Justizirrtum
"In einer Lawine wird sich keine Schneeflocke je verantwortlich fühlen."
Stanislaw Lew, polnischer Lyriker
Als Justizirrtum bezeichnet man im engeren Sinne eine strafrechtliche Entscheidung eines Gerichtes auf Grund derer ein der Tat Bezichtigter verurteilt wird, dieser aber tatsächlich unschuldig ist.
Im Familienrecht gibt es aber ständig Justizirrtümer im erweiterten Sinne. Hier geht es zwar nicht um Schuld oder Unschuld, aber z.B. darum dass das Gericht meint, das Wohl des Kindes wäre gefährdet, was dann z.B. zum Sorgerechtsentzug, Ausschluss des Umgangs oder ähnlichem führen kann. Solche Wertungen eines Gerichtes sind letztlich immer subjektiv, da im Gegensatz zu der Frage, ob jemand eine Tat begangen hat oder nicht, nie beantwortet werden kann, ob in der Gegenwart oder Zukunft eine bestimmte Konstellation kindeswohlgefährdend wäre oder nicht. Aussagen darüber sind letztlich immer Prognosen, denen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann.
Vom Justizirrtum zu unterscheiden ist die Rechtsbeugung durch den Richter oder das Gericht. Beides kann aber ineinander übergehen oder auch deckungsgleich sein.
Die Geschichte des deutschen Familienrechts ist eine Geschichte gesetzlich legalisierter Justizirrtümer. Damit sind nicht nur jene offensichtlichen und tragischen Ereignisse wie die Missbrauchsprozesse von Worms gemeint, bei denen in einer Massenhysterie von Missbrauchsvorwürfen viele Väter und Mütter ihrer Kinder beraubt wurden und die zu Unrecht Beschuldigten schwere psychische und physische Angriffe gegen ihre Person hinnehmen mussten.
Das deutsche Familienrecht ist lange Zeit ein Instrument der politischen Disziplinierung und eines rigiden Konformismus gewesen. Wer es wagte, gegen die gesellschaftlich erwünschten Normen zu verstoßen, wurde abgestraft. Bis in die siebziger Jahre herrschte in der Bundesrepublik das Verschuldensprinzip im Scheidungsrecht. Nachdem dieses abgeschafft wurde, wurden jahrzehntelang Hundertausenden von Vätern bei einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen, unterstützt durch die deutsche Familiengerichtsbarkeit, brach der Kontakt, zwischen Hunderttausenden Vätern und Kindern für lange Zeit oder für immer ab.
Nichtverheirateten Vätern wurden und werden bis heute elementare Elternrechte in massiver Weise vorenthalten.
Angesichts dieser systemimmanenten Justizirrtümer scheinen einzelne tragische Fälle, in denen Richter schlecht oder falsch ermittelt haben, zu verblassen.
Wie sagte doch schon Brecht: "Was ist der Überfall auf eine Bank, gegen die Gründung einer Bank"
Oder hier abgewandelt: Was ist ein Justizirrtum, gegen das deutsche Familienrecht.
Oder auch: Was ist die staatliche Diskriminierung von Frauen im Iran gegen die staatliche Diskriminierung nichtverheirateter Väter in Deutschland.
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 272/12
vom
5. September 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. September 2012 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 17. Januar 2012 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts merkt der Senat an:
Es besteht für den Senat kein Anlass, dem im Revisionsverfahren gestellten
Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen. Die u.a. nach
Anhörung mehrerer Sachverständiger getroffenen Feststellungen des Tatrichters im
angefochtenen Urteil beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Gesamtwürdigung aller
belastenden und entlastenden Indizien. Auch unter Berücksichtigung des
umfangreichen Revisionsvorbringens liegt ein Verstoß gegen gesicherte
wissenschaftliche Erkenntnisse, Gesetze der Logik und Erfahrungssätze des
täglichen
Lebens (vgl. u.a. BGHSt 29, 18, 20) erkennbar nicht vor.
Nack Wahl Rothfuß Jäger Sander
Manfred Genditzki
Manfred Genditzki (* 28. Mai
1960 in Kalübbe, Gemeinde Breesen, Kreis Altentreptow, DDR[1]) wurde im Mai 2010
wegen Mordes an der 87-jährigen Rentnerin Lieselotte Kortüm aus Rottach-Egern in
einem Indizienprozess zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Vor und auch
nach seiner rechtskräftigen Verurteilung[2][3][4] sind in der Öffentlichkeit
Zweifel an der Täterschaft Genditzkis geäußert worden.[5]
Am 12. August
2022 beschloss das Landgericht München I die Wiederaufnahme des Verfahrens und
ordnete die sofortige vorläufige Freilassung Genditzkis an.[6] Der Prozess
begann am 26. April 2023.
