Junge Mütter
"Junge Frauen sind unsere Sorgenkinder"
FRIEDRICHSHAFEN - Überforderte junge Mütter, abwesende Väter, Kinder, denen die Nestwärme fehlt. Diese Alarmzeichen und die Meldungen über Vernachlässigung, Misshandlung oder gar Tötung von Kindern hat das Jugendamt auf den Plan gerufen, ein Netzwerk zu schaffen, um sogenannte Kindeswohlgefährdungen zu vermeiden.
Auf Einladung des Jugendamtes Bodenseekreis haben sich am Mittwochabend im Auditorium des Klinikums Friedrichshafen Kinderärzte, Gynäkologen, Hebammen und Vertreter von Beratungsstellen getroffen, um sich über ein Frühwarnsystem zur Verhinderung von Kindeswohlgefährdungen zu informieren. Es trägt den Namen "Projekt mobile", ist auf drei Jahre angelegt und wird von der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten wissenschaftlich begleitet. "Projekt mobile" soll frühe Hilfen für junge Mütter und Väter in psychosozial belasteten Situationen durch ein Netzwerk sicherstellen. Werner Feiri, stellvertretender Leiter des Jugendamtes, und der Leiter der Kinderklinik, Dr. Udo Radlow, machten die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen und Fachkräfte deutlich. "Gewalt in Familien allgemein und speziell gegen Kinder ist ein Problem ersten Ranges", sagte Dr. Radlow. Nach einer Erhebung der Ärztekammer seien zehn Prozent der Verletzungen bei Kleinkindern auf Schläge zurückzuführen, weitere zehn Prozent der behandelten Kinder weisen Anzeichen von Vernachlässigung auf. "Jeder Arzt, der Kinder untersucht und behandelt wird zwangsläufig mit dem Thema konfrontiert", sagte Radlow.
Wie ein Arzt auf einen solchen Verdacht reagieren soll, darauf gebe es keine einfache Antwort. Es bestehe keine Anzeigepflicht, sagte Radlow, und man sollte auch nicht in Aktionismus verfallen, sondern Vertrauen schaffen zu dem Kind und auch zu den Eltern und auf jeden Fall ein zweites Urteil einholen. Radlow wies auf entsprechende Empfehlungen der Ärztekammer hin. Ein gemeinsames Fallmanagement mit Jugendamt, Beratungsstellen, sozialen Diensten und anderen hält der Kinderarzt für notwendig.
"Junge Mütter sind unsere Sorgenkinder", sagte Werner Feiri. Ihre Zahl nehme im Bodenseekreis stark zu. Von 2000 bis 2005 habe das Jugendamt 53 Mütter zwischen 15 und 23 Jahren begleitet, davon 44 längerfristig. 180 Kinder seien derzeit in Obhut von Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht. Im Jugendamt würden pro Jahr zwischen sechs und acht Fälle akuter Kindeswohlgefährdung registriert.
Wie ein Arzt auf einen solchen Verdacht reagieren soll, darauf gebe es keine einfache Antwort. Es bestehe keine Anzeigepflicht, sagte Radlow, und man sollte auch nicht in Aktionismus verfallen, sondern Vertrauen schaffen zu dem Kind und auch zu den Eltern und auf jeden Fall ein zweites Urteil einholen. Radlow wies auf entsprechende Empfehlungen der Ärztekammer hin. Ein gemeinsames Fallmanagement mit Jugendamt, Beratungsstellen, sozialen Diensten und anderen hält der Kinderarzt für notwendig.
Fälle oft sehr komplex
Das Jugendamt habe eine sogenannte Garantenpflicht für das Wohl der Kinder. Seine Mitarbeiter hätten dafür einzustehen, dass von ihnen mitbetreute Kinder nicht durch vorhersehbare vorsätzliche Misshandlungen durch die Mutter oder durch einen von ihr beauftragten ungeeigneten Dritten körperlich verletzt werden oder zu Tode kommen. Dabei habe das Amt auch das Elternrecht zu beachten und könne nicht ohne weiteres in eine Familie eingreifen. In der Praxis sei diese Konstellation Kindeswohl - Elternrecht oft problematisch, dazu seien die Fälle oft sehr komplex und schwierig. "Aber wir machen keine Familienpolitik, sondern müssen die Gesetze beachten", sagte Feiri.
Gynäkologen und Kinderärzte berichteten, sie hätten bei Patienten hin und wieder gewisse Anhaltspunkte, dass in der Familie etwas nicht stimme, aber selten harte Fakten. Ein Hinweis auf Beratungsstellen der Caritas und der Diakonie wären da schon sehr hilfreich, meinte eine Vertreterin. Das Jugendamt will künftig stärker mit Hebammen kooperieren. Sie seien die Einzigen, die bei Hausbesuchen einen Einblick in die Familien bekommen.
Der Ruf nach dem Jugendamt sei nicht immer angezeigt, sagte Radlow. "Wir wollen schließlich keinen Überwachungsstaat". Aber je mehr Ärzte, Berater, Sozialarbeiter und Hebammen voneinander wissen, desto besser können sie reagieren und die notwendigen Hilfen in die Wege leiten. Die Möglichkeiten zu Prävention und Unterstützung gebe es, allein man müsse davon wissen und sie in Anspruch nehmen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Durch das Projekt mobile soll das künftig besser funktionieren, hoffen die Beteiligten.
"Jugendliche Mütter, Väter, ihre Kinder und deren Großeltern. Zu den Risiken und Ressourcen dieser ´Multiproblemfamilie´"
Kristina Hartle in: "ProJugend", 2/2000, S.11-14