Jokastes Kinder

Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter

 

 

 

 

Christiane Olivier, dtv, 10.Auflage 1996

 

Das 1980 erschienene Buch der französischen Psychoanalytikerin Christiane Olivier, besser mit dem Untertitel "Die Psyche des Mannes und der Frau im Schatten der Mutter" bezeichnet, beschreibt die traditionelle Sozialisation der Jungen und des Mädchens in einer Frauenwelt, im speziellen in der Welt der Mutter. Auch wenn seitdem 20 Jahre vergangen sind, bleibt das Buch lesenswert und nach unserer Ansicht nach hochaktuell. Olivier fordert Frauen und Männer auf zu einer Veränderung tradierter Rollenverteilungen beizutragen und somit aus dem Teufelskreislauf von Frauendominanz im Bereich der Betreuung und Erziehung von Kindern, insbesondere von Jungen und damit einhergehendem männlichen Abgrenzungsbedürfnis zu Weiblichkeit und zu weiblich deklarierten und etikettierten Lebensbereichen. 

Für traditionelle Feministinnen, die bei ihren einseitigen Täter-Opfer-Anschauungen bleiben wollen, ist das Buch nicht zur Lektüre geeignet, klärt es doch auch auf, woher eine  wesentliche Quelle der Frauenfeindlichkeit des Mannes kommt, nämlich aus der übergrifflichen Symbiose, die er als Junge in der Frauenwelt machen musste. 

 

"Die vom Mann so oft erwähnte berühmte ´Falle´ scheint die Symbiose mit der Mutter zu sein, die als ´einsperrend´ gesehen wird. Symbiose, Psychose? Auf jeden Fall ´Gefängnis´, das beim Mann Panik vor jeder Symbiose mit jeder anderen Frau auslösen wird. Sich nicht mehr am gleichen Ort verschmolzen wiederfinden, im gleichen Begehren, wie dem der Frau; das wird die hauptsächliche treibende Kraft hinter der Frauenfeindlichkeit des Mannes sein.

...

Aus dem Ödipus herauszukommen ist gefährlich und unsicher; der Mann bleibt auf ewig gezeichnet vom Mißtrauen gegenüber der Frau. Ein manchmal unmögliches Herauskommen, das den kleinen Jungen und seine Mutter zum Psychoanalytiker führen wird: wir sehen in diesem Lebensabschnitt dreimal so viele Jungen wie Mädchen (die werden wir später sehen). Dies allein ist schon ein Beweis für die Schwierigkeiten, die der Kampf mit der Mutter für das männliche Kind darstellt. Im Fall einer Neurose hat dieser Kampf aus dem Jungen machen können:

- Entweder ein Kind, das der Mutter so sehr hat widerstehen wollen, dass es vergessen hat, für sich selber zu leben,; ein Kind, in dem jedes Begehren abgestorben ist. ...

- ein aggressiv gewordenes Wesen, zunächst gegen seine Mutter und dann erweiternd gegenüber allen Menschen, weiblich und männlich. Er widersetzt sich dem Lehrer, streitet mit den Kameraden und macht die Mädchen herunter. Er schleppt den Krieg mit sich herum, und überall, wo er hinkommt, sät er Panik, denn er will sich unbedingt als der Stärkste erweisen. Stärker als sie und dann stärker als alle. Was er nämlich will, ist, seine Mutter zu überwinden, sie und ihre Kontrolle ...