...
Die Anklageschrift ging davon aus, Frau Kortüm hätte am 28. Oktober 2008 die
Unterschlagung festgestellt und Genditzki deswegen beschuldigt. Im Verlauf der
Hauptverhandlung stellte sich jedoch heraus, dass aus dem Vermögen der Frau
Kortüm kein Geld fehlte; das Geld für die Rückzahlung stammte aus
nachvollziehbaren, völlig legalen Quellen.[7][8] Die Schwurgerichtskammer am
Landgericht München II stützte den Mordvorwurf fortan darauf, der Angeklagte
habe die Frau im Verlauf eines Streits geschlagen und sie getötet, um diese
Körperverletzung zu verdecken. Die Kammer verurteilte Genditzki am 12. Mai 2010
wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.[1]
Der
Bundesgerichtshof hob das Urteil mit Beschluss vom 12. Januar 2011 auf und
verwies die Sache wegen eines Verfahrensfehlers an eine andere Kammer des
Landgerichts zurück. Der Austausch der Bezugstat bei Verdeckungsmord sei eine
Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes, auf die das Gericht gemäß § 265
StPO in der Hauptverhandlung hätte hinweisen müssen.[9][10]
Die neue
Hauptverhandlung endete am 17. Januar 2012 abermals mit einer Verurteilung zu
lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes.[1][11] Die Kammer sah es als erwiesen
an, dass Genditzki und Kortüm in einen Streit geraten seien, bei dem Genditzki
der Frau entweder einen Schlag auf den Kopf versetzt oder sie so gestoßen habe,
dass sie gegen einen harten Gegenstand gefallen sei und sich die zwei
Blutergüsse am Kopf zugezogen habe. In Panik und mit dem Gedanken „Ich hole
Hilfe“ habe Genditzki zweimal kurz hintereinander am Festnetztelefon von Frau
Kortüm[1] die Nummer des Hausarztes gewählt, aber sofort wieder aufgelegt. Aus
Furcht, angezeigt zu werden, habe er Wasser in die Badewanne laufen lassen und
Lieselotte Kortüm ertränkt, indem er sie mehrere Minuten unter Wasser gedrückt
habe.[12] Die Revision hiergegen wurde als unbegründet verworfen, da die
Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben
habe (§ 349 Abs. 2 StPO).[13][14][11]
Zweifel am Urteil
Für
Prozessbeobachter und Medienvertreter blieben Zweifel an der Schuld des
Verurteilten. Beobachter der Hauptverhandlung hatten fest mit einem Freispruch
gerechnet.[3]
Die Verteidigung ging davon aus, dass der Tod der alten
Dame ein Haushaltsunfall war. Lieselotte Kortüm habe nach der Rückkehr aus dem
Krankenhaus verschmutzte Wäsche in der Badewanne einweichen wollen.[15] Sie habe
dabei einen Schwächeanfall erlitten und sei in die Wanne gestürzt. Ein
psychologisches Gutachten weist Genditzki als friedfertig aus.[7] Den Anruf beim
Hausarzt erklärte Genditzki damit, er habe mitteilen wollen, dass Frau Kortüm
aus der Klinik entlassen und wieder zu Hause sei. Er habe aufgelegt, als nur der
Anrufbeantworter der Praxis in der Leitung war.[12]
Das Verfahren wurde
in mehreren überregionalen Medien als Justizirrtum
dargestellt.[16][17][18][8][19]
Genditzkis Strafverteidigerin reichte
2018 einen seit 2015 aufwändig vorbereiteten Antrag[20] auf Wiederaufnahme des
Verfahrens ein.[8][21] Durch Spenden einiger Menschen wurde die Wiederaufnahme
des Verfahrens, einschließlich neuer Gutachten, ermöglicht.[6]
...
