Hexenjagd


 

 



Entscheidung vertagt. Die Revisionshauptverhandlung im Strafverfahren gegen Christian Dettmar

04.09.2024

Matthias Guericke

Am 28.08.2024 fand vor dem 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe die Revisionshauptverhandlung im Verfahren gegen Richter Christian Dettmar statt. Dass im Revisionsverfahren eine Hauptverhandlung stattfindet, ist eher selten, war hier aber vom Generalbundesanwalt, der Staatsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, selbst beantragt worden. Der Autor hat die Verhandlung im Saal verfolgt.1

Zur Erinnerung: Richter Dettmar war am 23.08.2023 vom Landgericht Erfurt zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft Erfurt hatte in ihrem Plädoyer zuvor eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren gefordert, die von Gesetzes wegen (§ 56 StGB) nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Sie wollte den Angeklagten im Gefängnis sehen. Gegen das Urteil legte sodann nicht nur der Angeklagte, sondern auch die Staatsanwaltschaft Erfurt Revision ein.

Fast genau ein Jahr später nun die Revisions­haupt­verhandlung. In der Revisionsinstanz geht es nur um Rechtsfragen, nämlich darum, ob in dem erstinstanzlichen Prozess Gesetzesnormen über das Verfahren verletzt wurden und das Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht und/oder ob die von dem Gericht getroffenen Feststellungen zur Tat den Schuldspruch und den Strafausspruch tragen können, das Gericht also auf den von ihm festgestellten Sachverhalt das Recht zutreffend angewandt hat. Ersteres wird von der Partei, die Revision eingelegt hat, dem Revisionsführer, mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, letzteres mit der Sachrüge. Neue Tatsachenerhebung, etwa durch die Vernehmung weiterer Zeugen oder die Einholung von Sachverständigengutachten, findet dagegen – anders als in der Berufungsinstanz – in der Revisionsinstanz nicht statt. Kommt das Revisionsgericht zu der Auffassung, dass weitere Feststellungen erforderlich sind, um die Schuldfrage zu beantworten, hebt es das Urteil auf und verweist das Verfahren an das Landgericht zurück, damit dieses in einem – im Grundsatz wieder bei null beginnenden, aber an die Vorgaben der Revisionsentscheidung gebundenen – neuen erstinstanzlichen Prozess diese Tatsachenerhebung nachholt.

In der Revisionshauptverhandlung kann es also für den oder die Revisionsführer nur darum gehen, rechtliche Argumente vorzutragen, mit denen der bereits in Schriftsätzen vorgetragene Angriff auf das Urteil weiter untermauert wird. Das Gericht selbst kann ihm ungeklärt oder strittig erscheinende Rechtsfragen zur Diskussion stellen und die Auffassung der Parteien dazu erfragen. Da die Parteien in aller Regel bereits im Vorfeld umfangreich schriftlich vorgetragen haben, ist in der Verhandlung für die informierten Beteiligten nicht unbedingt Neues zu erwarten.

Aus diesen Umständen erklärt sich, dass Revisionshauptverhandlungen meist ruhig, sachlich und sehr respektvoll ablaufen. Emotionale Auftritte, die man in erstinstanzlichen Verhandlungen erleben kann, haben hier eher keinen Ort. Auch die Revisionsverhandlung am 28.08.2024 entsprach diesen Erwartungen. Nach einem einführenden Bericht des Berichterstatters des Senats, der im Wesentlichen nur das erstinstanzliche Urteil zusammenfasste, trug Rechtsanwalt Dr. Strate, der Wahlverteidiger des Angeklagten, etwa eine Viertelstunde lang rechtliche Überlegungen vor, wobei er sich auf die Frage, ob Behörden Dritte i. S. v. § 1666 Abs. 4 BGB sein können, fokussierte. Der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Tuppat, ergänzte diese Ausführungen mit einem knappen Hinweis auf die nach dem Urteil des Landgerichts Erfurt zwischenzeitlich veröffentlichten Protokolle des RKI-Krisenstabes (RKI-Files), die die Bewertung der Coronamaßnahmen durch den Angeklagten in seinem strittigen Beschluss vom 08.04.2021 bestätigt hätten. Im Anschluss erhielt der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Staatsanwalt beim BGH Dr. Handschell, das Wort. Es folgten Fragen von mehreren Mitgliedern des Senats an Dr. Strate, die auf dessen Ausführungen Bezug nahmen und Fragen an Dr. Handschell. Nach einer Stunde war die Verhandlung auch schon vorbei.

Das Interessanteste war zweifellos der Antrag und die – in der Verhandlung allerdings nur angedeuteten – rechtlichen Erwägungen des Generalbundesanwalts. Denn der Generalbundesanwalt vertrat – im Unterschied zur Staatsanwaltschaft Erfurt – die Auffassung, dass die vom Landgericht Erfurt in seinem Urteil vom 23.08.2023 getroffenen Feststellungen den Schuldspruch nicht tragen können, das heißt, dass das Landgericht Erfurt den Angeklagten aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen nicht hätte verurteilen dürfen. Das kann man durchaus als Paukenschlag bezeichnen. Gleichzeitig vertrat der Generalbundesanwalt aber die Auffassung, dass die Möglichkeit einer Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung nicht ausgeschlossen sei. Dazu müssten aber weitergehende Feststellungen zum subjektiven Tatbestand, d. h. zur Frage des Vorsatzes des Angeklagten, getroffen werden, weshalb er Aufhebung und Rückverweisung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Erfurt beantragte.

Um dies im Detail zu verstehen, muss man die zuvor eingereichte schriftliche Stellungnahme des Generalbundesanwalts kennen. Dort wird folgende Rechtsauffassung vertreten:

Das Landgericht habe bei seinem Urteil allein auf einen Verstoß des Angeklagten gegen die Pflicht zur Selbstanzeige gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 FamFG in Verbindung mit § 42 Abs. 1, Abs. 2, § 48 ZPO abgestellt. Dieser Verstoß liege zwar tatsächlich vor, er stelle aber keinen elementaren Rechtsverstoß im Sinne der Rechtsprechung des Bundegerichtshofs zu § 339 StGB dar. Die Verletzung der Pflicht zur Selbstanzeige habe keine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil eines Verfahrensbeteiligten zur Folge gehabt.2 Es komme aber hinzu, dass der Angeklagte mit dem von ihm eingeleiteten Verfahren die Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte verletzt habe und die Summe der beiden Rechtsverstöße könnte einen für eine Rechtsbeugung ausreichenden elementaren Rechtsverstoß ergeben.3 Allerdings habe die Strafkammer keine Feststellungen zum Vorsatz hinsichtlich der Rechtswegzuständigkeit getroffen, was (nach Rückverweisung) nachzuholen sei.

Was ist von diesen Darlegungen zu halten? – Die Frage, ob Richter Dettmar eine Selbstanzeige hätte anbringen müssen, ist auf dieser Webseite andernorts bereits intensiv erörtert worden.4 Dies soll hier nicht wiederholt werden. Ebenso ist die Frage der Rechtswegzuständigkeit in allen Aspekten ausführlich dargestellt worden.5 Zu dieser Frage dennoch einige Ergänzungen:

Der Generalbundesanwalt vermischt bei dem Vorwurf der Zuständigkeitsanmaßung – wie schon zuvor das Oberlandesgericht Jena und der 12. Zivilsenat des BGH – die Frage der Rechtswegzuständigkeit mit der Frage, ob Dritte im Sinne des § 1666 BGB auch Behörden sein können. Dass das von Amts wegen eingeleitete Kinderschutzverfahren nach § 1666 BGB ein familiengerichtliches Verfahren ist, für das nur die Familiengerichte zuständig sind, ist geradezu tautologisch. Das hat letztlich auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 21.06.2021 (6 AV 4/21) ausgesprochen, was vom Generalbundesanwalt jetzt aber genauso übergangen wurde wie zuvor schon vom 12. Zivilsenat des BGH (Beschluss vom 03.11.2021, XII ZB 289/21, NZFam 2022, 63).6 Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche Kompetenzen sich für den Familienrichter aus § 1666 BGB ergeben, insbesondere, ob er auch Gebote und Verbote gegenüber Trägern hoheitlicher Gewalt aussprechen darf, diese also Dritte i. S. v. § 1666 Abs. 4 BGB sein können.7 Diese Frage stand, wie erwähnt, auch im Zentrum des Vortrages der Verteidigung in der Revisionsverhandlung. Rechtsanwalt Dr. Strate versuchte dabei, den Gedanken stark zu machen, dass es nicht plausibel sei, dass das maßgeblich den Familiengerichten anvertraute staatliche Wächteramt über das Kindeswohl dort eine strikte Grenze finden soll, wo Träger hoheitlicher Gewalt kindeswohlgefährdend handeln.

Ein Rechtsverstoß, an den ein Rechtsbeugungsvorwurf anknüpfen kann, setzt als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, voraus, dass sich eine getroffene Entscheidung als unvertretbar8 bzw. – bei Verfahrensverstößen – ein prozessuales Handeln des Richters als zweifellos rechtswidrig erweist. Die Rechtswidrigkeit muss evident sein. Wo noch diskutiert wird, ist Rechtsbeugung von vornherein ausgeschlossen. Unvertretbar ist eine Rechtsauffassung aber nicht etwa schon dann, wenn sie nicht von der Mehrheit der Gerichte geteilt wird oder wenn der Bundesgerichtshof sie abgelehnt hat. Ein Amtsgericht kann ohne weiteres entgegen der Rechtsauffassung des BGH entscheiden, es sollte nur Gründe dafür vorbringen können. (Allerdings ist das Risiko, dass die Entscheidung in der nächsten Instanz aufgehoben wird, dann selbstverständlich hoch).

Der 12. Zivilsenat hat die Frage, ob Dritter i. S. v. § 1666 Abs. 4 BGB auch Behörden sein können, in seinem Beschluss vom 03.11.2021 mit der Begründung verneint, dies würde einen Eingriff in das Gewaltenteilungsprinzip bedeuten, für den es an der erforderlichen Rechtsgrundlage fehle. Insbesondere legitimierten die §§ 1666, 1666a BGB i. V. m. dem staatlichen Wächteramt einen solchen Eingriff nicht. Dass dieses Argument keinesfalls zwingend ist und am Ende sogar zirkulär wird, ist nicht zu übersehen. Legislative, Exekutive und Judikative sind nicht strikt getrennt, sondern vielfältig miteinander verschränkt. Die Verwaltungsgerichte sind explizit dazu berufen, in staatliches Handeln durch gerichtliche Entscheidungen einzugreifen und auch der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist das nicht fremd, wie das gerichtliche Bußgeldverfahren zeigt. Man kann es also so sehen wie der Bundesgerichtshof, aber auch anders. Eindeutig wäre die Sache nur, wenn in § 1666 Abs. 4 BGB auf Satz 1 noch der Satz: „Behörden und andere Träger hoheitlicher Gewalt sind nicht Dritte im Sinne dieser Vorschrift“ folgen würde.

Dem „Zuständigkeitsstreit“ ist damit unter keinem der beiden zu differenzierenden Gesichtspunkte der Vorwurf eines Rechtsverstoßes zu entnehmen, der zu der vom Generalbundesanwalt als nötig – und zulässig – erachteten Summenbildung mit dem Vorwurf der unterlassenen Selbstanzeige herangezogen werden könnte, um das erforderliche Gewicht für einen Rechtsbeugungsvorwurf zu erreichen. Auf die – nach Auffassung des Generalbundesanwaltes – im Urteil der Strafkammer unterbliebenen Feststellungen zum subjektiven Tatbestand kann es daher nicht ankommen, so dass für eine Rückverweisung kein Grund besteht.

Ob der Senat bei seiner Entscheidungsfindung die Stellungnahme des Generalbundesanwalts für maßgeblich erachtet oder ob er bereits von der entgegenstehenden Argumentation der Verteidigung überzeugt ist, ist für Außenstehende nicht zu beurteilen. Der Senat hat in der Verhandlung – jedenfalls nach Einschätzung des Autors – insoweit kaum Tendenzen erkennen lassen. Anders als in den meisten Fällen erging das Urteil auch nicht am Tag der Revisions­haupt­verhandlung, sondern die Entscheidung wurde vertagt. Erst am 20. November soll das Urteil verkündet werden.
Endnoten

1
Der Beitrag bemüht sich um Verständlichkeit auch für Leser, die nicht vom Fach sind. Er setzt aber die beiden auf dieser Webseite früher veröffentlichten Artikel zur Anklage und zum Urteil in dem Verfahren gegen Christian Dettmar zumindest in Teilen voraus.
2
Der Generalbundesanwalt vermischt hier tatbestandsmäßige Handlung und tatbestandsmäßigen Erfolg: Dass kein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, begründet er gleich im nächsten Satz damit, dass keine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil eines Verfahrensbeteiligten vorgelegen habe. Dogmatisch richtig muss die Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß gegeben ist, unabhängig von der Frage nach dem Vor- oder Nachteil für eine Partei beantwortet werden. Erst nachdem sie positiv beantwortet wurde, stellt sich die Frage nach dem tatbestandsmäßigen Erfolg.
3
Ob eine solche Summenbildung möglich ist und damit aus zwei (oder mehreren) nicht ausreichend gewichtigen Rechtsverstößen ein „elementarer Rechtsverstoß“ werden kann, ist äußerst zweifelhaft; abgelehnt in Nur ein Schwächeanfall der Justiz? Noch einmal: Das Urteil des Landgerichts Erfurt gegen Christian Dettmar, Abschnitt 4.
4
Nur ein Schwächeanfall der Justiz? Noch einmal: Das Urteil des Landgerichts Erfurt gegen Christian Dettmar, Abschnitt 3.
5
Die Anklage der Staatsanwalt­schaft Erfurt gegen den Weimarer Familienrichter Christian Dettmar. Eine kritische Analyse, Abschnitt 3.
6
Ebd.
7
Ebd., Unterabschnitt „Nachtrag: Die inhaltliche Reichweite des § 1666 Abs. 4 BGB“.
8
BGH, 29.11.2022, 4 StR 149/22, juris, Rn. 14.

BGH, Rechtsbeugung, Rechtsweg



https://netzwerkkrista.de/2024/09/04/entscheidung-vertagt/


8 Kommentare

Obiter Dicdum auf 7. September 2024 bei 12:00 #

“Wie wird das Bundesverfassungsgericht jetzt entscheiden?

Juristisch hat das Bundesverfassungsgericht jetzt kaum mehr Spielraum. Aber es sollte den Schwarzen Peter der Letztentscheidung als goldene Brücke sehen, die eigene Restglaubwürdigkeit wieder aufzubauen und die gänzlich entgleiste Corona-Debatte wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das geht nur, wenn das Bundesverfassungsgericht über sich und auch über die Sachfrage hinauswächst.

Ohne Fremdschutz der Impfung war der Impfzwang eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Das Tätigkeitsverbot ist eine subjektive Berufswahleinschränkung, die ebenfalls nicht durch wichtige Gemeinwohlbelange (Fremdschutz entfällt) gerechtfertigt ist. Doch es geht nicht nur darum, wie das Bundesverfassungsgericht jetzt entscheidet, sondern in welcher Form das geschieht.

Die Erwartungen sind hoch: Die Corona-Jahre offenbarten eine Überforderung und ein Versagen des Bundesverfassungsgerichts. Sowohl das Urteil zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht als auch besonders das Urteil zur Bundesnotbremse gelten als Tiefpunkte der Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte. Aus diesem Tief muss sich das höchste Gericht nun erst herausarbeiten. Das Bundesverfassungsgericht ist jetzt gefragt, das Verhältnis von rechtlicher Entscheidung und wissenschaftlicher Evidenz neu zu kalibrieren, schlicht Orientierung zu schaffen.

Darin liegt eine Chance, das Tor der Debatte über staatliche Verfehlungen aufzustoßen und endlich die längst überfällige Aufarbeitung anzugehen. Das Bundesverfassungsgericht kann diesen Vorlagebeschluss aus Osnabrück als Basis nehmen, um grundsätzliche und überfällige Ausführungen auch über die Streitfrage hinaus zu liefern (obiter dictum). In einem Verwirrspiel der Verantwortungslosigkeit braucht es nun ein Machtwort. Falls dieses ausbleibt, droht ein Fiasko. Das Bundesverfassungsgericht muss sich jetzt entscheiden, was es retten will: Die eigene Restglaubwürdigkeit oder ein doktrinäres Corona-Narrativ. Beides gleichzeitig geht nicht.

Es genügt in Deutschland scheinbar nicht, Gesetze und Prinzipien zu haben und zu kennen. Es braucht immer noch eine Autorität, die sie ausspricht. Autoritätsspruch ersetzt Autoritätsspruch. Das ist noch nicht der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, aber vielleicht der Beginn eines heilsamen Erwachens aus einem Pandemiealbtraum.”

https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/beendet-das-bundesverfassungsgericht

 

 

 


 

 

 

 

Nur ein Schwächeanfall der Justiz? Noch einmal: Das Urteil des Landgerichts Erfurt gegen Christian Dettmar

15.12.2023

Das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte hat sich bereits in zwei Beiträgen zum Strafverfahren gegen den Weimarer Amtsrichter Christian Dettmar geäußert: Der erste Artikel analysierte die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Erfurt (im Folgenden: Artikel zur Anklage), der zweite kommentierte kurz nach Verkündung das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 23.08.2023 (im Folgenden: Artikel zur Urteilsverkündung). Zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Rechtsbeugung, so lautete das Urteil der 2. Strafkammer des Landgerichts, das nicht rechtskräftig ist. Inzwischen liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor.1 Dies ist der Anlass für diesen Beitrag. In ihm soll die Argumentation der Kammer nachgezeichnet und der Kritik unterzogen werden. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, wie ein solches Urteil überhaupt möglich ist: Ist es allein durch Unvermögen zu erklären oder muss man auch nach anderen Gründen suchen?

Der Beitrag setzt die beiden früheren Artikel inhaltlich voraus. Insbesondere werden rechtliche Erläuterungen zum Tatbestand des § 339 StGB, die in dem Artikel zur Anklage gegeben wurden, hier nicht noch einmal wiederholt.

1. Überblick

Das schriftliche Urteil des Landgerichts Erfurt umfasst 139 Seiten. Zum Aufbau eines Strafurteils muss man Folgendes wissen: Es besteht aus Rubrum (Angaben der Verfahrensart, der Verfahrensbeteiligten, ihrer Rollen, der Verhandlungstage u. a.), Urteilstenor (= Urteilsformel) und den Gründen. Die Gründe sind üblicherweise in fünf Abschnitte unterteilt: (1) persönliche Verhältnisse des Angeklagten, (2) Sachverhalt, von dem das Gericht ausgeht („Was ist passiert?“), (3) Beweiswürdigung („Woher weiß das Gericht das?“), (4) rechtliche Würdigung („Welche Straftatbestände sind damit erfüllt?“), (5) Strafzumessung („Wie ist die Tat zu ahnden?“).

Die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten werden in dem Urteil auf einer Seite geschildert, die Darstellung des Sachverhalts nimmt 44 Seiten ein, die Beweiswürdigung sogar 77 Seiten. Minutiös werden hier die Einlassung des Angeklagten, die Aussagen von Zeugen, der Inhalt von Schriftstücken, E-Mails und SMS wiedergegeben. Die rechtliche Würdigung ist mit 11 Seiten dagegen eher knapp, die Strafzumessung findet auf 4 Seiten Platz. Die Feststellungen zum Sachverhalt müssen hier nicht explizit erörtert werden, weil das äußere Geschehen zwischen Gericht und Verteidigung im Wesentlichen unstrittig ist.2 Strittig ist die rechtliche Würdigung, weshalb sich der Beitrag vor allem darauf konzentriert.

2. Anklagevorwürfe, die den Tatbestand nicht erfüllen

Wie in dem Artikel zur Anklage dargelegt,3 hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten eine Vielzahl von (angeblichen) Rechtsverletzungen vorgeworfen, die alle den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen sollen. Bis zum Schluss der Hauptverhandlung hat sie daran keine Abstriche gemacht. Auch der Vorwurf, Rechtsbeugung liege vor, weil der Angeklagte gewusst habe, dass (angeblich) die Verwaltungsgerichte zuständig gewesen seien, wurde bis zum Plädoyer aufrechterhalten (und auch in der Begründung der von ihr eingelegten Revision wiederholt).4

Die Kammer erklärt auf knapp eineinhalb Seiten, dass nach ihrer Auffassung sämtliche von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe bis auf einen nicht den Tatbestand des § 339 StGB erfüllen. Den Zuständigkeitsvorwurf räumt sie unter Verweis auf die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das Oberlandesgericht ab und die anderen Vorwürfe mit der Begründung, dass jeweils keine für den Tatbestand der Rechtsbeugung ausreichend schwerwiegende Rechtsverletzung (ein „elementarer Rechtsverstoß“) vorliege.

3. Der Vorwurf der Befangenheit

a. Unterlassen der Selbstablehnung als tatbestandsmäßige Handlung oder Befangenheit an sich?

Der einzige Vorwurf, der der Kammer zufolge von der Anklage übrigbleibt und der die Verurteilung wegen Rechtsbeugung tragen soll, ist der der Voreingenommenheit und Befangenheit. Der einleitende Satz dieses Teils der Begründung lautet: „Der Angeklagte hat sich der Rechtsbeugung jedoch dadurch schuldig gemacht, indem (sic!) er die verfassungsrechtlich gebotene richterliche Unabhängigkeit aus sachfremden Motiven missachtet hat.“ (S. 125)

Abgesehen davon, dass sachangemessene Motive für eine Missachtung der richterlichen Unabhängigkeit nicht vorstellbar sind,5 kann das bloße Fehlen gebotener Achtung niemals einen Straftatbestand erfüllen. Im geltenden Strafrecht wird tatbestandsmäßiges Verhalten, das in einem Tun oder einem Unterlassen bestehen kann, bestraft. Gedanken, Gefühle, Überzeugungen sind nicht strafbar.

Ganz so meint die Kammer das auch nicht, wenngleich sie bei der Frage des Vorsatzes (dazu unter Abschnitt 5 mehr) nur prüft, ob Vorsatz bezüglich der (angeblichen) Befangenheit bestand, also die Befangenheit als Tathandlung behandelt. In dem dem zitierten Satz nachfolgenden Satz wird vielmehr deutlich, dass sie der Auffassung ist, die Rechtsbeugung bestehe darin, dass der Angeklagte das Verfahren trotz seiner Befangenheit geführt und entschieden habe. Die gesamte richterliche Tätigkeit bei dem Verfahren soll gewissermaßen den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen, weil sie im Zustand der Befangenheit erfolgt sei. Auch das ist aber falsch und zwar aus dem einfachen Grund, dass es keine Rechtspflicht für Richter gibt, bei der Leitung eines Verfahrens unbefangen zu sein bzw. keinen Anlass für eine Besorgnis der Befangenheit zu liefern. Dies klingt vielleicht für den juristischen Laien überraschend, erklärt sich aber damit, dass zum einen in vielen Fällen der Richter die Besorgnis der Befangenheit gar nicht selbst in der Hand hat, etwa wenn sie sich aus persönlichen Beziehungen zu den Beteiligten ergibt (Beispiel: zu einer Partei des Verfahrens besteht eine enge Freundschaft), und es zum anderen kein „Selbstablehnungsrecht“ gibt, das es einem Richter ermöglichen würde, sein Ausscheiden aus einem Verfahren selbst herbeizuführen.

Die einzige Pflicht, die insoweit besteht, ist die zur Selbstablehnung (hier gem. § 6 FamFG i. V. m. § 48 ZPO).6 Wird diese von dem darüber zur Entscheidung berufenen Richter als begründet beurteilt, scheidet der Richter aus dem Verfahren aus. Wird sie aber für unbegründet erachtet, muss der Richter das Verfahren weiterführen und zwar auch dann, wenn die Entscheidung falsch ist, weil tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit besteht.

Als Rechtsverletzung i. S. v. § 339 StGB kommt danach allein das Unterlassen einer gebotenen Selbstablehnung in Betracht. Sieht man hier klar, wird eine wesentlich sachlichere Betrachtung möglich, als wenn – wie im Urteil – mit hoher moralischer Aufladung das gesamte Verfahren vom Beginn bis zur Entscheidung zur Rechtsbeugungshandlung erklärt wird.

