umkreis der Schöpfung ersterben, - wie bald - wie bald würde das Band der Wesen zerrissen sein, wie bald das unermessliche Geisterreich in anarchischem Aufruhr dahintoben, ebenso wie die ganze Grundlage der Körperwelt zusammenstürzen, als alle Räder der Natur einen ewigen Stillstand halten würden, wenn das mächtige Gesetz der Anziehung aufgehoben worden.“

So wie nach der Carlsschulrede die Liebe, „die den Vater an den Sohn, den Sohn an den Vater fesselt“, mächtig auf die „Harmonie des Ganzen“ zu wirken vermag, so wird umgekehrt diese Harmonie zerstört, wenn sich das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn löst. Das ist die Situation der Räuber: die Abwendung des Vaters vom Sohn lässt für Karl Moor die Ordnung des Kosmos zerbrechen. Nun scheint wirklich das Gravitationsgesetz der Liebe außer Kraft gesetzt; und so stellt Karl dem Kosmos der universalen Sympathie die Welt des Universalhasses entgegen, das Räuberdasein, das eben jenen >anarchischen Aufruhr< verwirklicht, welcher das wahre Wesen einer Welt spiegelt, deren zusammenhaltende Liebes-Kraft sich zersetzt hat.

Die emphatische, Gemeinsamkeit stiftende Gewissheit: „Brüder – überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen“ – das Postulat der liebenden Vernunft – schlägt in den Räubern, dem dramatischen Gegenexperiment zur Schillerschen Liebesphilosophie, in das tödlich vereinsamende Bewusstsein des Vaterverlusts um. Die Vater-Sohn-Beziehung ist die mikrokosmische Repräsentation der Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch. Der Verlust des leiblichen bedeutet dementsprechend den Verlust des göttlichen Vaters. So wird es Karl Moor selbst in der Donauszene des dritten Akts bewusst: „Die ganze Welt eine Familie und ein Vater dort oben – Mein Vater nicht – Ich allein der Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir nicht der süße Name Kind.“ Der Vaterverlust als Gottesverlust – eine Vision, die schon auf Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei vorausweist. Hier wird das Zerreißen der Wesenskette durch die Zerstörung des Vater-Sohn-Bezugs zur metaphysischen Vaterlosigkeit radikalisiert, zum apokalyptischen Bild des vaterlosen Gottes-Sohns: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater“, verkündet Jesus „mit strömenden Tränen“ den gestorbenen Kindern.

In seinem letzten Jugenddrama Don Carlos hat Schiller die Vater-Sohn-Konfiguration zum erstenmal durchgehend politisch grundiert. König Philipp verkörpert als Herrscher und Vater die jede Liebe und Fürsorge für sein Volk wie für seinen Sohn ausschließende patria potestas. Er ist das extreme Gegenbild zum naturrechtlich begründeten Typus des zärtlichen Haus- und fürsorgenden Landes-Vaters. Die Unväterlichkeit des Königs im naturrechtlichen Sinne zeigt sich zumal in den Eingangsszenen des zweiten Akts in doppelter, in privater wie politischer Hinsicht: in der Weigerung nämlich, Don Carlos als Sohn sein Herz zu öffnen und ihn als Statthalter nach Flandern zu entsenden. „Sie schlossen mich, wie aus dem Vaterherzen, / Von Ihres Zepters Anteil aus“, hält Carlos dem Vater vor. Wenn er sich in der letzten Szene des Dramas von ihm radikal lossagt – „Ich schätz ihn nicht mehr. […] Er hat seinen Sohn verloren“ -, manifestiert sich ein >Ausgang aus der Unmündigkeit<, der mit Leiden bis an den Rand der Selbstzerstörung erkauft werden muss. Der Preis für die Emanzipation von der Verfügungsgewalt des Vaters ist das Opfer auch der natürlichen Bindung an ihn: „Ausgestorben ist in meinem Busen die Natur.“ Die Ermordung Posas auf Veranlassung Philipps II. hat Carlos jede Illusion einer gütigen Vaterschaft geraubt – ihn mit einem Schlage >mündig< gemacht. „Eine kurze Nacht / Hat meiner Jahre trägen Lauf beflügelt, / Frühzeitig mich zum Mann gereift.“