Gisela Friedrichsen fragte in einem Artikel der Tageszeitung Die Welt vom 30. Juli 2018 unter Hinweis auf die Fälle Gustl Mollath, Ulvi Kulac und den Todesfall Rudolf Rupp in Bezug auf den inhaftierten Manfred Genditzki: „Kommt auf die bayerische Justiz der nächste Skandal zu?“ Mit Blick auf die neuartige Computersimulation, die 2018 zu dem seinerzeitigen Sturz von Lieselotte Kortüm erstellt wurde, schreibt Friedrichsen: „Geprägt von eiserner Rechthaberei und oft blinder Uneinsichtigkeit, mussten sich Richter und Staatsanwälte in der Vergangenheit schon mehrfach dem Fortschritt in der Kriminaltechnik beugen. Nun der Fall Genditzki. Er treibt viele Leute um, weil sie das Märchen vom mordenden Hausmeister nicht überzeugt.“[26]
Am 11. Juni 2019 reichte Genditzkis Verteidigerin Regina Rick einen Antrag
auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein,[27] der sich vor allem auf eine
Computersimulation und auf eine erst in jüngster Zeit bekannt gewordene
Zeugenaussage stützte.[28] Am 1. Dezember 2020 verwarf die 1. Strafkammer am
Landgericht München I den Antrag als unzulässig. Die vorgebrachten neuen
Beweismittel seien nicht geeignet, das angefochtene Urteil zu erschüttern. Es
seien keine neuen Tatsachen oder Beweise vorgebracht worden, die einen
Freispruch oder eine Strafmilderung bewirken könnten (§ 359 Nr. 5 StPO). Auf die
Beschwerde der Verteidigung hob das OLG München diesen Beschluss am 23.
September 2021 auf. Das von der Verteidigung vorgelegte
Sachverständigengutachten sei als zulässiges neues Beweismittel im Sinne des §
359 Nr. 5 StPO anzusehen. Das Landgericht habe nun zumindest Beweis durch
Anhörung dieses Sachverständigen zu erheben. Erst danach könne es eine Bewertung
und Einordnung des Gutachtens vornehmen und über die Begründetheit des
Wiederaufnahmeantrags entscheiden. Eine Unterbrechung der Strafvollstreckung sei
vor der nun anstehenden Bewertung des Beweismittels allerdings nicht
möglich.[29]
Mit Beschluss vom 12. August 2022 (AZ: 1 Ks 121 Js 158
369/19) ordnete das Landgericht München I die Wiederaufnahme des Verfahrens an
und entließ Genditzki mit sofortiger Wirkung aus der im Februar 2009 begonnenen
Haft. Neue Erkenntnisse, insbesondere aus der Thermodynamik, legten inzwischen
ein anderes Bild der Vorgänge nahe. Insbesondere verschiebt eine Rekonstruktion
der Temperatur des Badewassers den Todeszeitpunkt deutlich aus dem Rahmen der
bisherigen Annahmen. Ergänzend konnte durch eine computergestützte
biomechanische Simulation gezeigt werden, dass auch ein Sturzgeschehen möglich
war.[30][31][32] Am 26. April 2023 begann der neue Prozess am Landgericht
München I.
https://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Genditzki
Der Fall Genditzki
Zwischen Hoffnung und Resignation
30.04.2023
Von Gisela Friedrichsen
Manfred Genditzki saß 13 Jahre lang wegen eines Mordes, den er womöglich nie
begangen hat, im Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, seine 87 Jahre alte Nachbarin
getötet zu haben. Nun wird der Fall zum dritten Mal aufgerollt. Hat sich die
Justiz verrannt?
Er ist angespannt, nervös, sucht im Publikum nach
bekannten Gesichtern. Zum dritten Mal steht er nun vor Gericht. Nicht, weil er
immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre, sondern weil die Ankläger
seit bald 15 Jahren nicht lockerlassen, ihn als Mörder hinter Gitter zu bringen.
Fast könnte man den Eindruck gewinnen, es gehe ihnen gar nicht so sehr um
den Angeklagten als darum, das Gesicht nicht zu verlieren. Bloß keinen ...
Justizirrtum um Ralf Witte
Der Justizirrtum um Ralf Witte betrifft den Fall des deutschen
Straßenbahnfahrers Ralf Witte (* 1964), der 2004 zu Unrecht wegen Vergewaltigung
zu zwölf Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und nach fünf Jahren
Haft in einem Wiederaufnahmeverfahren 2010 freigesprochen wurde.