Zwar führt die Kammer auch an, dass der Angeklagte (nach ihrer Auffassung) verpflichtet gewesen wäre, eine Selbstanzeige anzubringen, aber das soll nur ein untergeordneter Teil der Tat sein. Sie meint, weil der Angeklagte nicht nur die Selbstanzeige unterlassen habe, sondern auch das Verfahren geführt und entschieden habe, liege der Schwerpunkt auf einem aktiven Tun und nicht auf einem Unterlassen (S. 127).7 Das ist, wie dargelegt, falsch. Es kommt grundsätzlich nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht. Das hätte wiederum eine Absenkung der Mindeststrafe – eine sog. Strafrahmenverschiebung – von einem Jahr auf 3 Monate Freiheitsstrafe (§ 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und über § 47 Abs. 2 StGB sogar die Verhängung einer Geldstrafe ermöglicht.8

b. Rechtsbeugung durch Unterlassen der Selbstablehnung

Man muss an dieser Stelle noch einmal einen Schritt zurücktreten, um die Besonderheiten des Vorwurfs der Rechtsbeugung durch Unterlassen einer Selbstablehnung in den Blick zu bekommen.

Die Behauptung der Besorgnis der Befangenheit ist in Gerichtsverfahren, vor allem in Strafverfahren keine Seltenheit. Die meisten Ablehnungsanträge von Verteidigern haben zwar keinen Erfolg, aber es gibt selbstverständlich auch Fälle, in denen die Besorgnis der Befangenheit für begründet erklärt wird. In all diesen Fällen könnte man fragen, ob der betreffende Richter nicht verpflichtet gewesen wäre, noch vor der Ablehnung durch einen anderen Beteiligten eine Selbstablehnung bzw. Selbstanzeige anzubringen. Und da er dies offensichtlich nicht getan hat, würde sich nach der Logik der Kammer (und der Staatsanwaltschaft) stets die Frage eines Verdachts der Rechtsbeugung durch Unterlassen der Selbstanzeige stellen.

Tatsächlich wird die Frage aber in der Praxis so gut wie nie gestellt. In der Rechtsprechung und in der Kommentarliteratur zu § 48 ZPO und § 30 StPO wird bei den Folgen einer pflichtwidrig unterlassenen Selbstablehnung ausschließlich erörtert, ob dies in der Revisions- oder Berufungsinstanz gerügt werden kann, und es wird außerdem darauf hingewiesen, dass eine pflichtwidrig unterlassene Selbstablehnung für sich allein oder in der Zusammenschau mit weiteren Umständen ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen könne.9 Nirgendwo wird hier erörtert, dass eine pflichtwidrig unterlassene Selbstablehnung als Rechtsbeugung strafbar sein könnte.

Soweit aus den veröffentlichten Entscheidungen zu § 339 StGB ersichtlich, gibt es nur einen einzigen Fall, bei dem ein Richter bei unterlassener Selbstablehnung wegen Rechtsbeugung angeklagt wurde:10 Bei diesem Fall hatte ein Richter als Gefälligkeit für einen Bekannten, der einen Zivilprozess am Amtsgericht führte, ein Ablehnungsgesuch gegen den für das Verfahren zuständigen Amtsrichter verfasst. Nachdem das Ablehnungsgesuch von dem dafür zuständigen Richter als unbegründet verworfen worden war, verfasste er auch die Beschwerde dagegen. Als die Beschwerde dann aufgrund des Geschäftsverteilungsplanes (was nicht vorhersehbar war) in seinem Dezernat landete, unterließ er die Selbstablehnung und entschied selbst über die Beschwerde. Dass dies ein wirklich schwerwiegender Fall richterlichen Fehlverhaltens ist und der Richter unter keinen, wirklich keinen denkbaren Umständen die Selbstablehnung hätte unterlassen dürfen, dürfte unter Richtern und Staatsanwälten Konsens sein.11 Die Verurteilung wegen Rechtsbeugung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten auf Bewährung wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt.12

Dass dies der einzige Fall einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung wegen unterlassener Selbstanzeige ist, zeigt zugleich, dass nur im absoluten Ausnahmefall eine pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige das Gewicht einer für den Tatbestand des § 339 StGB erforderlichen elementaren Rechtsverletzung haben kann.

Dies ergibt sich auch daraus, dass darauf zu achten ist, dass eine Rechtsverletzung, die für sich genommen nicht das Gewicht eines elementaren Rechtsverstoßes i. S. v. § 339 StGB hat, nicht über den „Umweg“ der unterlassenen Selbstablehnung doch noch den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen soll. Denn ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht, der für einen Rechtsbeugungsvorwurf nicht gewichtig genug ist, kann doch ohne weiteres die Besorgnis der Befangenheit begründen. Würde nun in diesem Fall das Unterlassen der Selbstanzeige als Rechtsverletzung i. S. v. § 339 StGB gewertet, würde dies zu einem Wertungswiderspruch führen.

Zu bedenken ist insoweit auch, dass letztlich bei jedem Rechtsbeugungsfall auch ein Fall der Befangenheit vorliegt, denn bei einer Rechtsbeugung zum Vor- oder Nachteil einer Partei besteht begriffsnotwendig auch die Besorgnis der Befangenheit. Es ist bisher aber noch kein Gericht auf die Idee gekommen, nachdem es bei einer Rechtsbeugungsanklage die Verwirklichung des Tatbestandes verneint hat, im Anschluss zu prüfen, ob der Richter wegen des angeklagten Verhaltens sich nicht hätte selbst ablehnen müssen und das Unterlassen nun seinerseits einen Rechtsbeugungsvorwurf tragen könnte.

Daraus ergibt sich vorliegend die Frage, wie ein nicht ergebnisoffenes Führen des Verfahrens oder eine nicht korrekte Auswahl der Sachverständigen13 – Vorwürfe, die niemals den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen können – über die sich daraus (angeblich) ergebende Befangenheit und die unterlassene Selbstanzeige dann doch eine Rechtsbeugung begründen sollen. Diese Frage stellt sich die Kammer aber schon deshalb nicht, weil nach ihrer Auffassung bereits die Verfahrensleitung im Zustand der Befangenheit das tatbestandsmäßige Verhalten sein soll.

Diese grundsätzlichen Einwände vorangestellt, soll im Folgenden dennoch die Argumentation der Kammer im Einzelnen nachgezeichnet werden.

c. Eine eigene Meinung als Befangenheitsgrund?

Der Vorwurf der Befangenheit soll sich nach dem Urteil aus Folgendem ergeben:
Der Angeklagte sei schon ab Februar 2021 entschlossen gewesen, „eine gerichtliche Entscheidung zur Maskenpflicht mit Öffentlichkeitswirkung zu treffen“. In diese Entscheidung habe er Sachverständigengutachten einführen wollen, „um damit den Argumentationsdruck für weitere gerichtliche Entscheidungen zu erhöhen.“ Zur „Verschleierung seiner Voreingenommenheit“ habe er für eine Anregung eines Verfahrens nach § 1666 BGB gezielt nach geeigneten Betroffenen gesucht und während des Verfahrens darauf geachtet, „dass seine vorgefasste Position … nicht nach außen erkennbar wird.“ Auch dass er das Anregungsschreiben der Familie B. „mitbearbeitet“ habe, soll ihn befangen machen (bis hier S. 125 f.). Bei der Auswahl der Sachverständigen habe er keine Objektivität walten lassen, sondern diese ergebnisorientiert ausgewählt (S. 128). Insgesamt sei das Verfahren von ihm nicht ergebnisoffen geführt worden (S. 127). Und schließlich sei er auch befangen „aufgrund seiner vorgefassten Auffassungen zu der SARS-CoV-2-Pandemie und der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen“ (S. 127).

Auf den letztgenannten Vorwurf soll hier zuerst eingegangen werden: Die Kammer behauptet tatsächlich, der Angeklagte hätte in dieser Sache nicht entscheiden dürfen, weil er sich im Vorfeld bereits intensiv mit der Coronakrise und insbesondere den Coronamaßnahmen auseinandergesetzt und sich eine Meinung dazu gebildet hatte. Wenn das stimmen würde, dürften auch Richter, die wissenschaftliche Literatur über illegale Drogen gelesen haben und sich eine Meinung zum Thema gebildet haben, kein Betäubungsmittelverfahren mehr führen. Das ist so absurd, dass man dazu gar nichts weiter sagen muss.14 Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Kammer die Absurdität nicht selbst auffällt.

Die Antwort scheint zu sein, dass die Kammer in Bezug auf Kritik an Coronamaßnahmen selbst befangen ist und diese Befangenheit sie daran hindert, hier klar zu sehen. Der implizite Obersatz, der das Denken der Kammer steuert, ist nämlich nicht: „Richter, die sich bereits vor einem Verfahren mit (nichtjuristischen) Fragen aus anderen Wissenschaften, die für das Verfahren bedeutsam sind, beschäftigt haben, dürfen solche Verfahren nicht führen“, der implizite Obersatz (der allerdings nicht explizit reflektiert werden darf, weil dann doch die Absurdität offenkundig würde) lautet vielmehr: „Coronamaßnahmenkritiker dürfen keine Verfahren zu Coronamaßnahmen führen.“ Dieser implizite Obersatz „funktioniert“ deshalb für die Kammer, weil grundsätzliche Kritik an der Coronapolitik in ihrem Verständnishorizont als vernunftwidrig, in gewisser Weise sogar illegitim, während Konformität mit dieser Politik als vernunftgemäß gilt. Die Idee, dem Angeklagten könnte zum Vorwurf gemacht werden, dass er sich eine kritische Meinung zu den Coronamaßnahmen gebildet hat, während einem vorbehaltlosen Befürworter der Maßnahmen ein solcher Vorwurf niemals gemacht würde, beruht damit letztlich auf der im gesellschaftlichen Diskurs erfolgten Abwertung der Maßnahmenkritiker als „Querdenker“, „Coronaleugner“, „Wissenschaftsleugner“, auch wenn die Kammer solche Vokabeln nicht verwendet und an anderen Stellen des Urteils wiederholt betont, dass sie über die Frage, ob der Beschluss des Angeklagten in der Sache richtig war, nicht entschieden habe. Mit dem Vorwurf an den Angeklagten, er habe wegen seiner kritischen Meinung zu den Coronamaßnahmen das Verfahren nicht führen dürfen, ist jedenfalls ein erster Tiefpunkt des Urteils erreicht.

d. Der Vorwurf fehlender Unparteilichkeit bei einem Verfahren von Amts wegen

Im Artikel zur Anklage15 war ausführlich die Frage erörtert worden, was eigentlich Befangenheit bei einem amtswegigen Verfahren nach § 1666 BGB bedeutet.

Die Kammer beschäftigt sich mit dieser Frage nicht. Sie zitiert, wie schon die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen das Gebot von Unparteilichkeit und Neutralität der Richter aus Art. 97 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz abgeleitet wird,16 wirft dem Angeklagten vor, diesem Gebot von Unparteilichkeit und Neutralität nicht genügt zu haben und damit ist die Argumentation auch schon fast beendet. Dass die zitierten Aussagen vom Bundesverfassungsgericht alle im Kontext von Parteiverfahren getroffen wurden, also in Verfahren, die von einer Partei und nicht vom Gericht begonnen werden und in denen sich zwei Parteien im Streit gegenüberstehen, und sich daher die Frage stellt, inwieweit diese Aussagen der Interpretation bedürfen, wenn es um amtswegige Verfahren geht, wird von der Kammer dabei übergangen.

In einem Kinderschutzverfahren gibt es keine sich gegenüberstehenden Parteien, es gibt ein oder mehrere betroffene Kinder und das Verfahren wird von Amts wegen vom Gericht eingeleitet, wenn ein Verdacht der Kindeswohlgefährdung besteht. Man kann sagen: Der Richter ist von der ersten Minute des Verfahrens an auf der Seite des Kindes und damit parteiisch. Man kann die Rolle des Familienrichters in einem solchen Verfahren sogar mit der Rolle eines Staatsanwaltes im Ermittlungsverfahren vergleichen: Wie ein Staatsanwalt hat der Richter das Verfahren einzuleiten, sofern es einen Anfangsverdacht gibt und hat den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (durch Anhörung von Beteiligten, ggf. auch Zeugenvernehmungen, Einholung von Gutachten etc.).17 Von der Staatsanwaltschaft wird aber keine Unparteilichkeit und Neutralität (Wem gegenüber auch, dem Verbrechen?) erwartet. Was von ihr erwartet wird, ist Objektivität. Die Staatsanwaltschaft ist der Wahrheit verpflichtet und hat deshalb nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 StPO). Und dieselbe Objektivität in der Sache wird selbstverständlich auch von einem Richter in einem Kindesschutzverfahren nach § 1666 BGB erwartet.

Um aber die Frage zu beurteilen, ob der Angeklagte die gegenüber der Sache erforderliche Objektivität hat walten lassen, also insbesondere bei der Aufklärung der Frage, ob die Maskenpflicht in der Schule das Wohl der betroffenen Kinder gefährdet, müsste die Kammer sich mit der Sache selbst beschäftigen. Das lehnt sie aber ab und behauptet, dazu nicht verpflichtet zu sein. Welche Gefahren tatsächlich von dem SARS-CoV-2-Virus ausgingen, welchen Anteil Kinder am Infektionsgeschehen hatten, ob Maskenpflichten einen relevanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben und welche Folgen physischer, psychischer und psychisch-sozialer Art eine Maskenpflicht für Kinder hat – diese Fragen hat die Kammer sämtlich für irrelevant für die Entscheidung erklärt und einen Beweisantrag der Verteidigung, der auf die Aufklärung dieser Fragen gerichtet war, zurückgewiesen.

Ganz kommt die Kammer in dem Urteil allerdings an der Frage des amtswegigen Verfahrens doch nicht vorbei. Ein diesbezüglicher Einwand der Verteidigung wird zumindest erwähnt, um dann aber mit einer beinahe kuriosen Argumentation beiseitegeschoben zu werden:

„Der Einwand des Angeklagten, ein amtswegiges Verfahren gemäß § 24 FamFG hätte keiner Anregung bedurft, sondern er hätte die Verfahren von Amts wegen einleiten können, entkräftet nicht den verwirklichten Rechtsbeugungstatbestand.18 Grundsätzlich ist eine Einleitung eines Kinderschutzverfahrens von Amts wegen gemäß §§ 1666 BGB, 24 FamFG möglich. Entscheidend ist insofern aber, dass der Angeklagte bewusst gerade keine Einleitung des Kinderschutzverfahrens von Amts wegen vorgenommen hat, wodurch die von ihm vertretene Auffassung einer Kindeswohlgefährdung durch die Maskenpflicht und der weiteren, bezüglich der SARS-CoV-2-Pandemie geltenden Regelungen nach außen hin erkennbar gewesen wäre. Selbst wenn die Verfahren von Amts wegen eingeleitet werden können, ist ein solches Verfahren nach dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ergebnisoffen in der gebotenen Neutralität zu führen.“ (S. 128)

Dem Einwand, dass bei § 1666 BGB immer das Gericht das Verfahren einleitet und bei hinreichendem Verdacht auch einleiten muss, weshalb es grundsätzlich unproblematisch gewesen sei, dass der Angeklagte das Verfahren selbst angestrebt und der das Verfahren anregenden Familie B. Hilfestellung hinsichtlich der Formulierung der Verfahrensanregung gegeben habe, wird also mit der Behauptung begegnet, der Angeklagte habe das Verfahren gar nicht von Amts wegen eingeleitet. Die Kammer hat offensichtlich nicht verstanden, dass „Einleitung von Amts wegen“ nur heißt, dass das Gericht entscheidet, ob im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt ein Verfahren begonnen wird. Das geschieht bei § 1666 BGB fast immer aufgrund einer Anregung von Dritten (meist dem Jugendamt). „Einleitung von Amts wegen“ und „aufgrund einer Anregung“ schließen sich daher überhaupt nicht aus.

Die Kammer meint offensichtlich: Wäre der Angeklagte in eine Schule gegangen, hätte sich mit Schülern über die Maskenpflicht unterhalten, sich ihre Namen sagen lassen und anschließend hinsichtlich dieser Schüler Verfahren eingeleitet, dann wäre das unproblematisch. Weil er aber auf eine Anregung einer Familie gewartet habe,19 sei er befangen. In dieser Richtung hat der Vorsitzende der Kammer in der mündlichen Urteilsbegründung am 23.08.2023 an den Angeklagten gerichtet formuliert: „Ich weiß nicht, ob man dann zu einer Rechtsbeugung gekommen wäre, wenn Sie den mutigen Weg gegangen wären, ein Verfahren von Amts wegen eingeleitet hätten und dann so entschieden hätten – quasi mit offenem Visier.“20

Abgesehen davon, dass der Vorwurf fehlenden Mutes an den Angeklagten etwas grotesk erscheint, räumt die Kammer damit selbst ein, dass es dem Angeklagten letztlich nicht vorgeworfen werden kann, dass er das Verfahren wollte und darauf aktiv hingearbeitet hat. Genau dieser Vorwurf wird dem Angeklagten aber an anderer Stelle wieder und wieder gemacht! Dort, wo die Kammer sich für einen kurzen Moment gezwungen sieht, doch die Besonderheiten eines Verfahrens nach § 1666 BGB zur Kenntnis zu nehmen, muss sie diesen Vorwurf fallenlassen und an ihre Stelle tritt sozusagen ein „Heimlichkeitsvorwurf“, der aber nur in neue Widersprüche hineinführt. Denn die Aussage des Vorsitzenden bei der mündlichen Urteilsbegründung bedeutet im Ergebnis, dass es Rechtsbeugung ist bzw. sein kann, wenn ein Richter etwas verbirgt, was er gar nicht verbergen muss. Dass das abwegig ist, liegt auf der Hand.

Festzuhalten ist daher: Der Angeklagte war verpflichtet, ein Verfahren nach § 1666 BGB anzustreben und einzuleiten, sobald er den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung hatte. Dass die Verfahrenseinleitung aufgrund einer Anregung erfolgt, ist keine Besonderheit dieses Verfahrens, zu der der Angeklagte gegriffen hat, weil er irgendetwas verschleiern wollte, sondern es ist der Normalfall.

Genauso selbstverständlich durfte der Angeklagte Familie B. auch Unterstützung bei der Formulierung der Anregung geben. Anregungen gemäß § 24 FamFG können gemäß § 25 FamFG auch „zur Niederschrift der Geschäftsstelle“ abgegeben werden. Diese Niederschrift muss nicht durch einen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (§ 153 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz) erfolgen, auch der Richter (oder Rechtspfleger) kann dies tun.21 Bei dieser Niederschrift soll der Urkundsbeamte dafür Sorge tragen, dass sie inhaltlich dem Begehren des Erklärenden entspricht. Insoweit besteht im Rahmen der Fürsorgepflicht und der Möglichkeiten eine Verpflichtung, den mutmaßlichen Willen zu erfragen sowie für eine klare Formulierung des Begehrens zu sorgen.22

Wenn dies alles rechtlich möglich war, durfte der Angeklagte zweifelsohne auch die bereits vorformulierte Anregung der Familie B., die ihm per E-Mail übersandt wurde, gegenlesen und auf Unklarheiten oder Fehler hinweisen, bevor sie dann tatsächlich eingereicht wurde. Nichts ist daran rechtswidrig, aber die Kammer ist in völliger Verkennung der Rechtslage der Auffassung, das „Mitbearbeiten“ der Anregung der Familie B. disqualifiziere den Angeklagten als Richter in diesem Verfahren und zwar mindestens im gleichen Maße wie den Freiburger Richter das Verfassen der Beschwerde für seinen Bekannten.

e. Gute Gutachten, aber von den falschen Sachverständigen?

Auch bei dem Vorwurf, der Angeklagte habe bei der Auswahl der Sachverständigen Kämmerer, Kappstein und Kuhbandner keine Objektivität walten lassen, sondern sei „ergebnisorientiert“ vorgegangen, verstrickt sich die Kammer in Widersprüche, wenn sie meint, sie könne dem Angeklagten die Wahl der Sachverständigen vorwerfen, ohne sich auch nur ansatzweise mit den Gutachten zu beschäftigen.

Die Auswahl von Gutachtern durch Gerichte erfolgt nie im Lostrommelverfahren. Die Gerichte versuchen stets Gutachter zu beauftragen, von denen sie – aufgrund eigener Erfahrungen mit ihnen in früheren Verfahren, aufgrund von Empfehlungen von Kollegen oder aus sonstiger Kenntnis der Arbeit der Gutachter – in Inhalt und Darstellung überzeugende Gutachten erwarten. Das kann man ergebnisorientiert nennen. Wenn also die Gutachten der drei Sachverständigen allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, vielleicht sogar hervorragend sind – was die Kammer nicht ausschließen kann, da sie sich ja mit den Gutachten inhaltlich nicht befasst hat – kann der Angeklagte also keinen Fehler gemacht haben, man müsste ihn sogar dazu beglückwünschen, dass er bei der Auswahl „den richtigen Riecher“ hatte. Die Kammer aber meint, dass der Angeklagte unabhängig von der Qualität der Gutachten diese Gutachter nicht hätte beauftragen dürfen – und ist damit im nächsten Paradox gelandet. Auch dieses Paradox fällt der Kammer offensichtlich nur deshalb wieder nicht auf, weil Vorurteile gegenüber Coronakritikern (unreflektiert) als berechtigt angesehen werden: Die Sachverständigen können so gut sein, wie sie wollen, als maßnahmenkritische Wissenschaftler dürfen sie jedenfalls nicht von einem Gericht beauftragt werden und ein Richter, der das dennoch tut, ist eben befangen.23

f. Zwischenfazit

Man kann den Vorwurf der Befangenheit noch einmal so zusammenfassen:
Die Kammer wirft dem Angeklagten vor, er habe gezielt das Verfahren angestrebt und darauf hingearbeitet, obwohl sie weiß, dass Familienrichter verpflichtet sind, Verfahren nach § 1666 BGB anzustreben und einzuleiten, wenn sie den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung haben. Sie behauptet, er hätte der Mutter der betroffenen Kinder keine Hilfe bei der Formulierung der Anregung geben dürfen, obwohl dies rechtlich vollkommen unproblematisch ist. Sie behauptet, der Angeklagte habe das Verfahren nicht führen dürfen, weil er sich schon zuvor eine „verfestigte“ Meinung zu den Coronamaßnahmen gebildet habe, während sie bei einem Richter, der die Coronamaßnahmen vorbehaltlos befürwortete, niemals auf diesen Gedanken gekommen wäre. Sie behauptet, der Angeklagte hätte die drei Sachverständigen nicht beauftragen dürfen, obwohl die Gutachten möglicherweise hervorragend sind. Und schließlich wirft sie dem Angeklagten vor, er habe seine (angebliche) Voreingenommenheit verschleiert und während des Verfahrens darauf geachtet, dass seine vorgefasste Position nicht nach außen erkennbar wird, obwohl – das ist an dieser Stelle nachzutragen – er nicht nur die Beweisbeschlüsse an alle Beteiligten übersandt hat, sondern dem Freistaat Thüringen als Verfahrensbeteiligtem auch einen Katalog mit 18 Fragen übersandt hat,24 aus denen eine kritische Haltung zu den Coronamaßnahmen bereits deutlich ablesbar war.

4. „… zugunsten oder zum Nachteil einer Partei“

§ 339 StGB setzt als tatbestandlichen „Erfolg“ voraus, dass die Rechtsverletzung zu einem unrechtmäßigen Vorteil oder Nachteil auf Seiten einer Partei führt. Partei ist in diesem Sinne jeder Beteiligte des Verfahrens, dem ein anderer mit widerstreitenden rechtlichen Interessen gegenübersteht.25 Bei einer Verletzung des materiellen Rechts, etwa, wenn eine eindeutige Rechtsnorm des materiellen Rechts falsch oder nicht angewandt wird, ist dies unproblematisch gegeben: Die Entscheidung ist im Ergebnis rechtswidrig und da eine Entscheidung immer mindestens für eine Partei vor- oder nachteilig ist, ist der Vor- oder Nachteil unrechtmäßig erlangt.