Und was tut der Vater während dieser Zeit? Wo ist er? Sieht er nichts, weiß er nichts, obgleich er es doch selbst erlebt hat, was vorgeht? Gewiß weiß er es, erinnert er sich. Aber er wagt es nicht, seinen Sohn der weiblichen Macht zu entreißen, der einzigen, über die seine Frau unangefochten verfügt, denn alle andere Macht liegt bei ihm. Der Sohn kann kaum auf seinen Vater zählen, um aus dieser schwierigen Situation mit der Mutter herauszukommen, denn der Vater hält sich absichtlich aus dem Konflikt heraus.", S.56-57

"Das Problem des männlichen Ödipus, hier also zusammengefaßt in seinen Grundzügen und in seinen Wandlungen: Frucht des fatalen Aufeinandertreffens der Geschlechter durch die Geburt des Mannes in die Hände einer Frau, denn hier entsteht für den Mann die zärtlichste aller Lieben, gefolgt vom längsten aller Kriege. Der Mann entrinnt ihm, gezeichnet von Mißtrauen, Schweigen, Frauenfeindlichkeit, kurz gesagt: mit all dem, was die Frau ihm vorwirft.

Es ist keine leichte Arbeit für den Mann, sich von der Person, die er am meisten geliebt hat und von der er am meisten geliebt wurde, abzulösen (keine Mutter wird mir widersprechen, wenn ich sage, daß der Junge sehr viel liebevoller ist als das Mädchen).

All dies ist wohl das Ergebnis der Begegnung der Geschlechter innerhalb der Familie, in der die Frau allein die Rolle der Erzieherin ausfüllt und in der sie in größter Nähe mit ihrem Sohn leben muß.

Früher gab es den Großvater, den Onkel, den Cousin, Mengen von Männerbildern, geeignet, dieses gefährliche Tete-a-tete zu unterbrechen. Heute lebt die allmächtige »Mutter« allein mit ihrem Sohn, der sie für all ihre Entbehrungen von früher entschädigen muß, für die durch den abwesenden Vater entstandene Leere wie für das Weggehen des Mannes. Das Kind, es ist da, es wird also für jene bezahlen. Was wollen Sie, man muß den Mann nehmen, wo man ihn findet, und wenn es in der Wiege ist!

Wie soll der Mann nach dem schmerzlichen Kampf mit dieser allmächtigen Mutter sich nicht wie in einem Meer von Mißtrauen bewegen, wenn er es mit der Frau und ihrer einengenden Macht zu tun hat? Was anderes bleibt ihm übrig, als unseren Platz einzugrenzen, uns mit unseren Pflichten einzuschließen? Wie könnte die Liebe eines Mannes zu einer Frau anders sein als widersprüchlich?

Welcher Mann, welcher Sohn kann von sich sagen, er hätte sich von seiner Mutter abgelöst? Sicher, er hat sie verlassen, aber wie weit? In welchem Alter? Zu wessen Vorteil? Welche Mutter könnte selbst mit achtzig Jahren sagen, sie habe ihren Sohn auf­gegeben? Er bleibt der »Einmalige«, selbst wenn dies nicht gesagt wird, selbst wenn es der Respekt anderen gegenüber verlangt, daß man darüber schweigt, selbst wenn die Männer mutig und die Mütter verehrenswert sind.

Das im Dunkel der Kindheit geknüpfte Band wird den Sohn und die Mutter immer unauflöslich miteinander verbinden, und die Frauen heiraten immer nur die Söhne einer anderen Frau.

Daher kommen die Schwiegermutter—Schwiegertochter-Konflikte um denselben Mann, so lange, bis die Jüngere selbst einen Sohn hat. Sie gibt dann den Kampf mit der Vergangenheit auf für die Zukunft mit ihrem Sohn: Sie konnte sich nicht auf Dauer mit dem erwachsenen Mann verbinden, der nicht frei war, da er auf geheimnisvolle Weise immer mit seiner Mutter verbunden blieb, immer hin- und hergerissen zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft.