Unmittelbar damit verbunden war der Fall seines 15 Jahre älteren[1] Bekannten
Karl-Heinz Wulfhorst, der ebenfalls im Jahr 2004 zu Unrecht wegen Vergewaltigung
zu einer Haftstrafe verurteilt und im Jahr 2010 freigesprochen wurde. Die beiden
Fälle werden auch zusammenfassend als „Fall Witte/Wulfhorst“
bezeichnet.[2][3][4]
Inhaltsverzeichnis
1 Fall
1.1 Beschuldigung
und Verurteilung (2001–2004)
1.2 Nach der Verurteilung
1.3 Wiederaufnahme
und Freispruch (2009–2010)
1.4 Nach dem Freispruch
2 Siehe auch
3
Literatur
4 Weblinks
5 Einzelnachweise
Fall
Beschuldigung und
Verurteilung (2001–2004)
Ralf Witte lebte 2001 in einem Dorf bei Hannover
zusammen mit seiner zweiten Ehefrau, zwei Kindern aus erster Ehe und einem Kind
aus seiner zweiten Ehe. Die damals 15-jährige Jennifer W.,[5], Tochter seines
Bekannten Karl-Heinz W.,[5] war bei ihm als Kindermädchen tätig. Einige Zeit
nach ihrem letzten Einsatz zeigte Jennifer Ralf Witte wegen Vergewaltigung
an.[6] Sie beschuldigte ihn, sie entjungfert und gemeinsam mit ihrem eigenen
Vater mehrfach brutal vergewaltigt zu haben.[7] Gegen Witte und Karl-Heinz W.
wurde Untersuchungshaft angeordnet. Da Witte ein Alibi für fünf der
vermeintlichen Tatzeitpunkte vorweisen konnte und keinerlei DNA-Spuren gefunden
wurden, wurde er nach 23 Tagen[8] aus der Untersuchungshaft entlassen.
Dennoch kam es zu einer Anklage vor dem Landgericht Hannover. Das Verfahren zog
sich mit 42 Verhandlungstagen über elf Monate hin.[9] Witte hatte auf
frühzeitiges Anraten seines Anwalts rekonstruiert, was er an den angeblichen
Tattagen, davor und danach getan und wo er sich aufgehalten hatte, und konnte
für diese Tage Alibis vorweisen, die das Gericht jedoch nicht gelten ließ. Als
Wittes Vorgesetzter dessen Anwesenheit am Arbeitsplatz an einem vermeintlichen
Tattag bestätigte, erklärte das Gericht, Jennifer W. könne sich ja in der Woche
geirrt haben, was darauf hinauslief, dass alle Alibis wertlos seien. Witte
protestierte gegen dieses Vorgehen, er zeigte einem Richter dabei einen Vogel
und redete ihn mit „Du Idiot“ an.[10] Trotz der Alibis und obwohl eine
medizinische Untersuchung die Jungfräulichkeit des Mädchens festgestellt
hatte,[11] wurde Witte am 7. Mai 2004 zu zwölf Jahren und acht Monaten
Freiheitsstrafe verurteilt.[12] Karl-Heinz W. wurde zu fünf Jahren und acht
Monaten Haft verurteilt.[13] Zwei Gutachter hatten im Verfahren erklärt,
Jennifer W. sei absolut glaubwürdig.[7][9]
Dass Witte zu einer viel
längeren Haftstrafe verurteilt wurde als Karl-Heinz W., obwohl es im
Wesentlichen um dieselben Tatvorwürfe ging, erklärte er sich im Nachhinein
damit, dass er sich im Bewusstsein seiner Unschuld während des Prozesses
siegessicher gefühlt habe und gegenüber dem Richter immer wieder respektlos
aufgetreten sei.[14]
Nach der Verurteilung
Am 15. September 2004, vier
Monate nach der Verurteilung, erhob das vermeintliche Opfer Jennifer W. bei der
Staatsanwaltschaft Hannover neue Anschuldigungen.[2] Sie sei seit ihrem achten
Lebensjahr Opfer eines Mädchenhändlerrings gewesen und über Jahre hinweg unter
anderem von ihrem Vater[7] vergewaltigt und dabei gefilmt worden.[15] Dabei habe
sie mit ansehen müssen, wie ein von einem anderen Opfer geborenes Baby an die
Wand geworfen und so getötet worden sei.[9][16] Die neue Behauptung, sie sei
bereits als Achtjährige immer wieder vergewaltigt worden, stand dabei im
Widerspruch zu ihrer vorigen Behauptung, sie sei als 15-Jährige durch Ralf Witte
entjungfert worden.[7]
Die Staatsanwaltschaft klärte diesen Widerspruch
nicht auf und prüfte die anderen Behauptungen von Jennifer W. ohne Ergebnis.