Bei einer Verletzung des Verfahrensrechts ist dies anders. Diese muss nicht notwendig zu einer falschen Entscheidung führen. Zwar hat eine Verfahrensrechtsverletzung meist eine zumindest vorübergehende Verbesserung oder Verschlechterung der prozessualen Position einer Partei zur Folge, dies lässt aber der Bundesgerichtshof in seiner restriktiven Auslegung des Tatbestandes nicht als tatbestandlichen Vor- bzw. Nachteil genügen. Die Verfahrensverletzung muss (zumindest) zu einer konkreten (nicht nur abstrakten) Gefahr einer falschen Endentscheidung, d. h. einer gegen das materielle Recht verstoßenden und damit rechtswidrigen Entscheidung geführt haben.

Wann eine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung gegeben ist, hat der Bundesgerichtshof vor allem in Fällen entschieden, bei denen die Verfahrensrechtsverletzung darin bestand, dass ein unzuständiger Richter entschieden hat (etwa, wenn ein nach dem Bereitschaftsdienstplan nicht zuständiger Richter in einer Haftsache entscheidet). Eine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung besteht nach dem BGH in diesen Fällen dann, wenn der Richter das Verfahren an sich zieht, weil er einer Prozesspartei sachfremd einen Gefallen tun will oder er sonstige außerhalb des Verfahrens liegende Motive verfolgt.26 Eine konkrete Gefahr, dass die Entscheidung von sachfremden Erwägungen beeinflusst wird, soll auch dann gegeben sein, wenn der Richter eine Zuständigkeit an sich zieht, um einen zur Entscheidung berufenen anderen Richter auszuschließen, um auf diesem Wege zu einem seinen Intentionen entsprechenden Ergebnis zu kommen, das bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften nicht oder voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre.27

Die Frage, ob in dem Kinderschutzverfahren eine Partei einen unrechtmäßigen Vor- oder Nachteil erlangt hat, stellt sich selbstverständlich erst dann, wenn man zuvor – wie die Kammer – eine elementare Rechtsverletzung bejaht hat. Die Kammer zitiert dazu auch die soeben referierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, um dann aber zu schreiben:

„Der Angeklagte hat durch die von ihm von vornherein geplante und zielgerichtete Entscheidung als voreingenommener Richter einen elementaren Verfahrensverstoß begangen, der die Unrechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung zur Folge hat. Die Frage, ob die von dem Angeklagten getroffene Anordnung unter Berücksichtigung der Ausführungen der eingeholten Sachverständigengutachten inhaltlich richtig gewesen ist, vermag angesichts der Schwere des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes an der Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung nichts zu ändern. Denn die Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung wird auch durch die Einhaltung der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze geprägt.“

Abgesehen davon, dass sachangemessene Motive für eine Missachtung der richterlichen Unabhängigkeit nicht vorstellbar sind,5 kann das bloße Fehlen gebotener Achtung niemals einen Straftatbestand erfüllen. Im geltenden Strafrecht wird tatbestandsmäßiges Verhalten, das in einem Tun oder einem Unterlassen bestehen kann, bestraft. Gedanken, Gefühle, Überzeugungen sind nicht strafbar.

Ganz so meint die Kammer das auch nicht, wenngleich sie bei der Frage des Vorsatzes (dazu unter Abschnitt 5 mehr) nur prüft, ob Vorsatz bezüglich der (angeblichen) Befangenheit bestand, also die Befangenheit als Tathandlung behandelt. In dem dem zitierten Satz nachfolgenden Satz wird vielmehr deutlich, dass sie der Auffassung ist, die Rechtsbeugung bestehe darin, dass der Angeklagte das Verfahren trotz seiner Befangenheit geführt und entschieden habe. Die gesamte richterliche Tätigkeit bei dem Verfahren soll gewissermaßen den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen, weil sie im Zustand der Befangenheit erfolgt sei. Auch das ist aber falsch und zwar aus dem einfachen Grund, dass es keine Rechtspflicht für Richter gibt, bei der Leitung eines Verfahrens unbefangen zu sein bzw. keinen Anlass für eine Besorgnis der Befangenheit zu liefern. Dies klingt vielleicht für den juristischen Laien überraschend, erklärt sich aber damit, dass zum einen in vielen Fällen der Richter die Besorgnis der Befangenheit gar nicht selbst in der Hand hat, etwa wenn sie sich aus persönlichen Beziehungen zu den Beteiligten ergibt (Beispiel: zu einer Partei des Verfahrens besteht eine enge Freundschaft), und es zum anderen kein „Selbstablehnungsrecht“ gibt, das es einem Richter ermöglichen würde, sein Ausscheiden aus einem Verfahren selbst herbeizuführen.

Die einzige Pflicht, die insoweit besteht, ist die zur Selbstablehnung (hier gem. § 6 FamFG i. V. m. § 48 ZPO).6 Wird diese von dem darüber zur Entscheidung berufenen Richter als begründet beurteilt, scheidet der Richter aus dem Verfahren aus. Wird sie aber für unbegründet erachtet, muss der Richter das Verfahren weiterführen und zwar auch dann, wenn die Entscheidung falsch ist, weil tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit besteht.

Als Rechtsverletzung i. S. v. § 339 StGB kommt danach allein das Unterlassen einer gebotenen Selbstablehnung in Betracht. Sieht man hier klar, wird eine wesentlich sachlichere Betrachtung möglich, als wenn – wie im Urteil – mit hoher moralischer Aufladung das gesamte Verfahren vom Beginn bis zur Entscheidung zur Rechtsbeugungshandlung erklärt wird.

Zwar führt die Kammer auch an, dass der Angeklagte (nach ihrer Auffassung) verpflichtet gewesen wäre, eine Selbstanzeige anzubringen, aber das soll nur ein untergeordneter Teil der Tat sein. Sie meint, weil der Angeklagte nicht nur die Selbstanzeige unterlassen habe, sondern auch das Verfahren geführt und entschieden habe, liege der Schwerpunkt auf einem aktiven Tun und nicht auf einem Unterlassen (S. 127).7 Das ist, wie dargelegt, falsch. Es kommt grundsätzlich nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht. Das hätte wiederum eine Absenkung der Mindeststrafe – eine sog. Strafrahmenverschiebung – von einem Jahr auf 3 Monate Freiheitsstrafe (§ 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und über § 47 Abs. 2 StGB sogar die Verhängung einer Geldstrafe ermöglicht.8

b. Rechtsbeugung durch Unterlassen der Selbstablehnung

Man muss an dieser Stelle noch einmal einen Schritt zurücktreten, um die Besonderheiten des Vorwurfs der Rechtsbeugung durch Unterlassen einer Selbstablehnung in den Blick zu bekommen.

Die Behauptung der Besorgnis der Befangenheit ist in Gerichtsverfahren, vor allem in Strafverfahren keine Seltenheit. Die meisten Ablehnungsanträge von Verteidigern haben zwar keinen Erfolg, aber es gibt selbstverständlich auch Fälle, in denen die Besorgnis der Befangenheit für begründet erklärt wird. In all diesen Fällen könnte man fragen, ob der betreffende Richter nicht verpflichtet gewesen wäre, noch vor der Ablehnung durch einen anderen Beteiligten eine Selbstablehnung bzw. Selbstanzeige anzubringen. Und da er dies offensichtlich nicht getan hat, würde sich nach der Logik der Kammer (und der Staatsanwaltschaft) stets die Frage eines Verdachts der Rechtsbeugung durch Unterlassen der Selbstanzeige stellen.

Tatsächlich wird die Frage aber in der Praxis so gut wie nie gestellt. In der Rechtsprechung und in der Kommentarliteratur zu § 48 ZPO und § 30 StPO wird bei den Folgen einer pflichtwidrig unterlassenen Selbstablehnung ausschließlich erörtert, ob dies in der Revisions- oder Berufungsinstanz gerügt werden kann, und es wird außerdem darauf hingewiesen, dass eine pflichtwidrig unterlassene Selbstablehnung für sich allein oder in der Zusammenschau mit weiteren Umständen ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen könne.9 Nirgendwo wird hier erörtert, dass eine pflichtwidrig unterlassene Selbstablehnung als Rechtsbeugung strafbar sein könnte.

Soweit aus den veröffentlichten Entscheidungen zu § 339 StGB ersichtlich, gibt es nur einen einzigen Fall, bei dem ein Richter bei unterlassener Selbstablehnung wegen Rechtsbeugung angeklagt wurde:10 Bei diesem Fall hatte ein Richter als Gefälligkeit für einen Bekannten, der einen Zivilprozess am Amtsgericht führte, ein Ablehnungsgesuch gegen den für das Verfahren zuständigen Amtsrichter verfasst. Nachdem das Ablehnungsgesuch von dem dafür zuständigen Richter als unbegründet verworfen worden war, verfasste er auch die Beschwerde dagegen. Als die Beschwerde dann aufgrund des Geschäftsverteilungsplanes (was nicht vorhersehbar war) in seinem Dezernat landete, unterließ er die Selbstablehnung und entschied selbst über die Beschwerde. Dass dies ein wirklich schwerwiegender Fall richterlichen Fehlverhaltens ist und der Richter unter keinen, wirklich keinen denkbaren Umständen die Selbstablehnung hätte unterlassen dürfen, dürfte unter Richtern und Staatsanwälten Konsens sein.11 Die Verurteilung wegen Rechtsbeugung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten auf Bewährung wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt.12


Dass dies der einzige Fall einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung wegen unterlassener Selbstanzeige ist, zeigt zugleich, dass nur im absoluten Ausnahmefall eine pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige das Gewicht einer für den Tatbestand des § 339 StGB erforderlichen elementaren Rechtsverletzung haben kann.

Dies ergibt sich auch daraus, dass darauf zu achten ist, dass eine Rechtsverletzung, die für sich genommen nicht das Gewicht eines elementaren Rechtsverstoßes i. S. v. § 339 StGB hat, nicht über den „Umweg“ der unterlassenen Selbstablehnung doch noch den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen soll. Denn ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht, der für einen Rechtsbeugungsvorwurf nicht gewichtig genug ist, kann doch ohne weiteres die Besorgnis der Befangenheit begründen. Würde nun in diesem Fall das Unterlassen der Selbstanzeige als Rechtsverletzung i. S. v. § 339 StGB gewertet, würde dies zu einem Wertungswiderspruch führen.

Zu bedenken ist insoweit auch, dass letztlich bei jedem Rechtsbeugungsfall auch ein Fall der Befangenheit vorliegt, denn bei einer Rechtsbeugung zum Vor- oder Nachteil einer Partei besteht begriffsnotwendig auch die Besorgnis der Befangenheit. Es ist bisher aber noch kein Gericht auf die Idee gekommen, nachdem es bei einer Rechtsbeugungsanklage die Verwirklichung des Tatbestandes verneint hat, im Anschluss zu prüfen, ob der Richter wegen des angeklagten Verhaltens sich nicht hätte selbst ablehnen müssen und das Unterlassen nun seinerseits einen Rechtsbeugungsvorwurf tragen könnte.

Daraus ergibt sich vorliegend die Frage, wie ein nicht ergebnisoffenes Führen des Verfahrens oder eine nicht korrekte Auswahl der Sachverständigen13 – Vorwürfe, die niemals den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen können – über die sich daraus (angeblich) ergebende Befangenheit und die unterlassene Selbstanzeige dann doch eine Rechtsbeugung begründen sollen. Diese Frage stellt sich die Kammer aber schon deshalb nicht, weil nach ihrer Auffassung bereits die Verfahrensleitung im Zustand der Befangenheit das tatbestandsmäßige Verhalten sein soll.

Diese grundsätzlichen Einwände vorangestellt, soll im Folgenden dennoch die Argumentation der Kammer im Einzelnen nachgezeichnet werden.

c. Eine eigene Meinung als Befangenheitsgrund?

Der Vorwurf der Befangenheit soll sich nach dem Urteil aus Folgendem ergeben:
Der Angeklagte sei schon ab Februar 2021 entschlossen gewesen, „eine gerichtliche Entscheidung zur Maskenpflicht mit Öffentlichkeitswirkung zu treffen“. In diese Entscheidung habe er Sachverständigengutachten einführen wollen, „um damit den Argumentationsdruck für weitere gerichtliche Entscheidungen zu erhöhen.“ Zur „Verschleierung seiner Voreingenommenheit“ habe er für eine Anregung eines Verfahrens nach § 1666 BGB gezielt nach geeigneten Betroffenen gesucht und während des Verfahrens darauf geachtet, „dass seine vorgefasste Position … nicht nach außen erkennbar wird.“ Auch dass er das Anregungsschreiben der Familie B. „mitbearbeitet“ habe, soll ihn befangen machen (bis hier S. 125 f.). Bei der Auswahl der Sachverständigen habe er keine Objektivität walten lassen, sondern diese ergebnisorientiert ausgewählt (S. 128). Insgesamt sei das Verfahren von ihm nicht ergebnisoffen geführt worden (S. 127). Und schließlich sei er auch befangen „aufgrund seiner vorgefassten Auffassungen zu der SARS-CoV-2-Pandemie und der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen“ (S. 127).

Auf den letztgenannten Vorwurf soll hier zuerst eingegangen werden: Die Kammer behauptet tatsächlich, der Angeklagte hätte in dieser Sache nicht entscheiden dürfen, weil er sich im Vorfeld bereits intensiv mit der Coronakrise und insbesondere den Coronamaßnahmen auseinandergesetzt und sich eine Meinung dazu gebildet hatte. Wenn das stimmen würde, dürften auch Richter, die wissenschaftliche Literatur über illegale Drogen gelesen haben und sich eine Meinung zum Thema gebildet haben, kein Betäubungsmittelverfahren mehr führen. Das ist so absurd, dass man dazu gar nichts weiter sagen muss.14 Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Kammer die Absurdität nicht selbst auffällt.

Die Antwort scheint zu sein, dass die Kammer in Bezug auf Kritik an Coronamaßnahmen selbst befangen ist und diese Befangenheit sie daran hindert, hier klar zu sehen. Der implizite Obersatz, der das Denken der Kammer steuert, ist nämlich nicht: „Richter, die sich bereits vor einem Verfahren mit (nichtjuristischen) Fragen aus anderen Wissenschaften, die für das Verfahren bedeutsam sind, beschäftigt haben, dürfen solche Verfahren nicht führen“, der implizite Obersatz (der allerdings nicht explizit reflektiert werden darf, weil dann doch die Absurdität offenkundig würde) lautet vielmehr: „Coronamaßnahmenkritiker dürfen keine Verfahren zu Coronamaßnahmen führen.“ Dieser implizite Obersatz „funktioniert“ deshalb für die Kammer, weil grundsätzliche Kritik an der Coronapolitik in ihrem Verständnishorizont als vernunftwidrig, in gewisser Weise sogar illegitim, während Konformität mit dieser Politik als vernunftgemäß gilt. Die Idee, dem Angeklagten könnte zum Vorwurf gemacht werden, dass er sich eine kritische Meinung zu den Coronamaßnahmen gebildet hat, während einem vorbehaltlosen Befürworter der Maßnahmen ein solcher Vorwurf niemals gemacht würde, beruht damit letztlich auf der im gesellschaftlichen Diskurs erfolgten Abwertung der Maßnahmenkritiker als „Querdenker“, „Coronaleugner“, „Wissenschaftsleugner“, auch wenn die Kammer solche Vokabeln nicht verwendet und an anderen Stellen des Urteils wiederholt betont, dass sie über die Frage, ob der Beschluss des Angeklagten in der Sache richtig war, nicht entschieden habe. Mit dem Vorwurf an den Angeklagten, er habe wegen seiner kritischen Meinung zu den Coronamaßnahmen das Verfahren nicht führen dürfen, ist jedenfalls ein erster Tiefpunkt des Urteils erreicht.

d. Der Vorwurf fehlender Unparteilichkeit bei einem Verfahren von Amts wegen

Im Artikel zur Anklage15 war ausführlich die Frage erörtert worden, was eigentlich Befangenheit bei einem amtswegigen Verfahren nach § 1666 BGB bedeutet.

Die Kammer beschäftigt sich mit dieser Frage nicht. Sie zitiert, wie schon die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen das Gebot von Unparteilichkeit und Neutralität der Richter aus Art. 97 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz abgeleitet wird,16 wirft dem Angeklagten vor, diesem Gebot von Unparteilichkeit und Neutralität nicht genügt zu haben und damit ist die Argumentation auch schon fast beendet. Dass die zitierten Aussagen vom Bundesverfassungsgericht alle im Kontext von Parteiverfahren getroffen wurden, also in Verfahren, die von einer Partei und nicht vom Gericht begonnen werden und in denen sich zwei Parteien im Streit gegenüberstehen, und sich daher die Frage stellt, inwieweit diese Aussagen der Interpretation bedürfen, wenn es um amtswegige Verfahren geht, wird von der Kammer dabei übergangen.

In einem Kinderschutzverfahren gibt es keine sich gegenüberstehenden Parteien, es gibt ein oder mehrere betroffene Kinder und das Verfahren wird von Amts wegen vom Gericht eingeleitet, wenn ein Verdacht der Kindeswohlgefährdung besteht. Man kann sagen: Der Richter ist von der ersten Minute des Verfahrens an auf der Seite des Kindes und damit parteiisch. Man kann die Rolle des Familienrichters in einem solchen Verfahren sogar mit der Rolle eines Staatsanwaltes im Ermittlungsverfahren vergleichen: Wie ein Staatsanwalt hat der Richter das Verfahren einzuleiten, sofern es einen Anfangsverdacht gibt und hat den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (durch Anhörung von Beteiligten, ggf. auch Zeugenvernehmungen, Einholung von Gutachten etc.).17 Von der Staatsanwaltschaft wird aber keine Unparteilichkeit und Neutralität (Wem gegenüber auch, dem Verbrechen?) erwartet. Was von ihr erwartet wird, ist Objektivität. Die Staatsanwaltschaft ist der Wahrheit verpflichtet und hat deshalb nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 StPO). Und dieselbe Objektivität in der Sache wird selbstverständlich auch von einem Richter in einem Kindesschutzverfahren nach § 1666 BGB erwartet.

Um aber die Frage zu beurteilen, ob der Angeklagte die gegenüber der Sache erforderliche Objektivität hat walten lassen, also insbesondere bei der Aufklärung der Frage, ob die Maskenpflicht in der Schule das Wohl der betroffenen Kinder gefährdet, müsste die Kammer sich mit der Sache selbst beschäftigen. Das lehnt sie aber ab und behauptet, dazu nicht verpflichtet zu sein. Welche Gefahren tatsächlich von dem SARS-CoV-2-Virus ausgingen, welchen Anteil Kinder am Infektionsgeschehen hatten, ob Maskenpflichten einen relevanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben und welche Folgen physischer, psychischer und psychisch-sozialer Art eine Maskenpflicht für Kinder hat – diese Fragen hat die Kammer sämtlich für irrelevant für die Entscheidung erklärt und einen Beweisantrag der Verteidigung, der auf die Aufklärung dieser Fragen gerichtet war, zurückgewiesen.

Ganz kommt die Kammer in dem Urteil allerdings an der Frage des amtswegigen Verfahrens doch nicht vorbei. Ein diesbezüglicher Einwand der Verteidigung wird zumindest erwähnt, um dann aber mit einer beinahe kuriosen Argumentation beiseitegeschoben zu werden:

„Der Einwand des Angeklagten, ein amtswegiges Verfahren gemäß § 24 FamFG hätte keiner Anregung bedurft, sondern er hätte die Verfahren von Amts wegen einleiten können, entkräftet nicht den verwirklichten Rechtsbeugungstatbestand.18 Grundsätzlich ist eine Einleitung eines Kinderschutzverfahrens von Amts wegen gemäß §§ 1666 BGB, 24 FamFG möglich. Entscheidend ist insofern aber, dass der Angeklagte bewusst gerade keine Einleitung des Kinderschutzverfahrens von Amts wegen vorgenommen hat, wodurch die von ihm vertretene Auffassung einer Kindeswohlgefährdung durch die Maskenpflicht und der weiteren, bezüglich der SARS-CoV-2-Pandemie geltenden Regelungen nach außen hin erkennbar gewesen wäre. Selbst wenn die Verfahren von Amts wegen eingeleitet werden können, ist ein solches Verfahren nach dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ergebnisoffen in der gebotenen Neutralität zu führen.“ (S. 128)

Dem Einwand, dass bei § 1666 BGB immer das Gericht das Verfahren einleitet und bei hinreichendem Verdacht auch einleiten muss, weshalb es grundsätzlich unproblematisch gewesen sei, dass der Angeklagte das Verfahren selbst angestrebt und der das Verfahren anregenden Familie B. Hilfestellung hinsichtlich der Formulierung der Verfahrensanregung gegeben habe, wird also mit der Behauptung begegnet, der Angeklagte habe das Verfahren gar nicht von Amts wegen eingeleitet. Die Kammer hat offensichtlich nicht verstanden, dass „Einleitung von Amts wegen“ nur heißt, dass das Gericht entscheidet, ob im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt ein Verfahren begonnen wird. Das geschieht bei § 1666 BGB fast immer aufgrund einer Anregung von Dritten (meist dem Jugendamt). „Einleitung von Amts wegen“ und „aufgrund einer Anregung“ schließen sich daher überhaupt nicht aus.

Die Kammer meint offensichtlich: Wäre der Angeklagte in eine Schule gegangen, hätte sich mit Schülern über die Maskenpflicht unterhalten, sich ihre Namen sagen lassen und anschließend hinsichtlich dieser Schüler Verfahren eingeleitet, dann wäre das unproblematisch. Weil er aber auf eine Anregung einer Familie gewartet habe,19 sei er befangen. In dieser Richtung hat der Vorsitzende der Kammer in der mündlichen Urteilsbegründung am 23.08.2023 an den Angeklagten gerichtet formuliert: „Ich weiß nicht, ob man dann zu einer Rechtsbeugung gekommen wäre, wenn Sie den mutigen Weg gegangen wären, ein Verfahren von Amts wegen eingeleitet hätten und dann so entschieden hätten – quasi mit offenem Visier.“20

Abgesehen davon, dass der Vorwurf fehlenden Mutes an den Angeklagten etwas grotesk erscheint, räumt die Kammer damit selbst ein, dass es dem Angeklagten letztlich nicht vorgeworfen werden kann, dass er das Verfahren wollte und darauf aktiv hingearbeitet hat. Genau dieser Vorwurf wird dem Angeklagten aber an anderer Stelle wieder und wieder gemacht! Dort, wo die Kammer sich für einen kurzen Moment gezwungen sieht, doch die Besonderheiten eines Verfahrens nach § 1666 BGB zur Kenntnis zu nehmen, muss sie diesen Vorwurf fallenlassen und an ihre Stelle tritt sozusagen ein „Heimlichkeitsvorwurf“, der aber nur in neue Widersprüche hineinführt. Denn die Aussage des Vorsitzenden bei der mündlichen Urteilsbegründung bedeutet im Ergebnis, dass es Rechtsbeugung ist bzw. sein kann, wenn ein Richter etwas verbirgt, was er gar nicht verbergen muss. Dass das abwegig ist, liegt auf der Hand.

Festzuhalten ist daher: Der Angeklagte war verpflichtet, ein Verfahren nach § 1666 BGB anzustreben und einzuleiten, sobald er den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung hatte. Dass die Verfahrenseinleitung aufgrund einer Anregung erfolgt, ist keine Besonderheit dieses Verfahrens, zu der der Angeklagte gegriffen hat, weil er irgendetwas verschleiern wollte, sondern es ist der Normalfall.