Eine Geschichte, die sich von Generation zu Generation wiederholt: der heimlich seiner Mutter verbundene Sohn nimmt eine Frau, um funktionieren und sich fortpflanzen zu können, zu der er aber eine gewisse Distanz behält und der er keine anderen Rechte zuerkennen wird als das der ersten Nacht und das der Mutterschaft. Ohne Mann, ohne Entsprechung für ihr eigenes Dasein, zahlt die Frau den Preis für den Krieg, in den sie sich hineingezogen findet, nur weil sie die Nachfolge der >Mutter< antritt; die Frau, die in ihrem Sohn den einzigen Mann finden wird, der ihr im Leben nahesteht. Der Kreis ist geschlossen, der Ring hat sich vollendet: eine Frau, von ihrem Mann auf Distanz gehalten, wird sich an ihren Sohn binden und in ihm die »Distanz« vorbereiten für die andere, kommende Frau. Eine Frau legt die Saat der Frauenfeindlichkeit für eine andere." S. 58/59


"Die ödipale Spur

 Von den Spuren der »Mutter« gezeichnet und vom »Vater« träumend, verlassen wir alle zutiefst verwundet diesen Ödipus, in dem der Vater so sehr fehlte, während die Mutter um so mehr vorhanden war.

Beim Mann bildet sich ein Ressentiment gegen die Frau, von dem sich kein Mann je vollständig oder endgültig lösen kann. Die Identität des Mannes ist von der Weigerung gekennzeichnet, die Frau als gleichwertig anzuerkennen.

Bei der Frau findet ein hemmungsloser Wettlauf hin zum männlichen Begehren statt, eine Haltung, die sie zur Sklavin unter dem Gesetz des Mannes machen wird, mißtrauisch gegenüber anderen Frauen. Die Identität der Frau ist vom Verlangen ge­kennzeichnet, dem in ihrem Leben so lange abwesenden Mann zu begegnen.

Hier schließt sich also der Teufelskreis, indem die in ihrer Kindheit nicht begehrte Frau im Erwachsenenalter dem Begeh­ren und der Anerkennung des Mannes nachjagt. Der Mann, in die Stellung des Herrn versetzt, nutzt seine Macht, um mit der Frau abzurechnen (in Erinnerung an die nicht geglückte Abrech­nung mit seiner Mutter). Die Frau, die die wiedergutmachende Liebe des Mannes sucht, wird auf die kastrierende Liebe desjenigen stoßen, der endgültig entschieden hat, daß sie nie wieder herrschen wird. Die mit Jokaste erlebte Geschichte ruft sowohl die Eifersucht unter Frauen bei der Eroberung des Mannes als auch die Frauenfeindlichkeit des Mannes hervor, so daß der Frau schließlich von beiden Geschlechtern mißtraut wird, und es wird für sie schwierig sein, diesem Krieg zu entkommen.

Es fällt schwer, sagen zu müssen, daß die Frauen selbst erzeugt haben, worunter sie leiden, indem sie die Erziehung des kleinen Kindes für sich allein beanspruchen, sagen zu müssen, daß es die Mütter sind, die die zukünftigen Frauenfeinde zurichten, unter denen ihre Töchter leiden werden

Erfahren wir, eine wie die andere, von alldem etwas? Wohl eher nicht, scheint es, denn bei den Frauen bleibt der Anspruch auf das kleine Kind lebendig, gleichzeitig mit dem Bedürfnis, vom reifen Mann »anerkannt« zu werden. Die Frauen kommen von dem Platz nicht weg, auf den sie sich vom Mann verwiesen finden. Darüber beschweren sie sich gegenwärtig, ohne daran zu denken, daß dies für den Mann das einzige Mittel ist, um über seine Mutter zu siegen: über die erste Frau seines Lebens.

Welche Gestalt auch immer die Paarbeziehung annehmen mag, es ist immer der Bereich, in dem die Frau sich von dem »anerkennen« lassen will, der ihr die »Anerkennung« nicht geben kann, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Daher die männliche Taubheit gegenüber den doch häufig begründeten feministischen Vorwürfen.