Weder konnten die Beschuldigten identifiziert noch der Tatort lokalisiert
werden. Das Verfahren über die Revision von Ralf Wittes Urteil beim
Bundesgerichtshof war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, trotzdem
leitete die Staatsanwaltschaft ihre Erkenntnisse nicht weiter.[15] Außer dem
ermittelnden Staatsanwalt waren auch dessen Behördenleiter, der stellvertretende
Behördenleiter sowie der hannoversche Polizeipräsident über die problematischen
und inkonsistenten Aussagen von Jennifer W. informiert. Auch sie hätten von Amts
wegen ihre Erkenntnisse, die die Verurteilten entlasteten, nicht verschweigen
dürfen.[1]
Die Ermittlungen um die neuen Anschuldigungen ließ man etwa
drei Jahre ruhen. In dieser Zeit habe man „immer wieder versucht, mit Jennifer
W. weitere Gespräche zu führen, um konkretere Angaben über den
Mädchenhändlerring zu bekommen“, was aber in den drei Jahren nicht gelungen sei.
Mal teilte Jennifer W.s Anwältin den Ermittlern mit, ihre Mandantin befinde sich
im Ausland, dann, sie lebe unter falschem Namen in Hannover und sei deshalb
nicht aufzufinden.[7] Dabei gab Jennifer W. in der Zeit, in der sie der
Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung stand, der Zeitschrift Bravo ein
Interview und war anschließend in dem Heft auf Fotos eindeutig zu erkennen.[1]
Schließlich wurde das Verfahren eingestellt. Anfang 2008 erklärte Jennifer W.
gegenüber der Behörde, in der Sache keine Angaben mehr machen zu wollen. Die
Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen des
Verdachts der Falschaussage ein.[7]
Wiederaufnahme und Freispruch (2009–2010)
2009 erreichte Johann Schwenn als Ralf Wittes neuer Rechtsanwalt eine
Wiederaufnahme des Prozesses gegen Witte. Er warf der Staatsanwaltschaft vor,
entlastendes Material zurückgehalten zu haben, und sprach von einem
Justizskandal. Die Behörde wies den Vorwurf zurück. Das für die Wiederaufnahme
zuständige Landgericht Lüneburg ließ ein neues Gutachten über die Zeugin
Jennifer W. erstellen, das zu dem Ergebnis kam, es gebe deutliche Zweifel an
ihrer Glaubwürdigkeit.[15] Sie leide an einer Borderline-Symptomatik.[17]
Daraufhin ordnete das Landgericht nach fünf Jahren Haftdauer die sofortige
Unterbrechung der Vollstreckung und die Freilassung Wittes an.[15]
Nach
anderthalb Jahren Wiederaufnahmeverfahren und fünf Wochen Verhandlung ließ
Jennifer W. über ihre Anwältin kurz vor dem Urteilsspruch ein Attest vorlegen,
nach dem sie aufgrund der angeblichen Vergewaltigungen an Krebs erkrankt
sei.[18] Der Richter unterbrach die Sitzung und klärte noch am selben Tag
persönlich auf, dass es sich bei dem Attest um eine Totalfälschung handelte.[19]
Ralf Witte und Karl-Heinz Wulfhorst wurden am 8. September 2010 durch das
Landgericht Lüneburg vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. In seiner
Begründung führte der Vorsitzende Richter aus: „Dieser Fall hätte in Hannover
nicht einmal angeklagt werden dürfen.“[16]
Schon ein halbes Jahr vor
seiner Freilassung war Ralf Witte in einem Zivilprozess freigesprochen worden,
in dem Jennifer W. versucht hatte, Schadensersatz von ihm zu erlangen. Dieses
Urteil war ein Wendepunkt.[20] Auf seiner Website schreibt Witte, er habe in
diesem Zivilprozess am Landgericht Hannover gute Erfahrungen machen dürfen,
„also es ist nicht alles schlecht, was in diesem Hause entschieden wird“.[21]
Nach dem Freispruch
Wittes Verteidiger Johann Schwenn äußerte nach dem
Freispruch harsche Kritik wegen der Fehlurteile im Jahr 2004. Er warf den damals
beteiligten Richtern und Staatsanwälten am Landgericht Hannover Unfähigkeit und
„unglaubliche Unprofessionalität“ vor. Das Gericht in Hannover sei zugunsten des
vermeintlichen Opfers befangen gewesen. Dies sei auch an dem hochemotionalen Ton
der damaligen Urteilsbegründung erkennbar, der allein schon den
Bundesgerichtshof hätte veranlassen sollen, das Urteil aufzuheben.[1] Gegen die