Genauso selbstverständlich durfte der Angeklagte Familie B. auch Unterstützung bei der Formulierung der Anregung geben. Anregungen gemäß § 24 FamFG können gemäß § 25 FamFG auch „zur Niederschrift der Geschäftsstelle“ abgegeben werden. Diese Niederschrift muss nicht durch einen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (§ 153 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz) erfolgen, auch der Richter (oder Rechtspfleger) kann dies tun.21 Bei dieser Niederschrift soll der Urkundsbeamte dafür Sorge tragen, dass sie inhaltlich dem Begehren des Erklärenden entspricht. Insoweit besteht im Rahmen der Fürsorgepflicht und der Möglichkeiten eine Verpflichtung, den mutmaßlichen Willen zu erfragen sowie für eine klare Formulierung des Begehrens zu sorgen.22

Wenn dies alles rechtlich möglich war, durfte der Angeklagte zweifelsohne auch die bereits vorformulierte Anregung der Familie B., die ihm per E-Mail übersandt wurde, gegenlesen und auf Unklarheiten oder Fehler hinweisen, bevor sie dann tatsächlich eingereicht wurde. Nichts ist daran rechtswidrig, aber die Kammer ist in völliger Verkennung der Rechtslage der Auffassung, das „Mitbearbeiten“ der Anregung der Familie B. disqualifiziere den Angeklagten als Richter in diesem Verfahren und zwar mindestens im gleichen Maße wie den Freiburger Richter das Verfassen der Beschwerde für seinen Bekannten.

e. Gute Gutachten, aber von den falschen Sachverständigen?

Auch bei dem Vorwurf, der Angeklagte habe bei der Auswahl der Sachverständigen Kämmerer, Kappstein und Kuhbandner keine Objektivität walten lassen, sondern sei „ergebnisorientiert“ vorgegangen, verstrickt sich die Kammer in Widersprüche, wenn sie meint, sie könne dem Angeklagten die Wahl der Sachverständigen vorwerfen, ohne sich auch nur ansatzweise mit den Gutachten zu beschäftigen.

Die Auswahl von Gutachtern durch Gerichte erfolgt nie im Lostrommelverfahren. Die Gerichte versuchen stets Gutachter zu beauftragen, von denen sie – aufgrund eigener Erfahrungen mit ihnen in früheren Verfahren, aufgrund von Empfehlungen von Kollegen oder aus sonstiger Kenntnis der Arbeit der Gutachter – in Inhalt und Darstellung überzeugende Gutachten erwarten. Das kann man ergebnisorientiert nennen. Wenn also die Gutachten der drei Sachverständigen allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, vielleicht sogar hervorragend sind – was die Kammer nicht ausschließen kann, da sie sich ja mit den Gutachten inhaltlich nicht befasst hat – kann der Angeklagte also keinen Fehler gemacht haben, man müsste ihn sogar dazu beglückwünschen, dass er bei der Auswahl „den richtigen Riecher“ hatte. Die Kammer aber meint, dass der Angeklagte unabhängig von der Qualität der Gutachten diese Gutachter nicht hätte beauftragen dürfen – und ist damit im nächsten Paradox gelandet. Auch dieses Paradox fällt der Kammer offensichtlich nur deshalb wieder nicht auf, weil Vorurteile gegenüber Coronakritikern (unreflektiert) als berechtigt angesehen werden: Die Sachverständigen können so gut sein, wie sie wollen, als maßnahmenkritische Wissenschaftler dürfen sie jedenfalls nicht von einem Gericht beauftragt werden und ein Richter, der das dennoch tut, ist eben befangen.23

f. Zwischenfazit

Man kann den Vorwurf der Befangenheit noch einmal so zusammenfassen:
Die Kammer wirft dem Angeklagten vor, er habe gezielt das Verfahren angestrebt und darauf hingearbeitet, obwohl sie weiß, dass Familienrichter verpflichtet sind, Verfahren nach § 1666 BGB anzustreben und einzuleiten, wenn sie den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung haben. Sie behauptet, er hätte der Mutter der betroffenen Kinder keine Hilfe bei der Formulierung der Anregung geben dürfen, obwohl dies rechtlich vollkommen unproblematisch ist. Sie behauptet, der Angeklagte habe das Verfahren nicht führen dürfen, weil er sich schon zuvor eine „verfestigte“ Meinung zu den Coronamaßnahmen gebildet habe, während sie bei einem Richter, der die Coronamaßnahmen vorbehaltlos befürwortete, niemals auf diesen Gedanken gekommen wäre. Sie behauptet, der Angeklagte hätte die drei Sachverständigen nicht beauftragen dürfen, obwohl die Gutachten möglicherweise hervorragend sind. Und schließlich wirft sie dem Angeklagten vor, er habe seine (angebliche) Voreingenommenheit verschleiert und während des Verfahrens darauf geachtet, dass seine vorgefasste Position nicht nach außen erkennbar wird, obwohl – das ist an dieser Stelle nachzutragen – er nicht nur die Beweisbeschlüsse an alle Beteiligten übersandt hat, sondern dem Freistaat Thüringen als Verfahrensbeteiligtem auch einen Katalog mit 18 Fragen übersandt hat,24 aus denen eine kritische Haltung zu den Coronamaßnahmen bereits deutlich ablesbar war.

4. „… zugunsten oder zum Nachteil einer Partei“

§ 339 StGB setzt als tatbestandlichen „Erfolg“ voraus, dass die Rechtsverletzung zu einem unrechtmäßigen Vorteil oder Nachteil auf Seiten einer Partei führt. Partei ist in diesem Sinne jeder Beteiligte des Verfahrens, dem ein anderer mit widerstreitenden rechtlichen Interessen gegenübersteht.25 Bei einer Verletzung des materiellen Rechts, etwa, wenn eine eindeutige Rechtsnorm des materiellen Rechts falsch oder nicht angewandt wird, ist dies unproblematisch gegeben: Die Entscheidung ist im Ergebnis rechtswidrig und da eine Entscheidung immer mindestens für eine Partei vor- oder nachteilig ist, ist der Vor- oder Nachteil unrechtmäßig erlangt.

Bei einer Verletzung des Verfahrensrechts ist dies anders. Diese muss nicht notwendig zu einer falschen Entscheidung führen. Zwar hat eine Verfahrensrechtsverletzung meist eine zumindest vorübergehende Verbesserung oder Verschlechterung der prozessualen Position einer Partei zur Folge, dies lässt aber der Bundesgerichtshof in seiner restriktiven Auslegung des Tatbestandes nicht als tatbestandlichen Vor- bzw. Nachteil genügen. Die Verfahrensverletzung muss (zumindest) zu einer konkreten (nicht nur abstrakten) Gefahr einer falschen Endentscheidung, d. h. einer gegen das materielle Recht verstoßenden und damit rechtswidrigen Entscheidung geführt haben.

Wann eine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung gegeben ist, hat der Bundesgerichtshof vor allem in Fällen entschieden, bei denen die Verfahrensrechtsverletzung darin bestand, dass ein unzuständiger Richter entschieden hat (etwa, wenn ein nach dem Bereitschaftsdienstplan nicht zuständiger Richter in einer Haftsache entscheidet). Eine konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung besteht nach dem BGH in diesen Fällen dann, wenn der Richter das Verfahren an sich zieht, weil er einer Prozesspartei sachfremd einen Gefallen tun will oder er sonstige außerhalb des Verfahrens liegende Motive verfolgt.26 Eine konkrete Gefahr, dass die Entscheidung von sachfremden Erwägungen beeinflusst wird, soll auch dann gegeben sein, wenn der Richter eine Zuständigkeit an sich zieht, um einen zur Entscheidung berufenen anderen Richter auszuschließen, um auf diesem Wege zu einem seinen Intentionen entsprechenden Ergebnis zu kommen, das bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften nicht oder voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre.27

Die Frage, ob in dem Kinderschutzverfahren eine Partei einen unrechtmäßigen Vor- oder Nachteil erlangt hat, stellt sich selbstverständlich erst dann, wenn man zuvor – wie die Kammer – eine elementare Rechtsverletzung bejaht hat. Die Kammer zitiert dazu auch die soeben referierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, um dann aber zu schreiben:

„Der Angeklagte hat durch die von ihm von vornherein geplante und zielgerichtete Entscheidung als voreingenommener Richter einen elementaren Verfahrensverstoß begangen, der die Unrechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung zur Folge hat. Die Frage, ob die von dem Angeklagten getroffene Anordnung unter Berücksichtigung der Ausführungen der eingeholten Sachverständigengutachten inhaltlich richtig gewesen ist, vermag angesichts der Schwere des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes an der Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung nichts zu ändern. Denn die Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung wird auch durch die Einhaltung der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze geprägt.“

Abgesehen davon, dass der zweite Satz sprachlich (wohl nicht zufällig!) verunglückt ist, zeigt dieser Absatz, dass die Kammer die Rechtsprechung des BGH nicht verstanden hat und deshalb auch nicht den Sachverhalt subsumieren kann. Wenn die von dem Angeklagten getroffene Anordnung inhaltlich richtig gewesen ist, was die Kammer für möglich hält (!), ist die Entscheidung nicht falsch und dann hat durch sie auch keine Partei einen unrechtmäßigen Vor- oder Nachteil erlangt. Der Freispruch für einen Unschuldigen wird nicht deshalb falsch, weil im Prozess Verfahrensvorschriften verletzt wurden. Genau das ist ja der Ausgangspunkt der Überlegungen des BGH zur Frage des Vor- bzw. Nachteils bei einem Verfahrensverstoß!28 Die Kammer hat dagegen das Problem nicht einmal erkannt, wenn sie schreibt, der (angebliche) Verfahrensverstoß mache die Entscheidung rechtswidrig. Das ist erschreckend.

5. Rechtsbeugungsvorsatz?

Rechtsbeugung kann nur vorsätzlich begangen werden. Der Vorsatz des Täters muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen, also nicht nur auf die Verletzung einer Rechtsnorm, sondern auch auf die Begünstigung oder Benachteiligung einer Partei.29 Bedingter Vorsatz ist ausreichend.

Da – die rechtliche Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer im Übrigen vorausgesetzt – als einzige Tathandlung das Unterlassen der Selbstanzeige in Betracht kommt, würde (bedingter) Vorsatz hier verlangen, dass dem Angeklagten bewusst war, dass er möglicherweise verpflichtet sein könnte, eine Selbstanzeige anzubringen, die Verletzung dieser Pflicht aber billigend in Kauf nahm und dass er außerdem davon ausging, dass durch das Unterlassen der Selbstanzeige die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung geschaffen wurde und auch das billigend in Kauf nahm.

Da die Kammer, wie oben dargelegt, aber die Befangenheit an sich als Rechtsbeugungshandlung betrachtet, prüft sie nur, ob der Angeklagte Vorsatz hinsichtlich seiner (angeblichen) Befangenheit hatte. Dabei meint sie, der Vorsatz ergebe sich daraus, dass der Angeklagte Anfang März 2021 in einer E-Mail geschrieben hatte, er wolle sich „kein Befangenheitsproblem einhandeln“, dass er eine Zeugin, von der er sich eine Anregung für das Verfahren erhoffte, bat, sie solle eine eventuelle Nachricht nicht an ihn weiterleiten, sondern ihm separat Bescheid geben, dass er die Sachverständigen von seiner privaten E-Mail-Adresse angeschrieben habe und dass er nicht mit der verfahrensanregenden Kindesmutter direkt kommuniziert habe, sondern über einen Zeugen.

Die naheliegende Interpretation der Äußerung, er wolle sich „kein Befangenheitsproblem einhandeln“, heißt allerdings nur, dass er keinen Anlass für einen Befangenheitsantrag geben, also nicht den Anschein von Befangenheit vermitteln wollte. Dass er sich tatsächlich für befangen gehalten hat, ergibt sich daraus nicht. Auch die anderen von der Kammer angeführten „Indizien“ lassen nicht den Schluss zu, dass der Angeklagte der Meinung war, er dürfte das Verfahren wegen Befangenheit an sich nicht führen und müsste versuchen, sich durch eine Selbstablehnung selbst „aus dem Rennen zu nehmen“. Das wäre vielleicht auch der Kammer klargeworden, hätte sie Vorsatz hinsichtlich des Unterlassens der Selbstanzeige und nicht hinsichtlich Befangenheit geprüft und sich daher die Frage gestellt, ob sie dem Angeklagten nachweisen kann, dass er den Gedanken hatte, dass er (möglicherweise) eine Selbstanzeige anbringen müsste. Diesen Beweis zu führen erscheint nach allem, was die Kammer ermittelt hat, unmöglich.

Nur am Rande sei bemerkt, dass sich die Kammer bei der Vorsatzfrage auch mit der Einlassung des Angeklagten zur Sache30 hätte auseinandersetzen müssen. Die Kammer referiert zwar auf fast 10 Seiten (S. 47-56), was der Angeklagten in der mündlichen Verhandlung gesagt hat, um dann aber nur lapidar zu schreiben, dass diese Einlassung durch die Beweisaufnahme widerlegt sei. Von einer echten Auseinandersetzung mit der Einlassung, bei der die Kammer die Darstellung der Vorgänge durch den Angeklagten hinsichtlich Schlüssigkeit und Plausibilität genau durchzubuchstabieren gehabt hätte, kann nicht ansatzweise die Rede sein.

Dass sie die Frage des Vorsatzes nicht nur hinsichtlich der mutmaßlichen Tathandlung, sondern auch hinsichtlich eines unrechtmäßigen Vorteils oder Nachteils für eine Partei bzw. einer insoweit bestehenden konkreten Gefahr prüfen müsste, wird von der Kammer gleich ganz übersehen und deshalb nicht erörtert.

6. Was die Staatsanwaltschaft in dem Verfahren antreibt

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren beantragt. Auch Richter, die wenig Sympathien für den Angeklagten und seinen Beschluss vom 08.04.2021 hatten, dürften angesichts eines solchen Antrages etwas erschrocken sein. Eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, die (gem. § 56 Abs. 2 StGB) nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wegen einer Tat der Rechtsbeugung hat es in Deutschland, soweit aus den veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich, in den letzten 30 Jahren nur ein einziges Mal gegeben.31 Der Staatsanwaltschaft genügte es nicht, dass Richter Dettmar bei einer Verurteilung sein Richteramt verlieren würde. Sie wollte ihn im Gefängnis sehen.

Was die Staatsanwaltschaft zu dieser Unerbittlichkeit antreibt, ist nicht ganz leicht zu erkennen, weil der Jurist, der im Rechtsstaat der Bundesrepublik sozialisiert wurde, damit nicht unbedingt rechnet. Dabei muss man die Staatsanwaltschaft nur bei ihrem Wort nehmen:

In der Anklageschrift werden ganz zu Beginn die Vorwürfe gegen den Angeklagten so zusammengefasst, dass es ihm allein aus persönlichen Motiven darauf angekommen sei, im einstweiligen Anordnungsverfahren eine mit Sachverständigengutachten unterlegte unanfechtbare Entscheidung mit Breitenwirkung in der Öffentlichkeit zu fällen, mit der die Unwirksamkeit und die Schädlichkeit von Coronamaßnahmen habe festgestellt und die zu Grunde liegenden landesrechtlichen Vorschriften für verfassungswidrig erklärt werden sollen.

Man kann sich an dieser Stelle wundern, warum die Anklage nicht, wie üblich, mit der Schilderung des mutmaßlichen tatbestandlichen Verhaltens beginnt, sondern mit der Darlegung von Motiven und Absichten des Angeklagten. Auch am Ende der Anklage wird erneut wiederholt, dass es ihm um die Veröffentlichung der Gutachten gegangen sei und er mit seiner Entscheidung „seinen Beitrag im Kampf gegen die staatlichen Maßnahmen“ habe leisten wollen.

Auch in ihrem Plädoyer in der Verhandlung vom 18.08.2023 hat die Vertreterin der Staatsanwaltschaft bereits zu Beginn zusammenfassend erklärt, der Angeklagte habe unter Ausnutzung seiner Autorität und Macht als Richter mit seiner Entscheidung und den Gutachten „ein Fanal“ gegen die seinerzeit bestehenden staatlichen Maßnahmen setzen wollen. Der Vorwurf, ein Fanal setzen zu wollen, wurde von ihr im Plädoyer noch zweimal wiederholt und gegen Ende erklärte sie, dem Angeklagten sei es nicht um die Kinder gegangen, sondern um „eine Generalabrechnung mit den staatlichen Coronamaßnahmen“. Bei der Begründung des Antrages erklärte sie dann, dass es strafschärfend zu berücksichtigen sei, dass der Angeklagte über Wochen geplant habe, wie er „seine Position als Familienrichter ausnützen könne, um die staatlichen Coronamaßnahmen an den Pranger zu stellen.“

Im Artikel zur Anklage (Abschnitt 4) war diese Hervorhebung der behaupteten Motive und Absichten des Angeklagten noch so gedeutet worden, dass die einzelnen Vorwürfe von Rechtsverletzungen in eine „Rahmenerzählung vom Missbrauch des Verfahrens für andere Zwecke“ eingebettet würden. Diese Deutung bedarf der Korrektur, denn damit ist die Intention der Staatsanwaltschaft nicht präzise erfasst. Es handelt sich nicht um eine Rahmenerzählung, sondern um den eigentlichen Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Der Kernvorwurf gegen den Angeklagten lautet nicht, dass er in dem Verfahren (angeblich) bestimmte prozessuale Normen in schwerwiegender Weise verletzt hat, sondern dass er als Richter öffentlichkeitswirksam die staatlichen Coronamaßnahmen kritisiert hat!

Das ist nur deshalb für den Juristen so schwer zu erkennen – dem juristischen Laien fällt es vielleicht leichter –, weil dieser Vorwurf überhaupt keinen Straftatbestand erfüllt. Die Politik der Landesregierung öffentlich zu kritisieren, ist in einer Demokratie nicht strafbar, auch dann nicht, wenn dies durch einen Richter geschieht.

Die einzelnen Vorwürfe von Rechtsverletzungen sind für die Staatsanwaltschaft daher nur von Bedeutung, um die Erfüllung des Rechtsbeugungstatbestandes behaupten zu können. Sie sind gewissermaßen nur notwendige Bedingung der Strafbarkeit, aber nicht der eigentliche Grund. Damit erklärt sich auch die Beliebigkeit des bunten Straußes an Rechtsverletzungsvorwürfen, den die Staatsanwaltschaft in der Anklage präsentiert hat, bis hin zu dem absurden Vorwurf, der Angeklagte habe sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht, indem er die Eignung des Verfahrensbeistandes der Kinder nicht ordentlich geprüft habe.

Wenn die Staatsanwaltschaft aber dem Angeklagten im Kern vorwirft, dass er die Politik der Landesregierung kritisiert hat, was – noch einmal! – nicht strafbar ist, dann hat sie hier von Anfang an ein Verfahren politischer Justiz betrieben. Sie verfolgt Richter Dettmar, weil er die Coronapolitik kritisiert hat und verhehlt dies noch nicht einmal. Wer dachte, politische Strafjustiz32 gibt es nur in Diktaturen und autoritären Staaten, wird durch die Staatsanwaltschaft Erfurt eines Besseren belehrt.

Sieht man das klar, überrascht auch der Antrag von 3 Jahren Freiheitsstrafe nicht mehr und auch nicht, dass die Staatsanwaltschaft Revision mit der Begründung eingelegt hat, 2 Jahre seien nicht schuldangemessen. Für die Staatsanwaltschaft ist das Handeln von Richter Dettmar eine Art Staatsverbrechen und das muss dann auch hart geahndet werden.

7. Zusammenfassung

Die Kammer sagt: Mit dem, was in den drei Gutachten steht, müssen wir uns nicht beschäftigen, weil es für die Entscheidung irrelevant ist. Sie verkennt damit, dass die Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, immer auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist.33 Die Kammer sagt damit – und nichts daran ist überspitzt, alles logische Konsequenz ihrer Argumentation: „Selbst wenn durch den Beschluss des Angeklagten – wenn er Bestand gehabt hätte – viele Kinder vor erheblichen physischen und/oder psychischen Schäden bewahrt worden wären und die Aufhebung des Beschlusses durch das Oberlandesgericht genau zu diesen Schäden geführt hat, wäre der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren zu verurteilen. Richter, die zwar Kindern helfen, dabei aber Rechtsregeln verletzen, sind hart zu bestrafen.“

Das ist unmenschliches Strafrecht.

Es lohnt sich, den Fall noch einmal als Narration wiederzugeben, in der auch der Anlass und gesellschaftliche Hintergrund des von dem Angeklagten geführten Verfahrens sowie die in ihm aufgeworfenen tatsächlichen Fragen vorkommen. Dies erscheint auch wichtig, um den Kontrast zu dem von der Staatsanwaltschaft eingeführten und von der Kammer zumindest teilweise übernommenen Narrativ von dem unerhörten und verwerflichen Anschlag eines Richters auf die Politik der Landesregierung deutlich zu machen.

Bei allen Fragen, die die Kammer offen gelassen hat, ist dabei nach dem Grundsatz in dubio pro reo („im Zweifel für den Angeklagten“) die für den Angeklagten günstigste Möglichkeit zugrundezulegen. Die Geschichte, die in Anspruch nimmt, im Einklang mit den Feststellungen des Urteils zu stehen und nichts Wesentliches wegzulassen, lautet so:

Zugunsten des Angeklagten ist davon auszugehen, dass die Thüringische Landesregierung die mit dem SARS-CoV-2-Virus verbundenen Gefahren für die Bevölkerung weit überschätzt hat. Es ist auch davon auszugehen, dass die Maskenpflicht in der Schule keinen relevanten positiven Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatte.34 Weiter ist davon auszugehen, dass durch die Maskenpflicht (und weitere Maßnahmen wie Abstandsgebot und Testpflicht) in der Schule das Wohl der betroffenen Kinder in physischer und/oder psychischer und/oder psychosozialer Hinsicht gefährdet wurde. Schließlich ist davon auszugehen, dass die Coronamaßnahmen in der Schule bei einer relevanten Anzahl von Schülern zumindest mitverantwortlich sind für Schäden wie Angsterkrankungen, Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Schulversagen. Da der Angeklagte sich schon frühzeitig intensiv mit den Coronamaßnahmen beschäftigt hatte und sich bereits eine – möglicherweise auch verfestigte – Meinung zu ihnen gebildet hatte, hatte er den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung durch die Maßnahmen. Als Familienrichter, der bei einem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung ein Verfahren gem. § 1666 BGB einzuleiten hat, hat er auf ein solches Verfahren aktiv hingearbeitet. Davon, dass ihm als Familienrichter das Recht die entsprechenden Kompetenzen verliehen hätte, ging er aus. Da er negative Konsequenzen eines Verfahrens zur Kindeswohlgefährdung durch Coronamaßnahmen in der Schule für die betroffenen Kinder bzw. ihre Familie nicht ausschließen konnte, wollte er ein solches Verfahren nur aufgrund der Anregung von Eltern, die die damit verbundenen Risiken bewusst einzugehen bereit waren, beginnen. Um einen etwaigen Beschluss auf eine solide fachliche Grundlage zu stellen und ihm mehr Überzeugungskraft zu verschaffen, holte er drei Gutachten von qualifizierten Wissenschaftlern ein. Zu seinen Gunsten ist davon auszugehen, dass die in den Gutachten getroffenen wissenschaftlichen Feststellungen vollumfänglich zutreffend sind. Mit seiner Entscheidung wollte der Angeklagte die von ihm durch die Gutachten als hinreichend bewiesen erachteten Kindeswohlgefährdung(en) für die betroffenen Schüler abwenden.35 Darüber hinaus war ihm auch an Öffentlichkeitswirksamkeit für seinen Beschluss gelegen, da nicht nur an den beiden Schulen, auf die sich seine Entscheidung bezog, sondern deutschlandweit Kinder von der Maskenpflicht in der Schule betroffen waren und er hoffte, dass andere Gerichte sich seiner Rechtsauffassung anschließen und zugunsten von Kindern entscheiden könnten. So kam es zu dem Beschluss vom 08.04.2021 und zu dem, was dann folgte.

8. Die Frage nach den Ursachen

Wie ist eine solche Entscheidung möglich?

Unter 3. c. und e. ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Kammer in ihrem Denken ganz offensichtlich nicht unbeeinflusst ist von der Abwertung und Ausgrenzung grundsätzlicher Kritik an der Coronapolitik im öffentlichen Diskurs als vernunftwidrig und illegitim.