Hier deutet sich schon die tragische Problematik an, die im Zentrum von Schillers dramatischem Hauptwerk: der Wallenstein-Trilogie stehen wird. Max Piccolomini verliert hier gleich zwei Väter, den leiblichen und den geistigen, durch deren „Doppelschuld“: weil beide – Octavio Piccolomini und Wallenstein – im Spiel der Macht ihre Integrität verloren haben, welche die Basis für das unbedingte Vertrauen des jungen Idealisten zu ihnen war. Der Verrat Wallensteins, die Erkenntnis, dass dieser nicht bereit ist, die persönliche Macht an das von Max ersehnte politische Ideal zu wagen, bedeutet für ihn den Verlust eines Vaters, der Wallenstein für ihn bis dahin wahrhaft gewesen ist. „Du machst mich heute mündig«, verkündet Max seinem General, nachdem dieser selbst ihm mit beschönigenden Worten seinen Hochverrat mitgeteilt hat. Maxens Worte sind eine unmittelbare Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung. Durch Wallenstein ist Max wahrhaft >aufgeklärt<, d. h. zum Ausgang aus der Unmündigkeit verholfen worden: „Denn bis auf diesen Tag war mirs erspart, / Den Weg mir selbst zu finden und die Richtung“ – sich also seines Verstandes ohne fremde Leitung zu bedienen. „Zum ersten Male heut verweisest du / Mich an mich selbst.“ Zum ersten Mal erfährt Max, dass die Weisung Wallensteins, der er sich bisher unbedingt überlassen zu können glaubte, nicht mit dem „Herzen“ als der autonomen moralischen Urteilskraft übereinstimmt. Maxens nunmehr aufgeklärtes ist aber ein unglückliches Bewusstsein, es verstrickt ihn in einen tragischen Konflikt:

O! welchen Riss erregst du mir im Herzen!

Der alten Ehrfurcht eingewachsnen Trieb

Und des Gehorsams heilige Gewohnheit

Soll ich versagen lernen deinem Namen?

[ ... ]

Die Sinne sind in deinen Banden noch,

Hat gleich die Seele blutend sich befreit!

 

Die >blutend befreite< Seele - mit diesem Bild, mit diesen beiden letzten Versen hat Schiller den Preis der Aufklärung bestürzend zum Ausdruck gebracht. In ihrer Dialektik ist Maxens Tragödie begründet.

Schiller kann sich den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, so scheint es, kaum anders denn als Tragödie vorstellen. In seinem gesamten dramatischen Werk gibt es nur ein einziges Beispiel für einen emanzipatorischen Prozess, der nicht unter tragischen Vorzeichen abläuft: Wilhelm Tell. Ein solch untragisches Exempel war für Schiller freilich nur im Rahmen eines von den realen geschichtlichen Gegebenheiten abgehobenen mythisch-utopischen Dramas denkbar, das den Versuch darstellt, die Geschichte zu korrigieren, ihren Verlauf so zu konstruieren, wie er sich in Wirklichkeit nicht ereignet hat und nach Schillers Überzeugung auch nicht ereignen kann. Das hat ihn das welterschütternde Ereignis seiner Zeit gelehrt: die Französische Revolution. Auch sie ist eine Tragödie vom verlorenen Vater in gewaltigen geschichtlichen Dimensionen. Ihre terroristischen Exzesse haben gezeigt, so schreibt Schiller in seinem Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 13. Juli 1793, „dass das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen“, aus seiner Unmündigkeit noch nicht herausgetreten ist. Die Aufklärer haben den Menschen allzu selbstverständlich als vernünftiges Wesen vorausgesetzt, nicht einkalkuliert, dass er weit mehr durch „Empfindungen“ als durch „Begriffe“ zum Handeln bestimmt wird. Die Empfindungswelt, die Sinnlichkeit befindet sich „unter fremder Vormundschaft viel zu wohl [...], als dass sie die Epoche der Mündigkeit nicht so weit als möglich zurücksetzen sollte.“ Die Bindung Max Piccolominis an Wallenstein ist dafür das deutlichste Beispiel: „Die Sinne sind in deinen Banden noch …“

Der Irrtum der Französischen Revolution bestand nach Schiller darin, den theoretischen Entwurf einer nach reinen Vernunftprinzipien organisierten politischen Ordnung unbekümmert um die sinnliche Natur des Menschen in die Tat umzusetzen. Sie setzte seine Mündigkeit voraus, obwohl er sich in einer Entwicklungsphase befand, in der er sich seines Verstandes noch gar nicht ohne fremde Leitung bedienen konnte. Man hatte ihm gewissermaßen den Vater geraubt, ohne ihn doch auf eigene Füße zu stellen. An eben diesem Punkt setzt Schillers Programm der „ästhetischen Erziehung“ in seinen berühmten Briefen an. Die ästhetische Erziehung will den Menschen zur Mündigkeit führen, doch so, dass er seine sinnliche Natur, seine Empfindungswelt, die noch in den Banden des Aberglaubens, des Vorurteils, der physischen Gewohnheit und Annehmlichkeit lebt, Grad um Grad auf die Selbstbestimmung einstimmt, ohne den Verlust der fremden Leitung, der väterlichen Führung stärker zu empfinden als den Gewinn der Eigenständigkeit des Verstandes.