Berichterstatterin der hannoverschen Strafkammer wurde nach einer Strafanzeige
Schwenns ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der falschen uneidlichen
Aussage eingeleitet, nachdem sie sich während des Wiederaufnahmeverfahrens in
erheblichem Umfang auf Gedächtnislücken berufen hatte.[12] Gegen die
Staatsanwälte in Hannover wurde ebenfalls aufgrund einer Strafanzeige
Schwenns[1] ein Verfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet. Der niedersächsische
Justizminister Bernd Busemann kritisierte das Verhalten der Staatsanwaltschaft
und drückte sein Bedauern wegen der fehlerhaften Verurteilungen und ihrer
gravierenden Folgen aus.[17]
Jennifer W. bekam aus Angst vor Witte und
ihrem Vater eine neue Identität; für das gefälschte Attest musste sie eine
Geldbuße in Höhe von 5.000 Euro zahlen.[18] Die Gutachter, die ihr im Jahr 2004
Glaubwürdigkeit attestiert hatten, wurden wegen ihrer damaligen
Fehlentscheidungen nicht zur Rechenschaft gezogen. Ebenso wie das Landgericht
Hannover verweigerten sie im Jahr 2013 Stellungnahmen gegenüber dem
Fernsehmagazin Panorama.[22]
Nach seinem Freispruch sagte Ralf Witte:
„Die Geschichte hat zehn Jahre meines Lebens zerstört. Fünf Jahre und acht
Monate, die ich im Gefängnis gesessen habe, kann man nicht mit Geld
wiedergutmachen.“ Seine Stelle bei den Hannoverschen Verkehrsbetrieben hatte er
verloren, Freunde und Bekannte hatten sich abgewandt.[16] Er litt nach seiner
Haftstrafe an Angstzuständen, war arbeitsunfähig und ging in Rente.[23] Auch
sein Haus musste er aufgeben.[24] Für die zu Unrecht erlittenen fünfeinhalb
Jahre Haft erhielt er 50.000 Euro Haftentschädigung (25 Euro pro Tag). Davon
wurden noch 6.000 Euro Essensgeld abgezogen.[25][8]
Am 24. November 2010
setzte Witte sich per E-Mail mit Jörg Kachelmann in Verbindung, der zu dieser
Zeit ebenfalls wegen mutmaßlicher Vergewaltigung angeklagt war und im
Kachelmann-Prozess vor Gericht stand. Witte berichtete von seinem Fall und riet
Kachelmann, seinen Anwalt Reinhard Birkenstock gegen Johann Schwenn
auszutauschen. Kachelmann folgte dem Ratschlag[12] und wurde später ebenfalls
freigesprochen.[26]
Bei einem Fernsehauftritt Anfang 2015 sagte Ralf
Witte, er werde wegen des erlittenen Unrechts gerichtlich klagen und dabei nicht
aufgeben. Sein Anwalt sagte laut Witte damals: „Das wird noch zehn Jahre dauern,
bis wir damit durch sind.“ Witte sagte, es sei ihm unmöglich, wieder arbeiten zu
gehen, weil er sich immer noch jeden Tag mit diesem belastenden „Kram“
auseinandersetzen müsse.[27]
Im Jahr 2019 musste Ralf Witte wegen seiner
Angstzustände noch immer therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.[23] Um seine
verstörenden Erfahrungen zu verarbeiten, hat er ein Buch geschrieben,[23] in dem
er die Mängel der Justiz im Umgang mit seinem Fall analysiert, das er aber noch
nicht veröffentlicht hat.[21] Auf seiner persönlichen Website zog er folgende
Bilanz:
„Ich war unschuldig, aber das Landgericht Hannover hat die
erfundenen Geschichten eines Mädchens geglaubt. Meine Unschuldsbeteuerungen und
die Argumente meines Anwalts hätten das Gericht überzeugen müssen, aber dieses
hatte einen absoluten Verurteilungswillen. Natürlich kann man nicht jedes
Verbrechen aufklären, doch in unserem Fall hätte man ganz schnell der Wahrheit
auf die Spur kommen können, wenn man es nur gewollt hätte. Unser Fall handelt
aber vielmehr von dem Unrecht, das man mir und meinem Mitangeklagten
unnötigerweise angetan hat! Die Zweite Jugendkammer des Landgerichts und die
Staatsanwaltschaft Hannover hätten erkennen müssen, dass diese Vorwürfe völlig
aus der Luft gegriffen waren. […] Zwei unschuldige Männer haben sie für viele
Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil sie einer Lügnerin glaubten. Ich möchte heute
den Menschen danken, die an mich geglaubt haben […]“[9]
Siehe auch
Justizirrtum um Horst Arnold
Justizirrtum um Thomas Ewers
Justizirrtümer um Adolf S. und Bernhard M.