Hinzu kommt ein weiteres. Die Kammer sah sich auch hinsichtlich des konkreten Verfahrens einem massiven Einfluss durch die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung ausgesetzt: Von Beginn an wurde der Beschluss vom 08.04.2021 zu einem Skandal und Richter Dettmar quasi zur Unperson erklärt. Beteiligt daran waren die regionale und die überregionale Presse, das Thüringer Bildungsministerium, Anzeigeerstatter wie die Vizepräsidentin des Thüringer Landtags und nicht zuletzt die Staatsanwaltschaft Erfurt, die nicht nur gegenüber der Presse, sondern auch mit den Durchsuchungen bei dem Beschuldigten, bei Sachverständigen und Zeugen die Botschaft vermittelte, dass es sich hier um einen geradezu beispiellosen Fall von Kriminalität eines Richters handele. Dieser Vorverurteilung in der veröffentlichten Meinung folgte eine Anklageschrift, in der die Staatsanwaltschaft sich alle Mühe gab, das Verhalten von Richter Dettmar als geradezu infamen Skandal darzustellen und ein möglichst negatives Bild von der Person des Angeklagten zu zeichnen.

Diesem massiven Druck hätte sich die Kammer erst einmal entziehen müssen, um ruhig und sachlich die Argumente von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu prüfen. Das war ihr offensichtlich nicht möglich. Wie bereits bemerkt: Die vielen logischen Brüche in der Argumentation sind nicht einfach durch Unvermögen zu erklären (obwohl das juristisch-argumentative Niveau tatsächlich erschreckend ist!). Sie weisen darauf hin, dass auf Seiten der Kammer vor aller sachlichen Beschäftigung ein Vorurteil bestand, das dem der veröffentlichten Meinung entsprach: Was Richter Dettmar getan hatte, war „etwas ganz Schlimmes“, etwas Unverzeihliches. Musste es dann nicht Rechtsbeugung sein?

Es sind auch nicht nur die Widersprüche in der Argumentation, die darauf hindeuten, dass das Urteil nicht (allein) auf der argumentativen Prüfung des Sachverhalts, sondern (auch) auf den bestehenden Vorurteilen beruht. Auch dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Einlassung des Angeklagten und dem Vorbringen der Verteidigung im Urteil überhaupt nicht stattfindet, kann nur so erklärt werden, dass die Kammer nicht bereit war, sich auf Gegenargumente ernsthaft einzulassen. Und es sind auch nicht nur die Argumente des Angeklagten und der Verteidigung, die im Urteil „herumstehen“, als wären sie Teil einer fremden Realität, mit der die Kammer nichts zu tun haben will. Es ist auch die Sache selbst, auf die sich die Kammer am Ende nicht einlassen will. Die Weigerung, die Besonderheiten eines amtswegigen Verfahrens zur Kenntnis zu nehmen, ist vielleicht das krasseste Beispiel dafür. Am Ende drängt sich der Eindruck auf, dass die Kammer sich von einem von Anfang an eingeschlagenen Weg nicht abbringen lassen wollte.

Das alles kann man Befangenheit nennen und es ist eine bittere Ironie des Verfahrens, dass hier Richter, denen es selbst an der notwendigen Objektivität, inneren Unabhängigkeit und Souveränität für ein hochpolitisiertes Strafverfahren fehlte – wobei sie sich insofern aber sicher keine Sekunde lang im Verdacht hatten –, über einen Kollegen zu Gericht saßen und ihn wegen (angeblicher) Befangenheit zu einer Strafe verurteilten, die bei Rechtskraft den Verlust seiner beruflichen Existenz bedeuten würde.

 

Endnoten

1
Das schriftliche Urteil wurde (bisher) nicht veröffentlicht, liegt KRiStA aber vor. Allgemein zugänglich ist auf der Webseite eines der Verteidiger des Angeklagten eine professionelle stenografische Mitschrift der mündlichen Urteilsbegründung.
2
Die subjektive Seite (Vorsatz) wird von der Kammer im Sachverhalt (entgegen den Üblichkeiten) nicht dargestellt, sondern erst in der rechtlichen Würdigung erörtert.
3
Abschnitte 3 bis 7.
4
Angesichts dessen wird deutlich, dass es der Staatsanwaltschaft in dem Verfahren keineswegs allein um die Wahrheit, sondern offenbar (auch) um andere Dinge ging. Denn dieser Vorwurf war schon durch die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch das OLG Jena in dem Beschluss vom 14.05.2021 vom Tisch, weil das OLG damit erklärte, dass die Frage auch aus seiner Sicht keineswegs abschließend geklärt sei (vgl. Artikel zur Anklage, Abschnitt 3).
5
Die Kammer übernimmt für das Urteil häufig Sätze und Formulierungen aus der Anklageschrift, die sie teilweise umformuliert. Das gelingt nicht immer. Die Vorlage (S. 4 der Anklage) lautete hier: „… führte der Angeschuldigte unter Missachtung der verfassungsrechtlich gebotenen richterlichen Unabhängigkeit allein aus persönlichen sachfremden Motiven heraus, …“
6
Im Zivilrecht (§ 48 ZPO) ist von Selbstablehnung die Rede, im Strafrecht (§ 30 StPO) von Selbstanzeige. Dies ist nur ein begrifflicher, kein sachlicher Unterschied.
7
Dies dürfte von dem Urteil des LG Freiburg, 03.03.2009, 2 KLs 210 Js 4263/08, BeckRS 2009, 29798, Rn. 19, übernommen worden sein.
8
Ein Beispiel für eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung durch Unterlassen und zu einer Geldstrafe ist der Fall des Hamburger Richters Schill. Schill, dem vorgeworfen wurde, er habe die Bearbeitung einer Beschwerde gegen einen Ordnungshaftbeschluss absichtlich verzögert, um eine frühere Entlassung der Inhaftierten durch das Beschwerdegericht zu verhindern, wurde in erster Instanz vom Landgericht Hamburg zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. In der Revision wurde das Urteil vom BGH (04.09.2001, 5 StR 92/01, juris) aufgehoben.
9
BeckOK ZPO/Vossler ZPO § 48 Rn. 7; Zöller/Vollkommer ZPO § 48 Rn. 11; KK-StPO/Heil StPO § 30 Rn. 6; BeckOK StPO/Cirener StPO § 30 Rn. 6.
10
LG Freiburg, 03.03.2009, 2 KLs 210 Js 4263/08, BeckRS 2009, 22988.
11
Der Angeklagte hat in dem Verfahren laut Urteilsfeststellungen auch eingeräumt, dass ihm klar war, dass er eine Selbstanzeige hätte machen müssen (a. a. O. Rn. 10).
12
BGH, Beschluss vom 05.08.2009, 1 StR 366/09. – Die Kammer führt den Fall auch an und meint tatsächlich, dass der Unrechtsgehalt der Handlungen des Angeklagten Dettmar deutlich höher zu bewerten sei als im Freiburger Fall, weil er nicht nur über eine von ihm mitbearbeitete Anregung entschieden habe, sondern zielgerichtet darauf hingewirkt habe, dass er ein Verfahren in seiner Zuständigkeit zur Entscheidung bekommt und deren Ergebnis von vornherein vorgefasst war (S. 134). Dass dies eine geradezu phänomenale rechtliche Fehlbewertung ist, wird im Folgenden noch im Detail aufgezeigt.
13
Dazu sogleich näher unter c. und d.
14
S. dazu bereits Artikel zur Urteilsverkündung.
15
Abschnitt 5.
16
Das ausschließliche Zitieren des Grundgesetzes und von Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an dieser Stelle, anstatt sich mit der umfangreichen Rechtsprechung zur Befangenheit auseinanderzusetzen, dient erkennbar dazu, die Vorwürfe möglichst „hoch anzuhängen“.
17
Dass der Richter am Ende dann auch noch selbst über die Sache abschließend entscheiden muss, während der Staatsanwalt „nur“ Anklage erheben kann, ist für den Vergleich ohne Belang.
18
Ein Einwand kann selbstverständlich nur ein Argument entkräften, nicht einen verwirklichten Straftatbestand. Solche sprachlichen Schwächen, die nicht für scharfes Denken sprechen, sind keine Seltenheit in dem Urteil.
19
Der Angeklagte hat in seiner Einlassung dazu erklärt, dass er das Verfahren wegen von vornherein für möglich gehaltener negativer Konsequenzen keiner Familie zumuten wollte, die das Verfahren nicht selbst gewollt habe.
20
Stenografisches Protokoll der Hauptverhandlung am Landgericht Erfurt am 23.08.2023 S. 13.
21
Sternal/Sternal FamFG § 25 Rn. 26; BeckOK FamFG/Burschel/Perleberg-Kölbel FamFG § 25 Rn. 6.
22
Sternal/Sternal a. a. O, Rn. 24.
23
Die Staatsanwaltschaft hatte in der Anklage noch ganz offen die Auffassung vertreten, dass die Gutachter schon deshalb nicht hätten beauftragt werden dürfen, weil sie Mitglieder in dem Verein Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie (MWGFD) e. V. waren.
24
Im Urteil wörtlich wiedergegeben auf den Seiten 22-24.
25
LK-StGB/Hilgendorf, § 339, Rn. 81; MüKoStGB/Uebele StGB § 339 Rn. 58.
26
BGHSt 42, 343, juris Rn. 24.
27
BGHSt 42, 343, juris Rn. 26.
28
Wörtlich z. B. BGH, 20.09.2000, 2 StR 276/00: “Allerdings liegt es bei Verfahrensverstößen nicht ohne weiteres auf der Hand, dass durch die Rechtsverletzung eine Besserstellung oder Benachteiligung einer Partei bewirkt wird. Die Nichtbeachtung von Zuständigkeitsnormen kann für sich genommen für das Ergebnis indifferent sein, da der Richter bei der Sachentscheidung an die gleichen rechtlichen Bestimmungen gebunden ist, wie der an sich zuständige Richter.“
29
MüKoStGB/Uebele StGB § 339 Rn. 61, Schönke/Schröder/Heine/Hecker StGB § 339 Rn. 13 m. w. N.
30
Erwiderung des Angeklagten auf die Verlesung der Anklageschrift.
31
LG Hagen, 18.11.2021, 46 KLs 8/21, juris. Das Landgericht Hagen verurteilte mit dieser Entscheidung eine Richterin wegen Rechtsbeugung in 10 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Urkundenfälschung und in 6 Fällen in Tateinheit mit Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. In die Gesamtstrafe gingen zwei Einzelstrafen von 2 Jahren und 6 Monaten (Einsatzstrafe) bzw. 2 Jahre und 2 Monate Freiheitsstrafe ein, die übrigen Einzelstrafen lagen unter 2 Jahren. Das Urteil wurde vom BGH (29.11.2022, 4 StR 149/22, juris) im gesamten Strafausspruch aufgehoben und im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass die tateinheitliche Urkundenunterdrückung in allen 6 Fällen entfiel.
32
Vgl. dazu Ostendorf, Politische Strafjustiz in Deutschland.
33
Vgl. dazu schon Artikel zur Anklage, Abschnitte 1 und 8 und Artikel zur Urteilsverkündung.
34
Aktuell dazu Welt 08.12.2023: Forscher finden keinen Beweis für Wirksamkeit der Corona-Maskenpflicht für Kinder.
35
Das hält die Kammer nicht nur für möglich, sondern davon geht sie positiv aus (S. 136).

https://netzwerkkrista.de/2023/12/15/nur-ein-schwaecheanfall-der-justiz-noch-einmal-das-urteil-des-landgerichts-erfurt-gegen-christian-dettmar/

 

 

Landgericht Erfurt - Geschäftsverteilungsplan vom 14.08.2024:


2. Strafkammer
Zuständigkeit:
a) erstinstanzliche Strafsachen gem. § 74 Abs. 1 GVG gemäß dem unter B III Nr. 2 a) und b)
festgelegten Verteilungsturnus;
b) die in der Revisionsinstanz aufgehobenen und an das Landgericht Erfurt
zurückverwiesenen Sachen der 1. Strafkammer des Landgerichts;
c) Angelegenheiten aus dem Zuständigkeitsbereich der großen Strafkammern, die keiner
anderen Strafkammer zugewiesen sind;
d) Beschwerden in Straf- und Ordnungswidrigkeitssachen gegen Erwachsene einschließlich
der Beschwerden gegen Entscheidungen in Straf- und Ordnungswidrigkeitssachen nach
dem Beratungshilfegesetz sowie Anträge auf gerichtliche Entscheidung gem. § 161a
StPO, soweit diese Ermittlungen gegen Personen zum Gegenstand haben, deren
unmittelbare Dienstvorgesetzte die Präsidentin des Landgerichts Erfurt ist oder bei denen
die Präsidentin des Landgerichts Erfurt ein Disziplinarverfahren eingeleitet hat.
Besetzung:
Vorsitzender: VRLG Hampel (mit 90 % seiner Arbeitskraft)
Vertreterin des Vorsitzenden: R’inLG Krieg
Beisitzer: R’inLG Krieg (mit 75 % ihrer Arbeitskraft)
R’in Kästner (mit 45 % ihrer Arbeitskraft)
Vertretungsregelung:
Die Beisitzer der 2. Strafkammer werden durch die Beisitzer der 4., im Verhinderungsfalle
durch die der 8. Strafkammer, im Weiteren durch die Beisitzer der 10., 11. und 1.
Strafkammer vertrete

https://gerichte.thueringen.de/media/tmmjv_gerichte/Oberlandesgericht/Gerichte_in_Thueringen/Landgerichtsbezirk_Erfurt/Landgericht_Erfurt/Dokumente/Geschaeftsverteilung/Richterliche_Geschaeftsverteilung_2024.08.14.pdf

 

 

 


 

 

 

 

Schock-Urteil: Mutiger Maskenrichter von Weimar zu zwei Jahren Haft verurteilt Gericht setzt die Strafe zur Bewährung aus

VERÖFFENTLICHT AM 23. Aug 2023

Das Landgericht Erfurt hat den Weimarer Familienrichter Christian Dettmar zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wegen Rechtsbeugung. Das Gericht setzte die Strafe zur Bewährung aus, so dass ihm zumindest der Gang ins Gefängnis erspart bleibt; seine berufliche Existenz wäre aber vernichtet, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Dies könnte auch das Ziel des ganzen Verfahrens gewesen sein – ein klares Zeichen zu setzen dafür, dass Widerstand gegen absurde staatliche Zwangsmaßnahmen existenzvernichtend sein kann. Zum Vergleich: In Augsburg wurde 2021 ein Richter lediglich zu einer Geldstrafe von 1.800 Euro verurteilt, nachdem er Tausende Kinderporno-Bilder in seinen Besitz gebracht hatte – unter anderem aus Strafakten, für die er zuständig war (dazu unten mehr).

Die Staatsanwältin, die der rot-rot-grünen Landesregierung gegenüber weisungsgebunden ist, wollte Dettmar sogar ins Gefängnis schicken und hatte drei Jahre Haft ohne Bewährung gefordert. Der Verteidiger des bereits suspendierten Richters hatte auf Freispruch plädiert..

Der Staatsanwältin ist das Urteil offenbar nicht hart genug, sie kündigte sofort an, dass sie eine Revision beim Bundesgerichtshof prüfen werde – offenbar mit dem Ziel, Dettmar doch noch ins Gefängnis zu bringen. Auch die Verteidiger des Richters sagten laut MRD, sie würden Rechtsmittel prüfen. Sollte das Urteil Bestand haben, würde Dettmar nicht nur sein Richteramt, sondern auch seine Pension verlieren.

Der Vorsitzende Richter sagte laut MDR in der Begründung für die Entscheidung, der Angeklagte habe ein Urteil gefällt, „das er von vornherein so beabsichtigt hatte“. Das Verfahren am Amtsgericht Weimar, in dem er seine Entscheidung fällte, habe er aktiv generiert.

Der Familienrichter habe dazu den Verein „Kritische Richter und Staatsanwälte“ mitgegründet, so das Gericht. Der damals am Amtsgericht Weimar tätige Jurist ordnete im April 2021 an, dass die Kinder an zwei Weimarer Schulen keine Masken mehr tragen müssten. Er begründete seine einstweilige Anordnung mit dem Kindeswohl.

Interessant ist, wie der MDR in seinem Bericht manipuliert. Darin heißt es etwa: „Der Jurist habe gar keine Zuständigkeit für die ihm vorgelegte Frage gehabt, entschied zum Beispiel das Thüringer Oberlandesgericht. Der Bundesgerichtshof hat diese Auffassung inzwischen bestätigt.“ Dass zwischenzeitlich aber das Karlsruher Oberlandesgericht genau umgekehrt entschieden hat, enthält der MDR seinen Zuhörern vor. Dabei ist dies entscheidend: Es belegt, dass Dettmar damit vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs durchaus gute Gründe gehabt haben konnte, eine andere Meinung zu haben als später die obersten Richter.
Mutiger Widerstand

Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar hatte Anfang April 2021 bundesweit für Schlagzeilen gesorgt: In einem Gerichtsentscheid verbot er die Masken-, Abstands- und Testpflicht an zwei Weimarer Schulen. In seinen Augen war sie Kindeswohlgefährdung. Damals galt eine solche Ansicht noch als Ketzerei. Heute setzt sie sich immer mehr durch. Doch Dettmar hatte es gewagt, sich gegen die staatlichen Maßnahmen zu stellen. Und so schlug die Justiz mit voller Härte gegen ihn zu. Und auch gegen andere Beteiligte. Es gab Durchsuchungen von Wohnungen und Büroräumen von Richter Dettmar, dem Verfahrensbeistand der Kinder, einer Mutter sowie von den Gutachtern Prof. Ulrike Kämmerer, Prof. Dr. Christian Kuhbandner, Prof. Dr. Ines Kappstein und Uli Masuth, und einem Kandidaten der Partei „dieBasis“. Handys, Computer und Unterlagen wurden dabei von der Polizei beschlagnahmt. Zustände, wie man sie sonst aus autoritären Staaten gewohnt ist. Fast erübrigt es sich zu erwähnen, dass die Entscheidung des Richters aufgehoben wurde.

In dem Verfahren hatte die Staatsanwältin den Sachverhalt im voll besetzten Saal des Erfurter Landgerichts umgedreht in einer Art und Weise, die an Romane von Kafka und Orwell erinnerte: Der Angeklagte habe sein Amt mit Füßen getreten und dem Rechtsstaat geschadet. Sie warf Dettmar also genau das vor, was Kritiker ihr und ihrer ganzen Behörde vorwerfen. Die Staatsanwältin ist gebunden an Weisungen der rot-rot-grünen Landesregierung bzw. der grünen Justizministerin Doreen Denstädt, einer ehemaligen Sachbearbeiterin bei der Polizei, die durch die Quote ins Amt gerutscht ist.

Besonders pikant: Zu Beginn der Ermittlungen war der damalige Justizminister noch Dirk Adams von den Grünen. Der hat sich seine politischen Sporen als Mitarbeiter im Wahlkreisbüro der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt verdient und sich für Schnellverfahren nach Corona-Protesten ausgesprochen – also für genau das, womit sich die Grünen bei Kriminellen oft sehr schwertun.


Gerechte Justiz?

Der Prozess ist auch deshalb brisant, weil die Justiz bisher fast ausschließlich gegen Kritiker der Corona-Maßnahmen vorgeht, sowie Ärzte und Richter, die sich diesen widersetzten. Die Verantwortlichen für diese Maßnahmen schont die Justiz ebenso wie die Hetzer, die massive Vorbehalte und Hass gegen Ungeimpfte schürten.

Statt einer kritischen Aufarbeitung der Corona-Zeit erleben wir aktuell das Gegenteil – eine Jagd der Justiz auf diejenigen, die für eine Aufarbeitung stehen.

Zum Schluss hier noch der oben bereits erwähnte Vergleich. Dettmar wurde zu zwei Jahren verurteilt, weil er eine, wie wir heute wissen, absurde Regelung außer Kraft setzte. In Augsburg wurde 2021 ein Richter wegen Besitzes von Kinderpornografie zu einer Geldstrafe von 1.800 Euro verurteilt. Der Mann war dafür bekannt, besonders harte Urteile zu fällen. 2018 brummte er einem Bäckerei-Verkäufer 1800 Euro Strafe auf (genauso viel wie er später selbst bekam)– weil der Schnitzel und Wurst für 19,87 Euro geklaut hatte! Der Richter hatte sich Tausende Kindesmissbrauchsdarstellungen besorgt – unter anderem aus Strafakten, die er als Richter hatte. Er wurde, anders als der Maskenrichter, nur zu einer Geldstrafe verurteilt. Vorausgegangen war ein „Deal“ – dafür, dass der Kinderporno-Konsument sein Richteramt niederlegte, bekam der eine derart milde Strafe. Ein Augsburger Jurist erzählte mir kürzlich, dieser Fall habe ihm den Glauben an die Justiz genommen.

https://reitschuster.de/post/schock-urteil-mutiger-maskenrichter-von-weimar-zu-zwei-jahren-haft-verurteilt/





 

 


Hexenjagd auf Weimarer Maskenrichter jetzt auch vor Gericht Prozessauftakt in Erfurt


VERÖFFENTLICHT AM 16. Jun 2023

Wie extrem falsch die Aufarbeitung der Corona-Zeit in Deutschland läuft, zeigt jetzt ein Blick nach Erfurt, ins dortige Landgericht. Obwohl zwischenzeitlich bekannt ist, dass ein großer Teil der Corona-Maßnahmen unsinnig war und die massiven Einschränkungen der Grundrechte damit ein Fall für die Justiz sein müssten, stehen nicht diejenigen vor Gericht, die verantwortlich sind für den Corona-Wahnsinn und dessen Deckung durch die Gerichte. Im Gegenteil. Einer der wenigen Richter, die sich gegen den totalitären Unfug sträubten, muss sich jetzt in der thüringischen Landeshauptstadt vor Gericht verantworten. Ihm, der im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen vorbildlich Recht sprach, wird vorgeworfen, Recht gebeugt zu haben.

Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar hatte Anfang April 2021 eine Entscheidung gefällt, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte: Er verbot die Masken-, Abstands- und Testpflicht an zwei Weimarer Schulen, weil er in ihnen eine Kindeswohlgefährdung erkannt hatte. Die Empörung der Corona-Fanatiker war lautstark und gewaltig. Und die Justiz schlug mit voller Härte gegen die richterliche Freiheit zu. Auf Betreiben der Staatsanwaltschaft wurden Wohnungen und Büroräume von Richter Dettmar, dem Verfahrensbeistand der Kinder, einer Mutter sowie von den Gutachtern Prof. Ulrike Kämmerer, Prof. Dr. Christian Kuhbandner, Prof. Dr. Ines Kappstein und Uli Masuth, einem Kandidaten der Partei »dieBasis«, durchsucht. Handys, Computer sowie Unterlagen wurden dabei von der Polizei beschlagnahmt. Zustände, wie man sie sonst aus autoritären Staaten gewohnt ist. Fast erübrigt es sich zu erwähnen, dass die Entscheidung des Richters aufgehoben wurde.

Die Erfurter Staatsanwaltschaft wirft Dettmar vor, er habe elementare Verfahrensvorschriften missachtet und gegen materielles Recht verstoßen. Sein Beschluss gegenüber Leitungen und Lehrenden zweier Schulen sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen sei „willkürlich“. Besonders pikant: Die Staatsanwaltschaft in Thüringen ist an die Weisungen von Justizminister Dirk Adams von den Grünen gebunden. Der hat sich seine politischen Sporen als Mitarbeiter im Wahlkreisbüro der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt verdient und sich für Schnellverfahren nach Corona-Protesten ausgesprochen – also für genau das, womit sich die Grünen bei Kriminellen oft sehr schwertun.