In seinem letzten abgeschlossenen Drama Wilhelm Tell hat Schiller ein einziges Mal versucht, das Programm der ästhetischen Erziehung – den Weg in einen aufgeklärten Staat ohne tragische Dialektik – auch auf der Bühne einzulösen, das Ende einer Vaterwelt ohne Opfer des Herzens darzustellen. Auf der einen Seite steht hier – im Falle zumal des Titelhelden - die väterliche Fürsorge als die >heilige< Stütze der Naturinstitution der Familie, auf der anderen Seite das durch die Fremdherrschaft der habsburgischen Vögte entfremdete patriarchalische Regiment des Kaisers, das sich als Destruktion und Pervertierung der naturrechtlich begründeten Vaterordnung darstellt.

Die Freveltaten der Vögte sind eine Serie von Angriffen auf die Integrität der Familie, insbesondere auf die väterliche Schutzpflicht, so die Blendung des alten Melchthal – des Vaters, der aufgrund seiner hausväterlichen Fürsorgepflicht für seinen Sohn eingestanden ist –, und der wahrhaft >diabolische<, die Naturordnung pervertierende Befehl Geßlers, Tell solle auf das Haupt des eigenen Kindes schießen. Durch diesen Befehl zwingt Geßler Tell zu der gleichen Unväterlichkeit, deren sich das patriarchalische Regiment der Habsburger schuldig gemacht hat. (Geßler ist bezeichnenderweise kinderlos, und alle väterlichen Instinkte gehen ihm ab.) Tells Tyrannenmord, als Notwehr und Satisfaktion der beleidigten Natur, erfolgt symbolisch zugespitzt in dem Moment, da Geßler sich weigert, den Kindern Armgards den ohne Richterspruch eingekerkerten Vater zurückzugeben. Die Tötung Geßlers wird als Rächung der „heiligen Natur“ dem Vatermord Parricidas als deren Schändung rigoros entgegengesetzt.

Dieser Vatermord ist jedoch seinerseits die symbolische Strafe dafür, dass der Kaiser kein echter „Vater seiner Völker“ gewesen ist. Die despotische Pervertierung der väterlichen Fürsorgepflicht und im Falle Melchthals und Tells die zynische Schändung der Vaterordnung wirken auf ihre Urheber zurück. Die patriarchalische Regierung führt sich selbst ad absurdum. Aus den Untertanen einer väterlichen Herrschaft werden Bürger eines brüderlichen Gemeinwesens. Auch da, wo patriarchalische Herrschaftsbeziehungen noch in naturhafter Integrität vorwalten, ist doch ihr Ende nahe. „Und vaterlos lass ich euch alle, alle zurück“, klagt der sterbende Attinghausen. Dass er indessen keine unmündigen Kinder zurücklässt, sondern mündige Bürger, welche der väterlichen Führung nicht mehr bedürfen, erfasst er, als er von dem ohne Unterstützung des Adels zustande gekommenen Rütli-Bund erfährt, mit seherischer Klarheit: „Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr, / Getröstet können wir zu Grabe steigen, / Es lebt nach uns – .“

Der Versuch der Ablösung der patriarchalischen durch eine brüderliche Ordnung vollzieht sich im Wilhelm Tell – wie erwähnt zum ersten und letzten Mal in Schillers dramatischer Dichtung – ohne tragisches Vorzeichen, ohne dialektischen Umschlag in neuen Despotismus, ohne Verzerrung seiner ursprünglichen Intentionen. Schillers traumatische Erfahrung des Vaterverlusts – im Wilhelm Tell ist sie ein einziges Mal poetisch bewältigt.

 

 

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* Zum Autor:

Professor Dieter Borchmeyer ist Ordinarius am germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Borchmeyer wurde 1941 in Essen geboren, er hat sich einen Namen gemacht als Goethe- und Wagner-Forscher.

 

 

 

Bücher:

- Goethe, der Zeitbürger. Hanser Verlag.

- (mit anderen) Richard Wagner und die Juden. Metzler Verlag.

- Martin Walser und die Öffentlichkeit. Suhrkamp Verlag.

- Richard Wagner. Insel Verlag.

 

 

 

Universität Heidelberg

Prof. Borchmeyer, Dieter

Dr. phil., Ordinarius

Neuere deutsche Literaturgeschichte unter Einbeziehung der Theaterwissenschaft

Germanistisches Seminar

Tel.: 06221 / 54-3211

Osterwaldstr. 53, 80805 München

Tel.: 089 / 364461

 

 

 

 


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