Literatur
Thomas
Darnstädt: Der Richter und sein Opfer: Wenn die Justiz sich irrt. Piper, München
2013 ISBN 978-3-492-05558-1, S. 129–139.
Weblinks
Internetauftritt
von Ralf Witte
Videos bei YouTube
Ralf Witte und sein Anwalt
Johann Schwenn bei Markus Lanz, ZDF, 31. Mai 2011 (11:11 Min.)
Der Fall Ralf
Witte bei ML Mona Lisa, ZDF, 27. August 2011 (5:52 Min.)
Der Fall Ralf Witte
bei Menschen bei Maischberger, ARD, 27. Januar 2015 (15:43 Min.)
Sendung zum
Fall Ralf Witte bei Planet Wissen, WDR, 2016 (58:06 Min.)
Einzelnachweise
Landeszeitung Lüneburg: „Die Kontrollinstanzen haben versagt“ – Anwalt
Schwenn will Hannoveraner Justiz für Fehlurteil im Missbrauchsprozess zur
Verantwortung ziehen. presseportal.de, 16. September 2010.
Landeszeitung
Lüneburg: Fragen und Stellungnahmen von Landgericht und Staatsanwaltschaft
Hannover zu den Vorwürfen der Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung.
presseportal.de, 16. September 2010.
Vgl. Interview mit Johann Schwenn in der
Landeszeitung Lüneburg presseportal.de, 16. September 2010. Der Anwalt Schwenn
benennt einerseits die beiden Fälle getrennt: „Die Fälle Witte und Wulfhorst
sind Fall vier und fünf allein in meiner Praxis …“, andererseits spricht er
fünfmal zusammenfassend vom „Fall Witte/Wulfhorst“ bzw. von der „Sache
Witte/Wulfhorst“.
Skript zur Panorama-Sendung vom 23. September 2010 zum
Thema Vergewaltigung: Fünf Jahre unschuldig im Knast (PDF).
Bis zum
Freispruch von Karl-Heinz Wulfhorst im Jahr 2010 wurde sein Nachname bzw. der
Nachname seiner Tochter in den Medien abgekürzt als W. angegeben.
Aussagen
von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015,
siehe Ausschnitt bei YouTube.
Tobias Morchner: Fünf Jahre unschuldig im
Gefängnis?, Hannoversche Allgemeine, 24. Juni 2009.
Thilo Schmidt: Zum Umgang
mit Vergewaltigungsvorwürfen: Aussage gegen Aussage deutschlandfunkkultur.de,
13. Februar 2017.
Homepage von Ralf Witte, abgerufen am 12. Juni 2020.
Aussagen von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27.
Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 4:50 bis 6:20.
Kein
Kachelmann, kein Wulff, aber Pechstein Mitteldeutsche Zeitung, 28. Januar 2015.
Sabine Rückert: Anklage wegen Vergewaltigung: Schlacht um Kachelmann. In: Die
Zeit. 20. Dezember 2010, archiviert vom Original am 30. Juni 2013; abgerufen am
12. März 2019.
Aussage von Ralf Witte in der WDR-Sendung Planet Wissen, 2016,
siehe Video bei YouTube, hier 8:24 bis 8:30.
Aussage von Ralf Witte in der
WDR-Sendung Planet Wissen, 2016, siehe Video bei YouTube, hier 7:46 bis 8:30.
Fünf Jahre Knast: Staatsanwaltschaft verschweigt entlastendes Material,
Beschreibung zur Panorama-Sendung vom 25. Juni 2009, NDR.
Unschuldig im
Gefängnis: Freispruch nach fünf Jahren Haft haz.de, 8. September 2010.