Der Spiegel schrieb 2021 über den Fall: „Wie ein Amtsrichter Coronaleugner jubeln lässt“. Jetzt lässt die Staatsanwaltschaft die Corona-Fanatiker und Staatsgläubigen auch in den Redaktionen jubeln. Das Hamburger Blatt, vom einstigen „Sturmgeschütz der Demokratie“ zum „Sturmgeschütz der Regierung gegen die Demokratie“ degradiert und auch mit Spenden von der Bill-Gates-Stiftung ausgestattet, zitiert das Erfurter Landgericht bzw. die Anklage wie folgt: „Der Angeklagte habe sich dabei laut Anklage in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt, um die angebliche Unwirksamkeit und Schädlichkeit staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie öffentlichkeitswirksam darzustellen. Im Fall einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung droht dem Richter eine Freiheitsstrafe von zwischen einem Jahr und fünf Jahren. Seine Entscheidungen, die er mit einer angeblichen Kindeswohlgefährdung begründete, hatten damals Verwunderung und Empörung ausgelöst.“

Der Angeklagte Richter Christian Dettmar selbst hat sein Handeln verteidigt. Zum Prozessauftakt am Landgericht Erfurt gab der 60-Jährige am Donnerstag eine fast einstündige juristische Erklärung ab, wie der öffentlich-rechtliche „MDR“ berichtet: „Er wisse bis heute nicht, warum er vor Gericht sitzt. Als Familienrichter habe er im Tragen einer Corona-Maske im Schulunterricht eine Kindeswohlgefährdung gesehen. Damit war nach Ansicht des Angeklagten Gefahr im Verzug, und er habe handeln müssen.“

Für mich persönlich ist die Frage, wer hier tatsächlich Rechtsbeugung begangen hat. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hatte dem jetzt angeklagten Richter nämlich den Rücken gestärkt. In dem Beschluss zeigte es auf, dass das Familiengericht gemäß § 1666 BGB verpflichtet ist, nach pflichtgemäßem Ermessen Vorermittlungen einzuleiten. Ein Familiengericht könne die Prüfung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliege, nicht einfach auf das Verwaltungsgericht verlagern, so das OLG. Es hatte diesen Beschluss gefasst, weil eine Mutter aus Pforzheim gegen die schulischen Corona-Maßnahmen geklagt hatte. Sie sah, wie die Weimarer Eltern, das körperliche, seelische und geistige Wohl ihrer Kinder gefährdet. Das Pforzheimer Familiengericht wollte den Fall nicht untersuchen und verwies an das Verwaltungsgericht.

Der Beschluss der ranghohen Karlsruher Richter lässt die Anklage der vom grünen Justizministerium abhängigen Staatsanwaltschaft in Erfurt sehr merkwürdig erscheinen. Der Verdacht liegt auf der Hand, dass hier wieder einmal die Justiz instrumentalisiert werden soll, um Corona-Maßnahmen-Kritiker einzuschüchtern und zu kriminalisieren – auch noch im Nachhinein. Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Denn statt Menschen, die der Corona-Politik kritisch gegenüberstehen wie Richter Dettmar, müssten diejenigen im Visier der Justiz stehen, die sie zu verantworten hatten. RKI-Chef Lothar Wieler, Jens Spahn, Angela Merkel, Karl Lauterbach und viele andere.

Man kann nur darauf zu hoffen, dass die Richter in Erfurt sich ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und nicht zu den leider schon vielen Vertretern ihres Berufsstandes gehören, die politisch stramm auf Linie sind.

https://reitschuster.de/post/hexenjagd-auf-weimarer-maskenrichter-jetzt-auch-vor-gericht/

 

 

 

Dieses Strafverfahren ist ein politisches Verfahren“ Prozess gegen Sensationsrichter Dettmar vertagt

20.04.2023

Am Dienstag hätte vor dem Landgericht Erfurt der von vielen Beobachtern mit Spannung erwartete Prozess gegen den Sensationsrichter Christian Dettmar beginnen sollen. Bis Anfang Juli waren insgesamt zehn Verhandlungstage angesetzt. Eigentlich. Doch wenige Tage vor dem Auftakt verkündete das Gericht am vergangenen Freitag die Vertagung auf den 15. Juni 2023. Als Grund wurde die Bestellung eines weiteren Verteidigers zur Verfahrensabsicherung genannt. Dettmar wird bereits durch den Wahlverteidiger Gerhard Strate vertreten. Da dieser aber aus Hamburg kommt, bestellte das Gericht als Pflichtverteidiger zudem Peter Tuppat, einen Rechtsanwalt aus dem nähergelegenen Jena. Darüber hinaus sehen Juristen die Vertagung des Prozesses gegen Dettmar auch aus verfahrenstechnischen Gründen als sinnvoll an. Aktuell ist vor dem Oberlandesgericht Jena noch ein Beschwerdeverfahren in dieser Sache anhängig, dessen Ausgang eine durchaus relevante Bedeutung für das Verfahren in der Hauptsache beigemessen wird. ...

Zwischen den Zeilen der Erklärung der kritischen Richter und Staatsanwälte wird immer wieder deutlich: Die Staatsanwaltschaft Erfurt kann sich eine Niederlage vor Gericht kaum erlauben, sie braucht einen Schuldspruch gegen Richter Christian Dettmar. ...

 https://reitschuster.de/post/dieses-strafverfahren-ist-ein-politisches-verfahren/

 

 



 

 

 

Missbrauchsvorwürfe gegen Hauptzeugen der Anklage in Wormser Prozessen:

 

http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt206.html

 

(links auf ‚Kinderschutz’ klicken!)

 

Posteingang 27.11.2007

 

 


 

 

 

»Missbrauchsverdacht - Fehldiagnose - Folge

Grenzen der Wiedergutmachung

Dieser Beitrag wurde als Vortrag an der evangelischen Akademie Arnoldshain am 14.05.2006 gehalten und befasst sich im Wesentlichen mit Erkenntnissen des Verfassers aus seiner Tätigkeit als Strafverteidiger in den sogenannten “Wormser Kinderschänderprozessen” sowie nachfolgender, auch aktueller Rechtsprechung und Literatur.

 

Zunächst möchte ich einen Bericht voranschicken, der sich auf meine Tätigkeit als Verteidiger im Verfahren Worms I bezieht.

Die Gerichtsbesetzung war so, dass zunächst Herr Vorsitzender Richter am Landgericht Härtter dem Verfahren vorgesessen hat und sodann, nachdem dieser ausgeschieden war, Herr Beutel, der heutige Oberbürgermeister von Mainz, als Vorsitzender nachgerückt ist.

I.

Aufgrund der Medienberichte im Vorfeld der Hauptverhandlung und der Beweisaufnahme, war die Vorverurteilung gerade auch meiner Mandantin so groß, dass man sich über die ungewöhnliche Härte, mit der dieses Verfahren geführt wurde, nicht wundern muss.

Insgesamt fanden drei Verfahren statt, die sich gegen 25 Personen richteten, die in unterschiedlicher verwandtschaftlicher Beziehung zueinander standen.

Angeblich sollten sich alle diese Personen u. a. zum gemeinsamen sexuellen Mißbrauch der Kinder verabredet haben.

Ich habe verteidigt in dem ersten Verfahren, das im November 1994 begann und im Dezember 1996 seinen Abschluss gefunden hat. Dieses Verfahren begann unter dem damaligen Vorsitzenden Herrn Richter am Landgericht Härtter, der dieses Verfahren auf exakt drei Monate terminiert hatte. Das Verfahren sollte nach seiner Intention bereits im Februar 1995 beendet sein.

Beredtes Beispiel für die Eiseskälte und Härte, mit der dieses Verfahren geführt wurde, ist die Verfügung des Vorsitzenden vom 17.11.1994, die ich nachfolgend wiedergebe, um damit deutlich zu machen, auf welche Art und Weise bei Verfahren dieser Art, insbesondere bei diesem, mit den Rechten der Beschuldigten und der Angeklagten umgegangen worden ist:

Anlage

Dieser sprachliche Duktus, meine sehr geehrte Damen und Herren, lässt den Atem stocken und das Blut in den Adern gefrieren.

Ich will von der gnadenlosen Härte in der Sache selbst überhaupt nicht reden. Die Sprache, dieser technokratische Verwaltungsjargon, dieser Grundton, den man vor 50 Jahren mit Stumpf und Stiel ausgerottet wähnte, das ist es, weshalb man entsetzt fragen muss, was war hier geschehen, dass eine derartige menschenverachtende Verfügung möglich machte. Wie konnte es geschehen, dass die Angeklagten schlimmer als eine Sache, schlimmer als Vieh, dass sie behandelt wurden wie Bestien in Menschengestalt.

Dreierlei wird man als Ursache für eine derartige Entgleisung festmachen müssen:

Der damalige Vorsitzende hatte sich die Horrorvisionen der Staatsanwaltschaft, wie sie in der Anklageschrift formuliert waren, bereits zu eigen gemacht.

Diese Horrorvisionen waren geeignet, rechtsstaatliches Denken außer Kraft zu setzen, die Unschuldsvermutung galt nichts mehr, Beschuldigter und Schuldiger waren identisch geworden.

Diese Umstände alleine taugen als Erklärung aber nicht, denn auch der Schuldige bleibt Mensch und wird nicht, weil er Schuld auf sich geladen hat, zur nur noch zu sichernden Bestie.

Die Gewißheit von der Identität zwischen Anklage und Wirklichkeit muss also ein solches Potential an negativen Emotionen freigesetzt haben, dass diese, statt der Ratio, handlungsbestimmend wurden.

Der sprachliche Duktus schon der Verfügung des Vorsitzenden, hat eine Haltung offenbart, die für die Einstellung vieler an dem Verfahren aktiv beteiligter Personen symptomatisch gewesen ist, ja auch, man kann sagen bis zum Schluss des Verfahrens.

Problem des Verfahrens ist gewesen, dass bei allen, die aktiv zum Entstehen dieses Verfahrens beigetragen haben, rational bestimmte Handlungsweisen von Emotionen zurückgedrängt worden sind und bei allen Beteiligten, seien es die seitens des Gerichts und der Staatsanwaltschaft bestellten Sachverständigen gewesen, seien es die Staatsanwälte gewesen, seien es die kindervernehmenden Ermittlungsrichter gewesen oder gar die Betreuer in den Heimen, haben sich nicht auf ihre jeweils angestammte Aufgabe beschränkt, sondern das Handeln aller war vielmehr von Motivations- und Zielrichtungsbündeln bestimmt.

Sämtliche verstanden sich spontan sowohl als Beschützer wie auch als Ermittler.

Mit dieser unheilvollen Verbindung unvereinbarer Rollen nahm das Verhängnis seinen Lauf, und diese unheilvolle Verbindung ist zum Zentralproblem des Verfahrens geworden.

Eines der Probleme dieses Verfahrens, welches praktisch den Grundstein gelegt hat, war die ärztliche Untersuchung am 07.06.1991 und zwar die ärztliche Untersuchung der Jenny, die auf Betreiben ihrer Tanten, also unter anderem meiner Mandantin und den Rat einer Kindergärtnerin hin wegen einer unversorgten Kopfwunde in der Praxis der dieses Verfahrens auch bestimmenden Kinderärzte Sievers und Veit in Worms vorgestellt worden ist.

Ich erspare Ihnen ein Eingehen auf die Umstände im einzelnen, will jedoch klarmachen, was ich mit unheilvoller Verknüpfung und unvereinbarer Rollen meine. Die Stellungnahme des behandelnden Arztes Dr. S. lautete wörtlich wie folgt:

“Wenn auch einzelne kleinere Verletzungen (Kratzer: 3 im Gesicht, Prellung: 9 am Knie) zufällig entstanden sein können, so sind doch die große Anzahl von Verletzungen unterschiedlichen Alters (beurteilt nach Grad der Verschorfung und Farbe der Blutergüsse), ihre Lokalisation (besonders am Rücken: 11,16) vorn, Ausdehnung und Richtung (Hinweis auf stabförmige Gegenstände: 12, 13 14) nach Erfahrung und Literatur sehr eindeutige Hinweise auf körperliche Mißhandlung, hier sichtbar an der Bilanz von etwa zwei Wochen. Hinzu kommt die bezüglich der Stirnverletzung “-ich wiederhole ausdrücklich, dass der behandelnde Arzt auf die Stirnverletzung verweist -” sehr eindeutige Aussagen des Kindes sowie der aus Verhalten und Aussage des Kindes sehr dringende Verdacht auf wiederholten sexuellen Mißbrauch. Der hierzu notwendige körperliche Untersuchungsbefund “- man merke auf -” war während der Erstvorstellung nicht mit Einverständnis des Kindes zu erheben. Zahlreiche früher durch Verwandte beobachtete Verletzungen des Kindes sind ebenfalls zu berücksichtigen.

Zum Schutz des Kindes vor fortgesetzter körperlicher Mißhandlung und fortgesetztem sexuellem Mißbrauch ist es erforderlich,

1.

bis zur abschließenden Klärung weder der Mutter noch dem jetzigen Ehemann den Umgang mit dem Kind zu gestatten,

2.

dringend über Aufenthaltsbestimmungs- und Sorgerecht unter Berücksichtigung der angeführten Befunde im Interesse des Kindeswohles zu entscheiden,

3.

über den Aufenthalt des ersten Kindes (R.) ist ebenfalls zu entscheiden.

Nach meiner Kenntnis der Verhältnisse schlage ich vor, das Kind in der Obhut der Großmutter und/oder der Tante, Frau Sandra H., “meine Mandantin” - das Zugangsrecht für den Vater zu belassen.”

Der behandelnde Arzt kam mithin ohne Untersuchung des Genitalbereiches und unter besonderer Hervorhebung der Äußerung des Kindes zur Stirnverletzung, schon zu der Erkenntnis, es bestehe der dringende Verdacht wiederholten sexuellen Mißbrauchs. Gleichzeitig gibt er Handlungsanweisungen, wie zum Schutz des Kindes vor fortgesetztem sexuellem Mißbrauch zu verfahren ist, schließlich gibt er Anweisung, dass der Bruder in die Maßnahmen mit einzubeziehen ist.

Das also war die Qualität der ärztlichen Befunde, von denen die Staatsanwaltschaft zu Beginn des Verfahrens - insbesondere der damalige leitende Oberstaatsanwalt von Mainz in die Pflicht nehmen lassen - vor laufender Kamera mehrfach immer wieder geäußert hat, sie seien geeignet, den sexuellen Mißbrauch zu beweisen.

Es gab auch weitere Befunderhebungen, auf abenteuerliche Weise erhobene milimetergroße, sog. Ragaden, mit bloßem Auge eingeschätzt miilimetergenau, besorgniserregende Hymenalweiten, ebenfalls mit bloßem Auge milimetergenau festgestellt und das Klaffen des Sphinkter durch schätzenden Vergleich mit einem Maßband festgestellt. Jedenfalls hat der gerichtsmedizinische Sachverständige Prof. Urban vor der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Beitrag der Redaktion “Frontal” vom 24.09.1996 im ZDF eindeutig dargelegt, es gäbe in den vorliegenden Verfahren keinen validen medizinischen Hinweis auf sexuelle Mißbrauchshandlungen.

Welche Verhaltensweisen dieser Vorwurf und der unprofessionelle Umgang damit ausgelöst hat, belegt ein weiteres Beispiel dieses Verfahrens.

Einschneidendes Ereignis war der Tod der Mutter meiner Mandantin, die ebenfalls angeklagt war und am 14.01.1995 in der Justizvollzugsanstalt Mainz in der Untersuchungshaft verstorben ist. Sie wurde um 11.30 Uhr Tod in ihrer Zelle aufgefunden. Meine Mandantin, ihre Tochter, wurde hiervon erst um 15.30 Uhr unterrichtet.

Wir haben uns im Rahmen einer Verteidigererklärung mit diesen Umständen auseinandergesetzt, die wie folgt lautete:

Der Tod eines Angeklagten während der Hauptverhandlung findet nach der Strafprozessordnung nicht statt. Es soll nicht erörtert werden, was der Grund dieser Regelungslücke sein könnte, nach der Rechtsprechung jedenfalls erledigt der Tod des Angeklagten das Verfahren, ohne dass es eines Einstellungsbeschlusses bedürfte, zu finden in der Kommentierung zu § 206a StPO (Einstellung bei Verfahrenshindernis). Der Tod von Frau Waltraut B. hat also das gegen sie gerichtete Verfahren erledigt. Ein Verfahren, dessen Begleitumstände geprägt waren von außerordentlicher Härte und kleinlichen Ge- und Verboten.

Seit die Angeklagten alle in der JVA Mainz untergebracht sind, wird ihr Leben in der Justizvollzugsanstalt von einem Trennungsbeschluss bestimmt, der zu isolationshaften Zuständen führt. Die Angeklagten sind ausgeschlossen von Gemeinschaftsveranstaltungen, sie sind weitgehend ausgeschlossen vom täglichen Hofgang, sie sind ausgeschlossen vom sogenannten Umschluss, der einzigen Möglichkeit, während der ansonsten 24-stündigen Zellenunterbringung Kontakt zu einem Mitmenschen zu haben. Den ohnehin während Sitzungspausen gefesselten Angeklagten war geboten, auf ihrem Sitz sitzen zu bleiben, ihnen war verboten, aufzustehen. Ihnen war verboten, mit ihren Familienangehörigen, soweit man nicht unmittelbar nebeneinander sitzt, zu sprechen, ihnen war gar Heiterkeit verboten, Ordnungsrufe in dramatischer Situation unterbanden spontanmenschliche Zuwendungsbedürfnisse.

Anträge der Verteidigung, deren Bescheidung zwangsläufig Zeit beanspruchte, Zeit, die offenbar für dieses Verfahren nicht einkalkuliert war, führten zu Verhandlungen, die alle Verfahrensbeteiligten bis an den Rand der Aufnahmefähigkeit brachten und zur Streichung einer vom Gericht vor Verfahrensbeginn ausdrücklich als verhandlungsfrei bezeichneten Zeit über den Jahreswechsel 1994/1995.

Die Angeklagten wurden zum Objekt von Sicherungsmaßnahmen, Ordnungsmitteln und Zeitplänen, für die verfahrensimmanente Begründungen nicht ersichtlich waren. Die hier geschilderten Verfahrensbegleitumstände erhalten angesichts des Todes von Frau Waltraut B. für sie jedenfalls den Charakter von Endgültigkeit. Die Frage nach möglichen Änderung drängt sich in der gegebenen Situation geradezu auf.

Verfassung und Rechtsprechung lassen die Angeklagten nicht im Stich. Statt vieler Urteile des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts soll beim Nestor des Strafprozessrechts, bei Karl Peters zitiert werden:

“Artikel 1 GG geht von der Unantastbarkeit der Menschenwürde aus. Ihre Beachtung und ihren Schutz schreibt die Verfassung als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt vor. Damit ist der Begriff der Menschenwürde auch in das Strafverfahrensrecht eingeführt. Die Würde des Menschen besteht in dem, was ihn vor der übrigen belebten und unbelebten Schöpfung auszeichnet. Es ist seine Persönlichkeit. Sie befähigt ihn zum Denken, Empfinden, Forschen und Werten, zum sittlichen Handeln und Beurteilen. Sie ermöglicht es ihm, über die Diesseitsbezogenheit vorzudringen. Sie gibt ihm die Fähigkeit, geistiges Wesen zu sein. Sie kann zwar durch ihren Träger überdeckt, aber nicht vernichtet werden. Infolge dessen hat auch der Verbrecher Menschenwürde. Die Menschenwürde begründet die Verantwortlichkeit des Menschen, macht ihn zum Einstehen für seine Haltung und sein Tun sowie zur Sühneleistung fähig. Das Strafrecht setzt als ein auf Sühne ausgerichtetes Recht die Anerkennung menschlicher Würde, der Freiheit und der Verantwortlichkeit voraus. Es darf weder im materiellen noch im prozessualen Recht den Menschen zum Objekt degradieren (Peters Strafprozess, 4. Aufl., S. 26).”

Im Sinne dieser Ausführungen möge der Tod von Frau Waltraut B. nachdenklich machen.

Das Verfahren wurde nicht etwa im Hinblick darauf für 30 Tage unterbrochen, sondern deshalb, weil der damalige Vorsitzende Härtter einen Gehörsturz erlitten hatte und dem Verfahren nicht weiter vorsitzen konnte. Er fand nicht einmal Worte des Beileids, sondern, beweinte ausschließlich seinen Gesundheitszustand.

Der Ergänzungsrichter musste nachrücken und den Vorsitz übernahm der bis dahin als Berichterstatter tätige Richter am Landgericht Beutel, der heutige Oberbürgermeister von Mainz.

Die politischen Ambitionen unseres nun ins Verfahren eingetretenen Vorsitzenden waren jedoch auch von Anfang an klar bzw. es kristallisierte sich dann im Jahr 1995 heraus, dass er für die SPD als Kandidat zur Wahl zum Oberbürgermeister von Mainz kandidieren würde.

Ich will lediglich dieses Faktum in den Raum stellen. Die sich hieraus ergebenden Schlüsse mag jeder für sich selbst ziehen.

Tatsache ist jedenfalls, dass das Verfahren dann unter Herrn Beutel als Vorsitzenden fortgeführt wurde und klar geworden war, dass trotz der Unzulänglichkeit um nicht zu sagen dilettantischen Ausführungen der bis dahin bestellten Sachverständigen Meyer-Bouxin (korrekter Name Mayer-Bouxin - Anmerkung Väternotruf) und Hengesch andere Sachverständige nicht bestellt werden sollten, so dass als präsenter Sachverständiger von Herrn Kollegen Harschneck mit einer umfassenden Begründung Herr Prof. Dr. Burkhard Schade hinzugeladen worden ist.

Die finanzielle Möglichkeit hierzu ergab sich ausschließlich daraus, dass der Mandant ein Angehöriger der US-Streitkräfte war und sich diese für die anfallenden Kosten stark sagten.

Ansonsten wäre die Möglichkeit der Einbringung eines weiteren Sachverständigen abgeschnitten gewesen.

Herr Prof. Dr. Burkhard Schade wohnte dann als präsenter Sachverständiger dem Verfahren etwa seit März 1995 bis zum Schluss bei, war bei jeder Vernehmung der kindlichen Zeugen zugegen, die im Verfahren Worms I. nach der konventionellen Methode erfolgte.

Die Angeklagten und die Öffentlichkeit waren ausgeschlossen. Es war lediglich den Verteidigern, der Staatsanwaltschaft, den Nebenklagevertretern, dem Jugendamt, den Sachverständigen und natürlich dem Gericht nebst Ergänzungsschöffen gestattet, dieser Vernehmung beizuwohnen, was immerhin auch bei der Vernehmung der kindlichen Zeugen zu einem Personenaufkommen von etwa 20-25 Personen führte.

Anders verhielt es sich in den Verfahren Worms II. und III., zu deren Ablauf im einzelnen ich nur soviel sagen kann, dass sie in wesentlich harmonischerer Atmosphäre um nicht zu sagen angenehmer Atmosphäre stattfanden, nachdem sich Gericht und Verteidigung darauf geeinigt hatten, dass die Videovernehmung von der Verteidigung nicht beanstandet wird, wenn das Gericht einen weiteren Sachverständigen bestellt.

So kam es dort zu der Bestellung der Sachverständigen, Frau Dr. Kluck und des Sachverständigen Prof. Dr. Köhnken in den Parallelverfahren.

Im vorliegenden Verfahren jedenfalls führte die Befragung der kindlichen Zeugen der Vorsitzende, “Originalton”:

“Ich verbitte mir jegliche Interaktion der übrigen Prozessbeteiligten während meiner Befragung.”

zu zahlreichen Befangenheitsanträgen.

Die Befangenheitsanträge wurden, wie nicht anders zu erwarten, ablehnend beschieden, obwohl die Kammer wie auch die Ablehnungskammer Geisteshaltungen offenbarte, wie etwa im Beschluss vom 06.07.1995 u. a. im folgenden ihren Ausdruck fanden:

“Diese Wertung liegt für die - immerhin anwaltlich beratenen - Angeklagten, deren Verteidiger als juristisch beschlagene Personen ernst genommen werden wollen, so offenkundig auf der Hand, dass die Annahme, das eigentliche Ziel des Antrages sei nicht die Wahrung prozessualer Rechte, sondern vielmehr die Verschleppung des anhängigen Verfahrens recht nahe liegt …..”