Die Frauen werden die Ungerechtigkeiten nicht dadurch beseitigen können, daß sie Schlußfolgerungen für Voraussetzungen ausgeben. Wenn sie die Voraussetzungen ändern, werden sie andere Männer hervorbringen, die, wenn sie in ihrer Kindheit weniger ihrer Macht ausgesetzt sind, dann auch weniger stark das Bedürfnis empfinden werden, sich im Erwachsenenalter wehren zu müssen.", S.66/67


Auf jeden Fall stellt sich beim kleinen Jungen im Analalter Panik ein, er widersetzt sich, lehnt ab, verzögert, er glaubt, man wolle mit seinen Exkrementen auch seine Haut. Er macht ins Bett, kackt in die Hose (sehr viel eher männliche als weibliche Symptome): Er will nichts von dem geben, was »sie« von ihm fordert, er glaubt sich verfolgt, heimgesucht, bedroht (kastriert?)

Wenn er später die gleiche Situation wiedererlebt, wird er impotent sein, an vorzeitigem oder verzögertem Samenerguß leiden: er wird ihr nicht geben wollen — wird ihr nicht geben können, was »sie« verlangen wird. Eine weitreichende Folge aus dem Kampf des Sohnes mit der Mutter!

Hier beginnt der Krieg gegen die Frau, hier wird die Frauen-feindlichkeit geboren, über die sich so viele Frauen beklagen, von der sie aber nicht wissen, daß ihr Ursprung eine andere Frau ist, die ihrerseits an ihrem Privileg als >Mutter< festgehalten hat und die dem Sohn mit ihrem weiblichen Begehren die unausrottbare Furcht vor der >Kastration< eingepflanzt hat.

In der Analphase spielt der kleine Junge Krieg; mit den Soldaten erfindet er sich Feinde und Freunde, und er stellt sich Siege vor. Er droht, er tötet — in Übertragung dessen, was er fühlt: Er ist mit seiner Mutter in einen Krieg verwickelt um ein Objekt, das ursprünglich ihm gehörte (seine Ausscheidungen) und um die man ihn berauben will. Aber ist es nicht zu gefährlich, den Krieg zu gewinnen, indem er dem Begehren der Mutter nicht gehorcht? Riskiert er dabei nicht, diejenige zu verlieren, die er liebt? Von daher kommt die Ambivalenz gegenüber der Frau.", S. 80


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Den Krieg, den die Mutter mit ihrer kleinen Tochter geführt hat, ohne es zu wissen, wird diese ihr heimzahlen, wenn sie eine Heranwachsende geworden ist. Sie hat es nie vergessen können, daß sie den Vater von ihrer Wiege ferngehalten hat. Es ist leider wahr, daß die Mutter den Vater von seiner Tochter fernhielt, weil sie die Baby-Versorgung für sich allein beanspruchte. Wenn die Tochter sich jetzt an den jungen Männern schadlos hält, ist das nicht verwunderlich. Die Tochter scheint besessen von der Vorstellung, daß ihr die Mutter ihr »Objekt« entreißen könnte, sich zwischen sie und ihre Liebe stellen könnte, so, wie die Mutter damals zwischen dem Vater und der Tochter stand. Das in das Ödipusstadium eintretende Mädchen hat nur die eine Furcht, seine Mutter könnte es noch einmal daran hindern, zu leben. Deshalb bekämpft es seine Mutter. Jede von uns sollte einmal darüber nachdenken: Hat nicht unsere Liebe für die Mutter einen Beigeschmack von »Versöhnung«? Die Versöhnung setzt häufig mit der Verheiratung oder der Geburt des ersten Kindes ein, wenn die junge Frau sich durch die Existenz der Mutter nicht mehr bedroht fühlt. Denn sie ist jetzt selbst Mutter.

Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit plötzlichen Stillstands, gibt es die Ablehnung jeder Veränderung. Das an die Neutralität gewöhnte Mädchen weigert sich, die mit Geschlechtsattributen geschmückte Arena des Begehrens zu betreten, und es zögert lange, die Farben der »Frau« anzunehmen. Es kleidet sich absichtlich asexuell, indem es alles ablehnt, was es weiblich machen könnte. Denn das macht ihm angst und beschwört die Möglichkeit herauf, für irgend jemanden in ein Objekt verwandelt zu werden. Manchmal versucht es, seine Brüste flachzudrücken, um zu verhindern, daß sie sich abzeichnen, oder es kleidet sich in wallende Gewänder, damit man seine neuen fraulichen Formen nicht wahrnimmt.

Es hat diese Frau zu sehr gehaßt, um jetzt selbst eine zu werden, es verbannt alle Zeichen der Weiblichkeit, und das kann sich bis zur Magersucht steigern, wenn es sich weigert zu essen und so seinen Körper daran hindert, sich weiterzuentwickeln, Brüste zu bilden, mit der Monatsblutung zu beginnen ... Diese jungen Mädchen zeigen im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen im all­gemeinen einen ungleich höheren intellektuellen Entwicklungsstand. Das bedeutet, daß sie sich noch im Stadium der Sublimierung befinden. Die Verlagerung der Libido auf den Körper hat noch nicht stattgefunden.",  S. 98/99


"Dies ist der Beginn des »kleinen Krieges«. Spielt der Junge übrigens in seinen Spielen nicht ununterbrochen Krieg? Wenn er weder Soldaten noch Pferde hat, findet er trotzdem einen Weg, irgendwo einen Kampf in Szene zu setzen: Alles stellt sich für ihn als »schwächer« und als »stärker« dar. Er sieht sich als der unüberwindliche Zorro, als Tarzan, als Eroberer, er träumt sich in die Rolle des Piloten, der schneller durch den Raum rast als irgend jemand sonst. Die Phantasmen des Jungen drehen sich immer um den Sieg. Allmählich wird der junge Mann auf diese Weise aggressiv-defensiv, seine Sprache ist davon geprägt, er spricht hart, derb, vulgär, ja sogar unanständig, und manchmal behält er das als Männlichkeitsgehabe bei: Männer finden es schick, grob zu reden

Es kann aber aus verschiedenen Gründen vorkommen, daß der kleine Junge nicht den klassischen Weg beschreiten kann, ein »Mann« zu werden, und daß er eine andere Richtung einschlägt, wobei er auf den Kampf verzichtet, da »die Feindin« zu stark ist. Er wählt den Weg der Regression; angesichts der von ihm geforderten Anstrengung gibt er auf, er stirbt: Er wird apathisch oder Bettnässer oder Einkoter, er interessiert sich für nichts, aus Angst, wieder den vermuteten Wünschen der Mutter oder der Eltern ausgeliefert zu sein. Mit einem Wort, er zieht es vor, lieber nicht mehr größer zu werden, als sich dem Krieg zu stellen und die Kastration zu riskieren. Er zieht es vor, ein Kind zu bleiben, wenn Erwachsensein bedeutet, sich dem Begehren einer Frau auszusetzen.