Mit den Anträge der Verteidigung, die wissenschaftlich fundiert waren und die schlicht und ergreifend die Rechte der Angeklagten, die im Rahmen dieses Verfahrens mit Füssen getreten wurden, reklamierten, setzte sich die Kammer offensichtlich nicht auseinander.

Nachdem zahlreiche Anträge auf Aufhebung der Haftbefehl gestellt worden waren, erfolgte sodann im Rahmen der Hauptverhandlung vom 21.05.1996 die Aufhebung sämtlicher Haftbefehle.

Die Freilassung meiner Mandantin wurde angeordnet und im Dezember 1996, und zwar am 20.12.1996, vier Tage vor Heiligabend, fast auf den Tag drei Jahre nach der Festnahme meiner Mandantin, wurde sie dann freigesprochen. Ein Umfangsverfahren von 112 Verhandlungstagen und einer Dauer von über zwei Jahren hatte seinen Abschluss gefunden.

Die Staatsanwaltschaft hatte für meine Mandantin noch eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren gefordert. Die von der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil eingelegt Revision wurde später zurückgenommen.

Dieser Bericht, meine sehr geehrten Damen und Herren, der nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Verfahren wiedergegeben hat, soll Ihnen deutlich machen, wie wichtig die sach- und fachkundige Auseinandersetzung mit Vorwürfen der hier in Rede stehenden Art ist und welche Folgen Fehldiagnosen haben können, die ausschließlich darauf beruhen, dass Gutachter und nicht etwa Sachverständige, sich mit dem Vorwurf in unzulänglicher Form auseinandersetzen,

welche Wirkung sodann die Medienbefassung mit derartigen Verfahren hat und die Spätfolgen dieses Verfahrens dann eben diejenigen sind, dass meine Mandantin

- Mutter von drei Kindern - die sämtlich im Dezember 1993 aus der Familie herausgenommen wurden, bis heute die Tochter, die damals das 3. Lebensjahr gerade vollendet hat, nicht mehr wiedergesehen hat.

II.

Ich will damit eingehen auf die Anforderungen, die an einen Sachverständigen und die Mindeststandards aussage-psychologischer Gutachten zu stellen sind.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes nahm den Fall Flachslanden zum Anlass, in einem Grundsatzurteil “methodische Mindeststandards” für gerichtliche Verwertbarkeit eines aussage-psychologischen Gutachtens zu formulieren (vgl. hierzu: BGH in NJW 1999, 2746 ff.)

Im konkreten Fall hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 30.07.1999 das Urteil des Landgerichts Ansbach aufgehoben und zu erneuter Verhandlung durch eine andere Jugendkammer des gleichen Landgerichts zurückverwiesen. Diese Kammer hat alsdann ein neues aussagepsychologisches Gutachten über die Bekundungen der jugendlichen Hauptbelastungszeugin in Auftrag gegeben. Die nunmehr zugezogene Sachverständige kam zu dem Ergebnis:

“Die Aussage entspricht in ihrer Qualität - vor dem Hintergrund aller diskutierten Rahmenkriterien - nicht einer erlebnisorientierten Aussage über das angegebene Delikt (langjähriger Inzest).”

Die 2. Strafkammer des Landgerichts Ansbach als Jugendkammer beendete daraufhin das Verfahren durch Einstellung:

“Das Verfahren wird mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gemäß § 153a Abs. 1 und 2 StPO (endgültig) eingestellt.

Der Angeklagte hat anstelle einer zu erteilenden Geldauflage auf Entschädigung für die in dieser Sache erlittene Haft verzichtet.”

Zur Begründung führt die Strafkammer aus:

“Entsprechend der jetzigen Beweislage besteht nur noch ein Tatverdacht für ein Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB als sog. minder schwerer Fall …; das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung kann durch Auflagen beseitigt werden.”

Es handelt sich bei dieser Art der Einstellung um eine Beendigung mit Selbstunterwerfung, wobei die Auflagen nicht den Charakter einer strafrechtlichen Reaktion haben. In diesem Fall brauchte der Angeklagte den Geldbetrag (der keine Geldbuße ist!) nicht wirklich zu zahlen, da dieser durch seinen Verzicht auf die ihm zugestandene Haftentschädigung als entrichtet angesehen wurde. Zum Verständnis dieser Art der Verfahrensbeendigung weist MEYER-GOSSNER (2003) in seinem Kommentar zur Strafprozessordnung ausdrücklich darauf hin:

“Die Unschuldsvermutung nach Art. 6 II MRK ist bei einer Einstellung nach § 153a StPO nicht widerlegt (BVerfG MDR 91, 891; NStZ-RR 96, 168; NJW 96, 3353, 3354; FEZER ZStW 106, 33)” (Rz. 2 zu § 153a StPO)

Dass nicht nur die in den aufsehenerregenden Massenbeschuldigungsverfahren erstatteten aussagepsychologischen Gutachten serienweise mangelhaft waren, sondern auch in der großen Menge der “alltäglichen” Strafverfahren falsche und mangelhafte aussagepsychologische Gutachten vorkommen, ist aus einer großen Zahl aussagepsychologischer Gutachtern bekannt.

Die Lage ist auf dem Gebiet familienrechtlicher Gutachten nicht besser, sondern schlechter. Das hat LEITNER (1998 damals Mitarbeiter am Institut für Pädagogische Psychologie der TU Dresden) auf Grund einer methodenkritischen Analyse einer einigermaßen repräsentativen Stichprobe von 52 Gutachten nachgewiesen. Die Gutachten stammen aus den Jahren 1994 - 1998, und zwar 50 % aus Bayern und 50 % aus anderen (einschließlich der neuen) Bundesländern. Aus freien Praxen bzw. Instituten kamen 50 % der Gutachten, von Mitgliedern der bundesweit tätigen Gesellschaft für Wissenschaftliche Gerichtspsychologie (München) 43 % und 7 % aus Hochschulinstituten. Das Ergebnis der Auswertung dieser Gutachten lautet:

“Nachdem viele Gutachten der vorliegenden Stichprobe auf relevanten Ebenen ganz elementaren wissenschaftlichen Anforderungen unzureichend genügen, erscheinen sie als Entscheidungsgrundlage für Umgangs- und Sorgerechtsregelung, die sich auf die künftige Lebenswelt und das Erziehungsgeld von Kindern sehr nachhaltig auswirken, in der vorliegenden Form eher inadäquat.

Die in diesem Rahmen gemachten Aussagen und Empfehlungen entbehren bisweilen der erforderlichen wissenschaftlichen Grundlage sogar bis hin auf elementarste Forderungen, die an wissenschaftliches Arbeiten gestellt werden müssen.

Neben der unzureichenden wissenschaftlichen Fundierung der psychologischen Untersuchung sind aber auch elementare erziehungswissenschaftliche Grundlagen (erziehungswissenschaftliche Theorien und Konzepte), die für solche Fragestellungen sehr bedeutsam wären, den Gutachten der vorliegenden Stichprobe kaum zu entnehmen” (S. 163).

Auch STELLER (2000 a) ist auf Grund seiner Kenntnis vieler familienrechtlicher Gutachten zu der Überzeugung gelangt, dass

“auch … im Rahmen familienrechtlicher Verfahren von einer bedeutsamen Dunkelziffer falsch-positiver Mißbrauchsfeststellungen auszugehen” (S. 9)

ist.

Wissenschaftliche Anforderungen, die an gerichtsverwertbare familienpsychologische Gutachten gestellt werden müssen, sind in dem Buch WESTHOFF, TERLINDEN-ARZT und KLÜBER (2000) systematisch zusammengestellt.

2. Medizinische Gutachten

Bei so viel Unsicherheit im psychologischen Bereich nimmt ein Gericht gern seine Zuflucht zu den soliden und augenfälligen körperlichen Befunden, mit denen medizinische Gutachter aufwarten können. Die Genauigkeit und die Zuverlässigkeit medizinischer Diagnosen des Kindesmißbrauchs rückten jedoch plötzlich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit durch die sog. “Cleveland crisis”. Der Regierungsbezirk Cleveland liegt in der Grafschaft York (Nordengland).

Im General Hospital der Stadt Middlesbrough war die Kinderärztin Dr. HIGGS und ihr jüngerer Kollege Dr. WYATT tätig. Dr. HIGGS hatte von einem Kinderarzt in Leeds (Dr. WYNNE) gelernt, dass ein Phänomen, welches als “reflex relaxation and anal dilatation” bezeichnet wurde, typischerweise zu finden sei bei Kindern, die anal mißbraucht worden waren. Sie vermittelte dieses Wissen auch an ihren jüngeren Kollegen, In Cleveland war während der Jahre 1985 und 1986 von verschiedenen Seiten die Meinung geäußert worden, es werde von den verantwortlichen Stellen dem Problem des sexuellen Kindesmißbrauchs nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht. Diesen Eindruck wollen die beiden Ärzte durch ihre Aktivitäten entgegenwirken. Sie entkleideten daher jedes Kind, das zu ihnen zur Untersuchung kam, um nach dem Vorhandensein dieses Anzeichens Ausschau zu halten. Die Untersuchung des Analbereichs erfolgt bei diesen Prüfungen so, dass sich das Kind in kniender Stellung mit der Brust auf den Untersuchungstisch stützt. Durch einen behutsamen Fingerdruck werden die Gesäßhälften getrennt und mehrere Minuten in dieser Stellung gehalten. Unter diesen Bedingungen kann der “anale Dilatationsreflex” beobachtet werden, der in einem spontanen Nachlassen der Kontraktion des Schließmuskels (mithin in einer Öffnung des Afters) besteht.

Im Laufe der Monate Mai und Juni 1987 hatten die beiden Kinderärzte bei 121 Kindern (so sagt die Lord-Richterin BUTLER-SLOSS (1988), oder sogar 197, wie der Unterhaus-Abgeordnete Stuart BELL (1988) berichtete. Die meisten der betroffenen Kinder sind daraufhin sofort aus den Familien herausgenommen und zu Pflegeeltern oder in Kinderheime verbracht worden. Die Kinder, die Mütter und vor allem die Väter wurden von Mitarbeitern des Jugendamtes und von der Polizei verhört. Ein Jahr später waren 98 Kinder wieder bei ihren Eltern, 21 waren noch von ihren Familien getrennt. Unabsehbarer Schaden war den betroffenen Kindern und ihren Familien zugefügt worden auf Grund massenhafter ärztlicher Fehldiagnosen, die von Jugendämtern, Polizei sowie Anklagebehörden und Gerichten unkritisch ihren Maßnahmen zugrunde gelegt worden sind. Das britische Parlament wurde mit der Sache befasst. Es setzte einen Untersuchungsausschuß ein, dessen Vorsitz die Lord-Richterin BUTLER-SLOSS übernahm. Der Untersuchungsausschuß erstattete einen umfangreichen Bericht, der durch den Sozialminister dem Parlament übergeben wurde. Es erwies sich, dass die von den Kinderärzten angenommene Spezifität bestimmter körperlicher Anzeichen für sexuellen Mißbrauch keineswegs die von ihnen angenommene Spezifität besaßen. Es ist richtig, dass der anale Dilatationsreflex bei Kindern die anal mißbraucht worden sind, auftritt. Was aber ist darüber bekannt, mit welcher Verbreitung er bei nicht mißbrauchten Kindern auftritt?

Dieser Frage gingen der US-amerikanischen Kinderarzt McCANN und seine Mitarbeiter (1989) an der University of California in Davis nach. Sie untersuchten eine Stichprobe von 161 Mädchen und 100 Jungen im Alter von 2 Monaten bis 11 Jahren im Hinblick auf verschiedene Befunde in der Analregion, u. a. auch im Hinblick auf das Vorkommen des analen Dilatationsreflexes. In die Stichprobe wurden nur Kinder aufgenommen, bei denen eingehende psychologische Untersuchungen und Untersuchungen durch auf Kindesmißbrauch spezialisierte Kinderärzte zu dem Ergebnis geführt hatten, dass sie mit größter Wahrscheinlichkeit niemals einem sexuellen Mißbrauch ausgesetzt waren. Er fand eine anhaltende oder intermittierende Öffnung des Afters während einer Beobachtungszeit bis zu sechs Minuten in 49 % der untersuchten nicht-mißbrauchten Kinder (S. 187). Es kann danach keine Rede davon sein, dass dieser Befund ein irgendwie belangreiches Indiz für einen analen Mißbrauch wäre.

Der Wert von Indizien hängt von der Höhe ihrer Spezifität ab. Ein Merkmal, das bei vielen oder allen mißbrauchten Kindern, aber bei keinem oder jedenfalls nur wenigen der nicht mißbrauchten Kinder auftritt, hat eine hohe Spezifität (90 bis 100 %), ein Merkmal, welches mit annähernd gleicher Häufigkeit bei mißbrauchten wie bei nicht mißbrauchten Kindern auftritt, hat eine geringe oder gar keine Spezifität, m. a. W. keinen Indizwwert. Befunde, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf stattgehabten sexuellen Mißbrauch hinweisen, haben McCANN und KERNS in de CD-ROM Farbatlas “The Anatomy of Child and Adolscent Sexual Abuse” (1999) zusammengestellt. Die derzeit empirisch am besten fundierte Zusammenstellung von medizinischen Befunden in ihrer Aussagekraft für die Abklärung des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch eines Kindes ist das “ADAMS Classification System for Assessing Physical, Laboratory, and Historical Information in Suspected Child Sexual Abuse 2001? (ADAMS, 2001).

In den “Wormser Mißbrauchsprozessen” hat der dortige Kinderarzt Dr. VEIT auf Grund von ihm bei den Kindern erhobener Befunde die Diagnose gestellt, sie seien sexuell mißbraucht worden. STELLER (2000 b) teilt mit, dass

“anale Dilatation zum diagnostischen Beleg für sexuellen Kindesmißbrauch in den Ausführungen des sich selbst als Experten darstellenden Dr. V. trotz des Fiaskos in Cleveland fröhliche Urständ feierte” (S.236).

Der Mainzer Rechtsmediziner URBAN betonte hingegen in seinem mündlichen Gutachten in dem Verfahren Worms III,

“dass ein den Mißbrauch beweisender Befund nur bei Spermanachweis bzw. Schwangerschaft vorliege. Selbst sexuell übertragbare Erkrankungen seien nur beschränkt beweisfähig” (STELLER 2000 b, S. 241).

STELLER verweist hierzu auf weitere deutschsprachige Literatur :

NAVRATIL (1995), HASLER (1995), KOHL & PETZOLDT (1996).

Demgegenüber hat die Düsseldorfer Rechtsmedizinerin TRUBE-BECKER (1992) anscheinend den Boden der Realität verlassen, wenn sie empfiehlt:

“Grundsätzlich sollte jeder Arzt auch an sexuellen Mißbrauch im Kindesalter als Verursacher von Krankheitserscheinungen denken, wie auch andere mit Kindern und Jugendlichen befaßte Personen: Lehrer, Nachbarn, Mütter und Eltern” (S. 62).

Die Vorstellung, dass auf dieser Grundlage Gutachten für Gerichtsverfahren erstattet werden, kann einen nur das Fürchten lehren.

SARSTEDT (1977) hat darauf hingewiesen, dass die von den Justizbehörden zugezogenen Sachverständigen ausgewiesene Fachleute sein müssten, nur dürften es keine Ärzte und Psychologen sein, die

“für die kritische Situation des Strafprozesses Aufgaben in verschiedenen medizinischen Spezialgebieten … übernehmen, von denen jedes einzelne selbst für den Spezialisten schwer zu überschauen ist” (S. 175).

Auch für kinderärztliche Untersuchungen gibt es wissenschaftliche Standards, die beachtet werden müssen, damit die Untersuchung eine wissenschaftlich gesicherte und damit gerichtlich verwertbare Erkenntnis erbringt. Die standardisierten Untersuchungsbedingungen und die standardisierten Meßpunkte sowie Normwerte für die genitale Untersuchung von weiblichen Kindern sind bei McCANN u. a. (1990) angegeben, gleiches ist für die Untersuchung der Analregion bei Jungen wie Mädchen bei McCANN u. a. (1989) angegeben.

Nachdem es wissenschaftliche Standards für psychologische wie medizinische Untersuchungen gibt, ist es möglich, vorgelegte Gutachten daraufhin zu überprüfen, ob sie diesen Standards genügen und ob sie allgemein-wissenschaftliche Methodik befolgen (die auf strafrechtlichem Gebiet darin besteht, von der Unschuldsvermutung (Art. 6 II EMRK) auszugehen und diese so lange beizubehalten, bis sie mit den erhobenen Befunden nicht mehr vereinbar ist.

Gleiches gilt auch im familienrechtlichen Bereich. Das OLG Frankfurt a. M. hat in seinem Beschluss vom 30.06.1995 - 6 UF 60/95 - ausgeführt:

“In anderen Verfahren konnte der erkennende Senat schon die Feststellung machen, dass nicht nur Elternteile, sondern auch sog. Professionelle mit dem Verdacht des sexuellen Mißbrauchs ihrerseits Mißbrauch getrieben haben. Der Senat ist daher vorsichtig, einem Elternteil den Vorwurf einer Straftat von derart einschneidender Schwere für diesen selbst als auch für die beteiligten Kinder zu machen (vgl. hierzu auch OLG Stuttgart FamRZ 1994, 718); die in unserem demokratischen Rechtsstaat allgemein geltende Unschuldsvermutung darf gerade in den vielfach hoch emotional geführten Familiensachen … als Richtschnur nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere, wenn dem Beschuldigten angesonnen wird, zu beweisen, dass er etwas (ein Negativum) nicht getan hat und auch nicht (mehr) tun wird”(Urteilsabschrift, S. 6).

Es wird gelegentlich eingewandt, dieses Vorgehen könne für das familiengerichtliche Verfahren nicht gelten, da in diesem viel mehr die “Kindeswohlmaxime” in den Mittelpunkt zu stellen und eine Gefährdung des Kindeswohls zu verhindern sei.

Gegen diese Ansicht wendet DETTENBORN mit Recht ein:

“Solche Aussagen sind sinnfrei, solange nicht die verschiedenen Aspekte des Kindeswohls auch in ihrer Ursprünglichkeit gesehen werden. Vereinfacht gesagt, steht immer die Frage, welches Kindeswohl gemeint ist, im Raum” (2001, S. 25).

Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Entscheidung über einen Umgangsausschluss festgestellt, es könne nicht schon die “entfernte” Möglichkeit, dass ein Mißbrauch in der Vergangenheit vorgelegen hat, der sich in der Zukunft fortsetzen könnte, ausreichend sein, um so einschneidende Maßnahmen wie Sorgerechtsentzug und Aussetzung oder Ausschluss des Umgangsrechtes zu rechtfertigen, vielmehr könnten dafür

“nur Feststellungen in Betracht kommen, die eine Gefährdung als ‘naheliegend’ erscheinen lassen”,

als solche

“bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen”,

dass eine konkrete Gefährdung tatsächlich gegeben ist (DVBl 15. Sept. 1993, S. 995).

DETTENBORN (2001) bemerkt dazu im Recht:

“Damit ist eigentlich kein Unterschied mehr festzustellen zum Prinzip der Wahrheitsfindung im Strafrecht. Hier wie da wird von der Unwahr-Hypothese auszugehen sein, bis diese nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Das bedeutet ja auch nichts anderes, als ein bewährtes und grundlegendes wissenschaftliches Denkprinzip einzuhalten, nämlich einen Sachverhalt so lange zu negieren, bis diese Negation nicht mehr mit Fakten zu vereinbaren ist. Daraus ergibt sich in jedem Fall ein höherer Grad an Zuverlässigkeit von Beurteilungen (vgl. STELLER & VOLBERT, 2000). Darauf kann auch deshalb nicht verzichtet werden, weil unsichere Ausgangsbedingungen schließlich ein Kennzeichen der hier gemeinten Fälle sind. Allenfalls kann man spezifische Gründe für die Anwendung der genannten Vorgehensweise im familiengerichtlichen Verfahren anführen: Nicht ‘in dubio pro reo’ ist der Anlass, nicht die Rechtssicherheit des Verdächtigen, sondern die Gefahr, durch deplazierte Interventionen, d. h. durch Eingriffe ohne reale Mißbrauchsvorkommnisse, das Kindeswohl direkt oder indirekt zu schädigen.

Die Restrisikomenge ist am kleinsten, wenn an die Berechtigung eines Mißbrauchsvorwurfs analoge Ansprüche gestellt werden wie im Strafrecht. … Deshalb greifen auch die Bedenken nicht, von der Unwahr-Hypothese auszugehen, entspreche nur der Tendenz im Strafverfahren, falsch positive Urteile, also Falschbeschuldigungen, zu minimieren und falsch negative Urteile eher hinzunehmen (FEGERT 1999, 201 a). Die ganz anderen leitenden Prämissen und die ‘Kindeswohlmaxime’ im Familienrecht (FEGERT, 2001 a, S. 6) vertrüge sich nicht damit, sondern eher mit der umgekehrten Tendenz. Hier spiegelt sich die Auffassung, nur Schutz vor sexuellem Mißbrauch könne kindeswohldienlich sein, nicht aber Schutz vor deplatzierten Interventionen aufgrund von Falschbeschuldigungen” (S. 28 f.)

Dies wirft natürlich die Frage auf, wie derartige Gutachten einer Überprüfung zugänglich zu machen sind und auf welche Punkte sich eine derartige Überprüfung zu erstrecken hat.

3. Überprüfung von Gutachten

Damit kommen wir natürlich zum nächsten Punkt, nämlich der Überprüfung von Gutachten und insbesondere der Frage, welche Gutachter überhaupt zur Gutachtenerstattung berufen sind.

Hierbei sind verschiedene Fallkonstellationen denkbar.

Es muss allerdings sichergestellt sein, dass ein Psychologe als Sachverständiger ausgewählt wird, der auf dem Spezialgebiet der forensischen Aussagepsychologie die erforderlichen “besonderen Fachkenntnisse” und ausreichende einschlägige Berufserfahrung hat.

Der BGH legt seit langem Wert darauf, dass für eine bestimmte Fragestellung nicht nur der richtige Fachvertreter, sondern unter den vorhandenen Fachvertretern einer derjenigen ausgewählt wird, die für die anliegende Fragestellung das beste Spezialwissen und entsprechende spezielle Berufserfahrungen hat. So genügt es ihm nicht, dass der für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Hirnverletzten Sachverständige Neurologe ist, sondern er verlangt einen Spezialisten für Hirnverletzte (BGH NJW 1952, 633; BGH NJW 1969, 1578; MDR 1986, 441, NStZ 1987, 16, StV 1988, 52). Entsprechendes gilt für das Gebiet der Forensischen Aussagepsychologie. So schreibt BOETTICHER (2002):

“Es soll sich der Familienpsychologe, der Verkehrs-, der Polizei- oder Strafvollzugspsychologe eben nicht auf dem Gebiet der Aussagepsychologie ‘versuchen’ dürfen. Der Unterschied zwischen einem psychologischen Gutachten über die elterliche Sorge oder das Umgangsrecht einerseits und der Begutachtung einer Aussage in einem Strafverfahren andererseits liegt auf der Hand” (S. 9).

Auch Psychotherapeuten und Klinische Psychologen sind wegen ihrer andersartigen Ausbildung, Arbeitsweise und Zielrichtung für aussagepsychologische Begutachtungen nicht geeignet. Der emeritierte Kieler Ordinarius für Psychologie WEGENER, seinerseits sowohl Mediziner als auch Psychologe, hat hierzu ausgeführt:

“In den USA wurde in der Tages- und Fachpresse über zahlreiche Fälle von Kindern berichtet, deren belastende Zeugenaussagen von den Gerichten als unbrauchbar beurteilt werden mussten, nachdem dieselben Personen zugleich die Rolle des helfenden Therapeuten und die des Ermittlers für das spätere Strafverfahren übernommen hatten. Der Verfasser hat ähnliche Fälle auch in der Bundesrepublik beobachten können. Das Bemühen, als Therapeut dem Kinde in seiner schwierigen psychischen Situation beizustehen und zugleich als Gutachter wie ein ‘Ermittler’ strafrechtlich relevante Informationen zu sammeln, erwies sich als nicht durchführbar; beide Ziele erfordern im konkreten Fall vielmehr unterschiedliche Einstellungen und Vorgehensweisen.