Einer Frau, das wäre ja noch nichts, aber es geht um Frauen im Plural, denn der kleine Junge ist umzingelt von Frauen! Es gibt ja eigentlich nichts anderes in seinem kleinen Universum, denn wenn er die Welt seiner Mutter verläßt, kommt er in den Kindergarten, wo er sich mit der Kindergärtnerin anfreunden muß, und dann in die Schule, wo er auf die Lehrerin trifft. Es gibt nur Frauen um ihn herum; sein Vater erscheint für ihn sehr weit entfernt, wenn die Lehrerin hinter ihm her ist. Es ist eine Katastrophe für den kleinen Jungen, daß die Erziehung des kleinen Kindes fast ausschließlich in den Händen von Frauen liegt. Denn der Junge hat unter all diesen Individuen, die ihn nicht haben, keine Möglichkeit, seine Kastrationsangst zu überwinden. Ich werde mich mein Leben lang an das verzweifelte Gesicht meines Sohnes erinnern, als ich die Mütze hochzog, die ihm von der Kindergärtnerin absichtlich über das Gesicht gezogen worden war, um ihn zu beschämen. Ich erfaßte in dem Moment das für ihn unermeßliche Unglück, sich von ihr gedemütigt zu fühlen, von einer, »die ihn nicht hat«. Zuerst blickte er auf mich, um zu sehen, ob ich verstehen würde und auf welche Seite ich mich schlagen würde. Als er dann sah, daß ich begriffen hatte, was ihm widerfahren war, brach er in Schluchzen aus, das dann schnell in Gebrüll überging: Jerome war damals vier Jahre alt. Sein Unbewußtes war in heller Aufregung, die Kindergärtnerin war dreißig Jahre alt und hatte keine Ahnung von der Psyche eines kleinen Jungen. Sie glaubte, zu einem der harmlosesten Mittel gegriffen zu haben, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. In dem Augenblick wurde mir klar, daß er sich nicht so dagegen gewehrt hätte, wäre die Bestrafung von der Hand eines Mannes gekommen.  

Nichts ist härter, als von jemandem bestraft zu werden, der nicht der gleichen Seite angehört. Wenn es gemischte Klassen gibt, sollte es auch immer einen gemischten Lehrkörper geben, damit sich für die Jungen und Mädchen ein Gleichgewicht gegen­über den Machtausübenden ergibt. Dies wird offensichtlich vernachlässigt oder ignoriert in einem Land wie dem unseren, In dem man die Versorgung des Kindes und seine Erziehung immer wieder der Frau zuweist, weil man für sie keinen anderen Platz in der Gesellschaft findet. ", S. 107/108


"
Auch der Junge entwickelt seine Sprache mit der Mutter, aber auf eine ganz andere Weise. Um dem Ödipus und dem Begehren der Mutter zu entkommen, wird der Junge alles ablehnen, was seinen Körper betrifft. Der Körper war der Anziehungspunkt für die Mutter, er stand für alles, was das Gefühlsleben betrifft, mit dem sie ihn allzusehr umgeben, ja erstickt hatte. Mit ein und derselben Anstrengung wird der Junge gewisse Themen vermeiden und eine von Gefühlsäußerungen entkleidete Sprache wählen.

Da haben wir also den Mann, auf einmal ohne Beziehung zum Körper und ohne Gefühl für affektive Worte, »er hat beinahe nichts mehr zu sagen«, außer unverbindlichen Banalitäten. Die männliche Sprache, oder die dazu erklärte, ist ein Sprachgebrauch, ist eine Sprachsperre gegenüber der Mutter und ihren Emotionen. Der Mann versagt sich das Weinen, die Gemütsbewegungen, auch er ist eingesperrt, aber in der Härte gegenüber der Mutter, im Widerstand gegen die Zärtlichkeit, die früher zwischen ihnen bestanden hat.

Der Mann ergreift leicht das Wort oder die Feder, denn er riskiert ja nichts, da er nie mehr von sich spricht, sondern von Dingen außerhalb seiner selbst. Berührt uns das, was er sagt? Selten, denn er spricht nie das an, was in uns empfindungsfähig ist, sondern das, was logisch ist.

Ein Mann sagte mir etwas Erstaunliches: »Ich fühle mich zweigeteilt, auf der einen Seite ist da mein Körper, der mir nicht gehört (ich habe ihn verschenkt an meine Mutter, an meine Frau), und dann ist da mein Kopf, der sich nur für mich alleine dreht, mit hunderttausend Umdrehungen pro Minute.«

Es ist ganz deutlich: Eben noch hat eine Frau zu mir über ihren ständig anwesenden Körper (allgegenwärtiger Körper, der jeden Zugang zur Sublimierung versperrt) und von ihrem abwesenden Kopf gesprochen, und dann erzählt mir ein Mann von seinem abwesenden Körper und von seinem Kopf, der sich nur für ihn dreht (Sublimierung, die den ganzen libidinösen Bereich besetzt und für den Körper keinen Platz läßt). Eine entgegengesetzte Entwicklung des Mannes und der Frau in bezug auf die gleiche »Mutter«, eine Entwicklung, die beiden oft den Eindruck gibt, himmelweit voneinander entfernt zu sein. Was für Dinge bilden und lösen sich wieder in diesem Körper, in diesem Kopf! Wegen einer Frau.

Wer könnte die schreckliche Jokaste daraus entfernen, oder wenigstens ihre Wirkung mildern, wenn nicht ihr Mann Laios, der verschwundene Vater? Man müßte ihn wiederbeleben kön­nen, ihn in seinen Palast zu seinen Kindern zurückführen. Der Platz des »Vaters« sollte überall dort sein, wo auch sein Kind ist:

im Kinderzimmer, im Badezimmer, in der Küche, im Kindergarten, beim Spielen. Überall dort, wo die Frauen herrschen, müssen die Männer gleichberechtigt an ihrer Seite sein, wenn wir Kinder sehen wollen, deren Sexualisierung nicht zwangsläufig auf eine Parteinahme für oder gegen die Frau hinausläuft.

Die Feministinnen haben erkannt, daß die Frau in der Sprache unablässig als negativer Bezugspunkt für den Mann herhalten muß, wenn er spricht, selbst wenn er sich an »sie« wendet. Die Männer tun das unbewußt, ohne es überhaupt zu merken, und die Frauen sind entschlossen, ihnen diesen Kampf auf der Ebene der Worte bewußtzumachen. Und ich habe es übernommen, aufzuzeigen, daß der Mann, der von Frauen großgezogen ist, »ihnen« gegenüber nur eine defensive oder aggressive Sprache haben kann!

Weiß denn der Analytiker nicht besser als jeder andere, daß es sich dabei um eine »Geschichte« handelt, die nur von einer anderen ausgelöscht werden kann? Insbesondere diese hier, die in seinem Konsultationszimmer zur Sprache kommt?

Wir sehen doch, wie der Mann in der Analyse nach und nach den gefühlsmäßigen Teil seines Selbst wieder zurückgewinnt, den er damals aufgegeben hat, und wie seine Starrheit einer neuen Wärme und Nachgiebigkeit Platz macht, eine Entwicklung, die nicht zwangsläufig über die Opposition gegen die Frau führt.

Erleben wir die Geburt einer »anderen « Frau? Einer Frau, die beginnt, aus sich selbst heraus zu existieren, ohne daß sie um eine Identität bitten muß, weil da niemand mehr ist, der sie ihr streitig macht? Nämlich dann, wenn sie aufgehört hat, sich von der Überlegenheit der Mutter erdrücken zu lassen oder sich dem Begehren des Mannes zu unterwerfen.

Anstatt die Überlebenden des Ödipus einen nach dem anderen zu analysieren, muß man sich fragen, ob dieser Odipus nicht anders gestaltet werden könnte, damit er nicht immer nur in einen Krieg der Geschlechter und der Worte mündet.", S. 143/144

 

"Gibt es nicht den sakrosankten Muttertag, der die Bedeutung des mütterlichen Opfers zeigt und das Bedürfnis nach Wiedergutmachung gegenüber diesen Frauen, die soviel für ihr Kind getan haben? Müssen sich die Mütter ausgebeutet fühlen, entwertet, erniedrigt, um sich plötzlich an jenem Tag auf das höchste Podest stellen lassen? Wenn die Mütter, die bei ihrem Kind bleiben, soviel Lust daraus beziehen, warum muß man ihnen dann danken? Man rehabilitiert nur jemanden, der einen Schaden erlitten hat. Es ist kein Zufall, daß diese Aufwertung zuerst auf die Mutter fiel."

 

 



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