Der Therapeut legt die subjektive Wahrheit seines Probanden zugrunde, der Sachverständige hat dagegen dabei den objektiven Sachverhalt aufzuklären. Jener geht - als Voraussetzung einer therapeutischen Beziehung - von den Angaben des Kindes aus, dieser muss die Möglichkeit einer Falschbeschuldigung in seine Überlegungen und Befragungen gezielt einbeziehen. Jede Rollendiffusion muss hier vermieden werden. Der Therapeut nimmt dem Kinde im günstigen Falle die Angst und Unsicherheit, vermittelt ihm jedoch häufig auch erst die sprachlichen Begriffe und das Wissen zur Darstellung sexueller Handlungen. Dadurch verliert das Kind seine ‘Unbefangenheit’ und die spätere Befragung reproduziert dann möglicherweise an Stelle eigener unmittelbarer Erinnerungsvorstellungen an das kriminelle Ereignis die in der Therapie erlernten Termini und Vorgangsbeschreibungen” (1992, S 34).

Daher ist auch Skepsis geboten gegenüber Erinnerungen an sexuellen Mißbrauch oder rituelle Tötungen (z. B. in Satanskulten), die erst während einer Psychotherapie aufgetaucht sind. Die in diesem Kontext von entsprechend orientierten Psychotherapeuten ausgehenden latenten oder manifesten, bewussten oder unbewussten Suggestionen sind in der wissenschaftlichen Literatur gut belegt und theoretisch durchleuchtet worden (OFSHE & WATTERS, 1996; LOFTUS & KETCHAM, 1995; CROMBAG & MERCKELBACH, 1997).

Neuerdings melden sich Psychotraumatologen zu Wort, die behaupten, bei der Beurteilung der Aussagen von Zeugen, die möglicherweise Opfer einer Sexualstraftat geworden sind, seien nur sie zuständig, weil bei den Aussagen dieser Zeugen die bewährten aussagepsychologischen Realitätskriterien (entwickelt von UNDEUTSCH 1967) nicht anwendbar seien. Wegen einer durch die möglichen Straftaten hervorgerufenen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS: ICD - 10 F 43.1 = DSM - IV - TR 309.81) seien diese Personen häufig zu einer - nach den Kriterien der Aussagepsychologie - qualitativ hochwertigen Aussage gar nicht fähig (SCHEUER & WELZEL 2001; v. HINCKELDEY & FISCHER, 2002). SCHEUER und WELZEL schreiben:

“Die Person entwickelt ein gestörtes Selbst- und Weltbild” (S. 140).

“Bezogen auf die Aussage ist insbesondere bei einem affektiv getönten Bericht über das Geschehen mit Teilamnesien, Vermeidung besonders belastender Erinnerungen und Verleugnung eigener Anteile zu rechnen. Auch der Bezug zu Raum, Zeit und Kausalität kann durchaus gestört sein. Dass eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten für die Betroffenen nicht möglich ist …, ist geradezu Kernbestand der Definition eines psychischen Traumas.” (S. 141).

Sie fordern als Konsequenz aus diesen angeblichen Erkenntnissen:

“Deshalb muss nach diesem trauma-kompensatorischen Mechanismen gesucht werden. Gesucht werden muss nach den Besonderheiten im kindlichen Erleben und Verhalten, nach den lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Aussagenden, nach seinen persönlichkeitstypischen Verarbeitungsmustern und nach den vorgenommenen konstruktiven Lösungsschritten. Findet dieser Schritt in der Begutachtung nicht statt, … werden Schutzmechanismen, die ein Aussagender entwickelt hat, … negativ zu Lasten des Wahrheitsgehaltes seiner Aussage ausgelegt” (S. 140).

Zu einer derart umfassenden tiefenpsychologischen Erforschung der Persönlichkeit des Zeugen gibt es im Rahmen eines Strafverfahrens keinerlei Veranlassung. BOETTICHER (2002) schreibt mit Recht:

“Dem Richter kommt es auf die Qualität einer Aussage in einer bestimmten Situation an. Eine regelmäßige umfangreiche Diagnostik über die gesamte Person widerspricht nicht nur dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern würde einer generellen Pathologisierung von Opferzeugen Vorschub leisten” (S. 9 f.).

Im Rahmen eines Strafverfahrens müssen an die Qualität einer Aussage, die eventuell die einzige Grundlage für eine Verurteilung wäre, ganz bestimmte Anforderungen gestellt werden. In der Fallkonstruktion “Aussage gegen Aussage”, die in Strafverfahren gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Regel ist, ist die Aussage der möglichen Opfer-Zeugen die einzige oder jedenfalls die entscheidende Grundlage für die Tatsachenfeststellung, die das Gericht in seinem Urteil zu treffen hat. Der BGH hat dies in seinem Beschluss vom 28.11.1990 sehr deutlich ausgesprochen:

“Die Verurteilung setzt voraus, dass das strafbare Verhalten des Angeklagten so konkret bezeichnet wird, dass erkennbar ist, welche bestimmten Taten von der Verurteilung erfasst sind. Die Taten müssen sich von anderen gleichartigen genügend unterscheiden. Eine nur vage Umschreibung der Tat oder Taten, aufgrund derer die Verurteilung erfolgte, ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Der Angeklagte würde bei einem unbestimmten Vorwurf in seinen Verteidigungsmöglichkeiten unangemessen beschränkt. Je weniger konkrete Tatsachen über den Schuldvorwurf bekannt sind, desto fraglicher ist es, ob der Richter von der Tat i. S. des § 261 StPO überhaupt überzeugt sein kann” (StV 1991, 245).

Zwei Jahre später hat der BGH diese Anforderungen erneut eingeschärft:

“Die Tat muss als Lebensvorgang so beschrieben werden, dass praktisch unverwechselbar feststeht, welcher historische Vorgang Gegenstand der Aburteilung sein soll. Neben Tatzeit und Tatort muss auch der Gegenstand der Tat durch die Angabe der Art der Tätigkeit und des angestrebten und des verwirklichten Erfolges so konkret wie möglich geschildert werden” (StV 1993, 403).”

Im Urteil des BGH vom 03.11.1993 heisst es:

“Mit einer in solcher Weise der Konkretisierung ermangelnden Feststellung sind die Merkmale eines Straftatbestandes nicht dargetan. Sie ermöglichen nicht, den Unrechtsgehalt, Schuldumfang und Strafmaß zu bestimmen. Damit war die Verurteilung aufzuheben” (2 StR 434/93).

Aussagen, die in diesem Sinne mangelhaft sind, sind als Grundlage für die Feststellung eines bestimmten Straftatbestandes und eine eventuell darauf basierende Verurteilung schlechterdings nicht geeignet. Ob der Grund für solche Mängel der Aussage eine fehlende objektive historisch reale Tatsachengrundlage ist oder ob es (anlagebedingte oder lebensgeschichtlich bedingte) normabweichende Beschaffenheiten der Persönlichkeit des Zeugen sind, ist letztlich im Rahmen eines Strafverfahrens unerheblich. Somit ist STELLER (2002) zuzustimmen:

“Als Fazit ergibt sich: Die vorgeschlagene Modifikation der Realkennzeichen durch die Psychotraumatologie besteht im Wesentlichen in ihrer Wendung ins Gegenteil. Diese absurde ‘Weiterentwicklung’ aussagepsychologischer Bewertungsmaßstäbe reflektiert eine ausschließlich auf Affirmation ausgerichtete Begutachtungsstrategie, was nicht nur im Gegensatz zum Urteil des BGH steht, sondern auch den wissenschaftlichen Konsens über Psychodiagnostik als hypothesengeleiteten Prüfprozess nicht beachtet” (S. 70).

Schließlich ist die Fallkonstellation denkbar, dass die Verteidigung selbst einen Sachverständigen einbringt. Insoweit kann das Gericht nur unter den engen Voraussetzungen des § 245 Abs. 2 Satz 3, 3 StPO die Vernehmung ablehnen.

Von diesem Recht kann allerdings nur “der reiche Angeklagte” Gebrauch machen, da er in diesem Fall gehalten ist, selbst die Kosten zu verauslagen, was gegebenenfalls zu einem Zweiklassenstrafrecht führt, da eine Überprüfung unqualifizierter und unbrauchbarer Gutachten in angemessener Form nur auf diese Art und Weise möglich und auch in den Prozess einzubringen ist.

Oft genug wird versucht, diesen Sachverständigen dann als Sachverständigen der Verteidigung abzuqualifizieren, was allerdings völlig neben der Sache liegt.

Der Sachverständige ist den gleichen Regeln unterworfen, wie der gerichtlich bestellte Sachverständige.

Oft genug führt die Einbindung eines eigenen Sachverständigen auch dazu, dass sich Verfahren in erheblicher Art und Weise abkürzen lassen.

III.

Die Folgen eines zu Unrecht mit dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs behafteten Angeklagten oder Verurteilten - hiervon gibt es weiß Gott genug - sind erheblich.

Zum einen verhält es sich so, dass, gleich ob verurteilt oder freigesprochen, jedenfalls eine Stigmatisierung erheblichen Ausmaßes stattfindet.

Im Falle der Verurteilung ist dies völlig klar, allerdings auch im Falle des Freispruchs ist es so, dass oft genug gemutmaßt wird

“da wird schon was dran gewesen sein”.

Eine Wiedergutmachung scheidet in derartigen Fällen, mit Ausnahme der kargen Haftentschädigung, die im Falle der Inhaftierung nach Freispruch gezahlt wird, aus.

Es können auch noch weitere Schäden geltend gemacht werden, wie etwa Verlust des Arbeitsplatzes, der möglicherweise eingetreten ist und dergleichen mehr.

Schmerzensgeld wird allerdings bedauerlicherweise aufgrund dessen nicht gezahlt.

Man muss sich vor Augen führen, dass derjenige, der, wenn auch zu Unrecht, mit diesem Vorwurf behaftet ist und in der JVA einsitzt, auch in der Haft als Mensch 3. Klasse behandelt wird mit der Folge, dass er Repressalien jeder Art auch körperlichen ausgesetzt ist.

Die Rückkehr in das “normale Leben” gestaltet sich mehr als schwierig, von der Kindesrückführung, wie wir sie im Verfahren Worms I nach wie vor thematisieren, ganz abgesehen.

Diese konnte bis heute noch nicht mit Erfolg durchgeführt werden.

Alles in allem muss damit festgehalten werden, dass durch die Falschbeschuldigung mit dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs nicht wiedergutzumachende Folgen verknüpft sind.

Folgen, die nicht nur im Verfahren Worms eingetreten sind und dort durch Justiz und Behörden ein Schaden angerichtet wurde, der nicht wieder gut zu machen ist.

Auch in einer Vielzahl anderer, weniger spektakulärer Fälle, die nicht derart von Medienberichten unterlegt waren und sind, verhält es sich so, dass die Folgen durch einen unprofessionellen Umgang mit dem Vorwurf nicht wiedergutzumachen sind.

Es kann nach meiner Meinung kein Weg daran vorbeiführen, in derartigen Fällen mit größter Sorgfalt und Vorsicht vorzugehen und insbesondere im Rahmen des Ermittlungsverfahrens größte Sorgfalt walten zu lassen, da der Schaden verschlimmert wird, wenn das Verfahren in einer öffentlichen Hauptverhandlung thematisiert wird.

Ich wünsche jedenfalls Ihnen und mir, meine Damen und Herren, dass sich ein Verfahren wie Worms I und auch andere nicht wiederholen und diese Tagung u. a. dazu gedient hat, derartiges zu vermeiden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

www.anwaltskanzlei-obst.de

 

 

 

 

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Obst, Lermen & Kollegen - Rechtsanwälte

 

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DIE ZEIT, 11.01.2007 Nr. 03

Inquisitoren des guten Willens

Wegen eines erfundenen Missbrauchs mussten zwei Männer ins Gefängnis. Die Justizirrtümer enthüllen die Ideologie eines fehlgelaufenen Feminismus.

 

Von Sabine Rückert

 

Illustration: Rinah Lang für DIE ZEIT

Die Tragödie um Amelie (siehe Die Geschichte eines Irrtums) hat viele Ursachen, und sie besteht auch darin, dass das Mädchen von einem kranken System ins nächste wechselt. Misshandelt und isoliert in der Familie, flüchtet sie sich in den professionell wirkenden Schutz der Psychiatrie. Doch wo man ihr Hilfe verheißt, ist keine zu erwarten. Stattdessen führen die vermeintlichen Retter Amelie noch weiter in die Irre. So wird das Schicksal dieses Mädchens zum Spiegel der dunklen Seite des Feminismus.

Die wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen erfasste in den neunziger Jahren die gesamte Gesellschaft, hielt Einzug in Familien, spielte bei Scheidungsverfahren eine immer größere Rolle und fand ihren Weg zu Kinderärzten, in Schulen, in die Jugendämter, in die psychiatrischen Stationen, die Untersuchungszimmer der Gerichtspsychologen und die Büros sonst so sachlicher Staatsanwälte und Richter. Was als erhöhte Aufmerksamkeit grundsätzlich umsichtig handelnder Ärzte und Behörden begrüßenswert gewesen wäre, wuchs sich rasch zu einer irrealen Konfusion aus, die auch jene Instanzen erfasste, deren vernunftgesteuertes Verhalten die Rechtssicherheit garantiert. Deshalb geht die Bedeutung des Falles Amelie weit hinaus über die tragische Biografie eines einzelnen Mädchens und seiner beiden Opfer.

Vermeintlich geschädigte Kinder wurden von ihren Eltern getrennt

Die Gepflogenheit, überall Kindesmissbrauch zu wittern, ihn mit großer Entschlossenheit aufzudecken und das Aufgedeckte strafrechtlich zu verfolgen, war in den achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer regelrechten Zwangsvorstellung geworden und bald nach Europa herübergeschwappt. In Großbritannien kam es 1987 unter anderem zum so genannten Cleveland-Fall, bei dem eine Kinderärztin durch Analuntersuchungen bei Kindern binnen kürzester Zeit 121 vermeintliche Missbrauchsfälle aufdeckte. Die »Geschädigten« wurden ihren Eltern weggenommen, bis sich die kollektive Hysterie schließlich in Luft auflöste.

 

»Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese Vorgehensweise bei Kindern massiv suggestive Wirkung hat und zur Entstehung von Pseudoerinnerungen führen kann.« Das schreibt der Berliner Psychologieprofessor Max Steller, der selbst als Gutachter in den Wormser Prozessen zur Aufklärung der kollektiven Verwirrung beigetragen hat, in einem Aufsatz unter dem englischen Titel A doctor starts a bitter battle, der 2000 im Schmidt-Römhild Verlag, Lübeck, erschienen ist. Dort heißt es weiter: »Am Beginn der Suggestion besteht wahrscheinlich eine Verunsicherung der Kinder, zu deren Bewältigung die eigenen Erinnerungen zunehmend durch die suggerierten ersetzt werden. Diese Verunsicherung ist natürlich besonders ausgeprägt, wenn das entsprechende Kind ohnehin emotionale Probleme hat, was ohne Zweifel gegeben ist, wenn es von seinen Eltern getrennt und fremd untergebracht wurde.«

Der Druck, der auf den Kindern laste, fährt Steller fort, führe zu den unglaublichsten, fantastischsten und absurdesten Schilderungen sexueller Übergriffe. Doch kein Ermittler habe sich damals von der Abstrusität der kindlichen Behauptungen beeindrucken oder ins Grübeln bringen lassen: »Weder die professionelle Aufdeckerin oder der primäre Glaubwürdigkeitsgutachter noch die Staatsanwaltschaft Mainz wurden durch solche Schilderungen unsicher. Vielmehr lieferten sie pseudopsychologische Erklärungen für die irrealen Darstellungen der Kinder.«

Bedeutungsschwangere Namen wie Wildwasser und Allerleirauh

Feministische Beratungsstellen für sexuell missbrauchte Kinder und Frauen schießen Anfang der neunziger Jahre aus dem Boden. Sie tragen bedeutungsschwangere Namen: Zartbitter, Wildwasser, Allerleirauh, Hautnah, Zerrspiegel, Schattenriss, Alraune, Belladonna, Kobra oder Trotz allem. Psychologinnen arbeiten mit fragwürdigen »anatomisch korrekten Puppen«, an deren ausgeprägten Geschlechtsteilen Kinder das Unaussprechliche bedeuten sollen. Mitarbeiterinnen aus Jugendämtern, aus Psychiatrie- und Sozialstationen bilden sich bei so genannten Aufdeckerinnen fort, um den Familien ihr vermutetes Geheimnis zu entreißen, wenn nötig mit Hilfe der Justiz. Als Amelie ihre Beschuldigungen erhebt, herrscht eine Art Inquisition des guten Willens im ganzen Land. Auch in Osnabrück.

Und die Medien machen mit. Über Jahre sind Zeitungen und Fernsehprogramme voll vom Thema Kindesmissbrauch, der zum Teil in allen Einzelheiten ausgebreitet wird. In langen Serien schildern Boulevardzeitungen grausige Mädchenschicksale in farbigen Details, in illustrierten Frauenmagazinen berichten verbitterte Mittvierzigerinnen, wie sie dem Unglück ihrer Existenz durch Reinkarnationstherapien auf die Spur kamen und plötzlich begriffen: Aha, auch ich bin ein Missbrauchsopfer! Und das Fernsehen schüttet schlüpfrige Vergewaltigungsstorys über alle Kanäle aufs Volk. Die Grenze zwischen Puritanismus und Pornografie verschwimmt. Und Amelie saugt alles auf. Ihre Verwandten erzählten mir, dass das Mädchen von dieser Art der Berichterstattung fasziniert und hingerissen gewesen sei. Kaum eine Missbrauchssendung im Fernsehen, die sie ausließ, und habe sie trotzdem manchmal eine versäumen müssen, habe sie die Familie gebeten, den Beitrag mit dem Videorekorder für sie aufzuzeichnen.

 

Nur wenige Journalisten stemmen sich dem kollektiven Wahn um den sexuellen Missbrauch entgegen. Die meisten schwimmen – uninformiert und erschüttert vom angeblichen Ausmaß der Katastrophe – im Strom der Empörung mit. Bald gehört es auch zum guten Ton der politisch korrekten Berichterstattung, keine Kritik an Ermittlungs- oder Vernehmungsmethoden zu äußern. Wer den Aufdeckungsrausch hinterfragt, macht sich schon verdächtig.

 

 

Ich habe 1994 als junge Reporterin der ZEIT selbst an einer Fortbildung über Aufdeckung von sexuellem Missbrauch teilgenommen, die eine feministische Psychologin für Mitarbeiterinnen norddeutscher Jugendämter veranstaltete. Geboten wurde ein Vortrag, dessen aggressive Tendenz durch die verhaltene Tonart geschickt als Sachlichkeit getarnt war. Die Referentin hatte »anatomisch korrekte Puppen« dabei, deren Handhabung sie erklärte, und sie interpretierte Kinderbilder auf deren versteckte Missbrauchsbotschaften hin. Auch Filme hatte sie mitgebracht, in denen eine missbrauchte Drei- oder Vierjährige auftrat, die auf eindeutige Weise mit den Puppen hantierte und in Kindersprache erzählte, was Papa mit ihr gemacht habe. Es war erschütternd anzusehen und trieb mir damals die Tränen in die Augen, heute hingegen stellt sich mir die Frage, durch wen das Kind wirklich missbraucht worden war – durch ihren Vater, wie es hieß, oder durch die Damen von der Aufdeckungsfront.

Ich erinnere mich, damals froh gewesen zu sein, dass ich kein Mann bin. Denn ein Mann zu sein, das wurde mir bei dieser mehrtägigen Veranstaltung klar, hieß, in Gefahr zu sein. Ein Mann, der einmal in Verdacht geraten war, hatte damals kaum eine Chance. Die Möglichkeit, dass ein Beschuldigter den Missbrauch, den man ihm vorwarf, gar nicht begangen haben könnte, wurde in den Tagen der Fortbildung nicht ein einziges Mal angesprochen.

 

Die Psychologin riet den Sozialpädagoginnen der Jugendämter vielmehr, alle Aussagen von Opfern bedingunglos zu glauben und sofort Partei für die Kinder zu ergreifen. Mädchen und Jungen, bei denen sich auch nur der leiseste Verdacht des Missbrauchs ergebe, seien unverzüglich aus der Familie zu nehmen, rechtliche Gegenmaßnahmen der elterlichen Anwälte könne man mit Hilfe eines Jugendhilfeparagrafen für »Gefahr in Verzug« wirksam abschmettern. Der würde ohnehin viel zu selten angewandt, die Frauen müssten sich da mehr trauen! Das anfängliche professionelle Interesse unter den Fortgebildeten wuchs sich im Laufe der Veranstaltung aus zu einem Gemeinschaftsgefühl der leidenschaftlichen Einigkeit im Kampf für das Gute. Jede Teilnehmerin wusste eine noch schrecklichere Missbrauchsgeschichte aus ihrem Amtsalltag beizusteuern. Gegen Verteidiger, Richter und kritische Sachverständige wurde mit dem Hinweis, es handle sich ja schließlich um Männer, also potenzielle Täter, die naturgemäß nichts anderes zum Ziel hätten, als die Verbrechen ihres eigenen Geschlechtes zu decken, polemisiert und Stimmung gemacht. Kein Einspruch wurde laut im Publikum.

Ein Befreiungskampf auf dem Rücken von Kindern

Und auch ich sagte nichts: Ich war nicht als Diskutantin da, sondern als beobachtende Reporterin, aber damals wusste ich auch noch nicht, was ich von alldem halten sollte. Hatten die Frauen nicht auch recht? Standen sie nicht auf der richtigen Seite, nämlich auf der der Opfer? Muss nicht eine gewisse Rigorosität entfalten, wer den Schwachen und Vergessenen helfen will – und wer ist schwächer und vergessener als ein missbrauchtes Kind? Darf nicht, wer auf der richtigen Seite steht, auch manchmal übers Ziel hinausschießen und Fehler machen, ohne dass man ihn gleich verurteilt? So dachte ich, die Jungredakteurin, und schwieg. Vielleicht auch aus Feigheit gegenüber dieser Mauer aus steinerner Überzeugung. Aber mir war nicht wohl dabei.

Ich zog mich aus der Affäre, indem ich über diese Fortbildung nichts veröffentlichte und meine Eindrücke für mich behielt. Zwar ahnte ich, dass hier irgendetwas mächtig aus dem Ruder lief, konnte aber damals noch nicht recht begründen, was da außer Kontrolle geriet und warum. Dazu fehlten mir der Überblick und die Erfahrung. Als ich mich später als Gerichtsreporterin mit den Auswüchsen derart radikalen, ja hasserfüllten Denkens beschäftigte, wusste ich, was ich damals hätte schreiben sollen: dass Eifer blind macht für die Wahrheit und dass es eine Schande ist, wenn Frauen ihren Befreiungskampf auf dem Rücken von Kindern austragen. Dass es das Recht zerstört, wenn sich Fanatiker in Familiengerichten und den Strafkammern der Landgerichte Gehör verschaffen können. Was sind Opfervertreter wert, hätte ich fragen sollen, die achselzuckend in Kauf nehmen, dass sie durch ihre Methoden selbst Opfer produzieren, Kinderseelen für immer schädigen und Unschuldige ins Gefängnis bringen? Und was tun sie den wirklichen Opfern sexuellen Missbrauchs an? Das tatsächliche Ausmaß des damals angerichteten Schadens begriff ich aber erst, als ich 2001 die Schicksale von Amelies Vater und ihrem Onkel aus Aktenbergen ans Licht holte.

 

 

Zum Thema

Erwiesene Unschuld - Viereinhalb Jahre saß Bernhard M. als vermeintlicher Vergewaltiger im Gefängnis. ZEIT-Recherchen enthüllten einen Justizirrtum (DIE ZEIT 52/2005) »

Unrecht im Namen des Volkes - Lehrstück über Richter, die im blinden Glauben an die Behauptungen eines Opfers die Fakten verkennen (DIE ZEIT 19/2002) »

 

 

http://www.zeit.de/2007/03/Rueckert-Buch-03

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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