Vergewaltigung: Fünf Jahre unschuldig im Knast, Panorama, NDR, 23. September
2010, Ausschnitt der Sendung auf YouTube (Länge 07:27 Min.), Skript zur Sendung
als PDF-Datei.
Das soll Recht sein? NDR, TV-Dokumentation in der
ARD-Themenwoche „Gerechtigkeit“, 12. November 2018.
Aussagen von Ralf Witte
in der WDR-Sendung Planet Wissen, 2016, siehe Video bei YouTube, hier 25:11 bis
26:55.
Aussagen von Sandra Maischberger und Ralf Witte in der ARD-Sendung
Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube,
hier 10:50 bis 11:08.
Über mich justizopferralfwitte.de, abgerufen am 12.
Juni 2020.
Gutachter: Die heimlichen Richter Panorama, NDR, 31. Oktober 2013,
Skript zur Sendung als PDF-Datei.
5 ½ Jahre zu Unrecht im Gefängnis:
Rückblick auf einen Vortragsabend mit Ralf Witte Juristische Fakultät der
Universität Hannover, 28. Januar 2019. (Das Datum des Vortragsabends war der 14.
Januar 2019, die Jahresangabe 2018 im Artikel ist ein Versehen.)
Aussage von
Sandra Maischberger und Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger
vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 12:23 bis 12:26.
Hannah Beitzer: Die Hölle sind die anderen, Süddeutsche Zeitung, 28. Januar
2015.
Freispruch für Kachelmann in: Spiegel Online, 31. Mai 2011. Abgerufen
am 1. Oktober 2013
Aussagen von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei
Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 15:08 bis
15:36.
https://de.wikipedia.org/wiki/Justizirrtum_um_Ralf_Witte
„Im Namen des Volkes“
wurde ich zu zwölf Jahren und
acht Monaten Gefängnis wegen Vergewaltigung verurteilt! Ich war unschuldig, aber
das Landgericht Hannover hat die erfundenen Geschichten eines Mädchens geglaubt.
Meine Unschuldsbeteuerungen und die Argumente meines Anwalts hätten das Gericht
überzeugen müssen, aber dieses hatte einen absoluten Verurteilungswillen.
Natürlich kann man nicht jedes Verbrechen aufklären, doch in unserem Fall hätte
man ganz schnell der Wahrheit auf die Spur kommen können, wenn man es nur
gewollt hätte. Unser Fall handelt aber vielmehr von dem Unrecht, das man mir und
meinem Mitangeklagten unnötigerweise angetan hat! Die Zweite Jugendkammer des
Landgerichts und die Staatsanwaltschaft Hannover hätten erkennen müssen, dass
diese Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen waren. Die Staatsanwältin hätte
ebenfalls feststellen müssen, dass Jennifer W. ihr eine erfundene Geschichte
erzählte. Der damalige Richter (bis 2004) und die beisitzenden Richterinnen
(heute Vorsitzende) haben ganz bewusst Entlastungszeugen nicht zugelassen. Zwei
unschuldige Männer haben sie für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil sie
einer Lügnerin glaubten. Ich möchte heute den Menschen danken, die an mich
geglaubt haben. Meine Frau hat von Anfang an gewusst, dass die Vorwürfe gegen
mich nicht wahr sein können und meine Kinder haben mir auch stets voll vertraut.
Dafür war ich immer sehr dankbar. Ganz besonders möchte ich einer Familie aus
unserem kleinen Dorf danken. Sie hat meiner Frau immer vertraut und ihr seelisch
und finanziell geholfen. Ohne diese Familie wäre ein Wiederaufnahmeverfahren mit
Herrn Rechtsanwalt Johann Schwenn aus Hamburg wahrscheinlich unmöglich für uns
gewesen. Ich wurde 2001 von der damals 15-jährigen Jennifer W. beschuldigt, sie
mehrfach brutal vergewaltigt und dabei entjungfert zu haben.
2004
verurteilte mich das Landgericht Hannover (Zweite Jugendkammer) daraufhin zu
zwölf Jahren und acht Monaten Haft. Zwei Gutachter hatten im Verfahren erklärt,
Jennifer W. sei absolut glaubwürdig. Ich konnte Alibis für alle vermeintlichen
Tatzeiten vorweisen, es gab keinerlei DNA-Spuren. Es gab nichts, nur die Aussage
von Jennifer W., die mich und ihren Vater der Vergewaltigung bezichtigte. Wir
hatten 42 Verhandlungstage und über 11 Monate dauerte dieses Verfahren. Fünf
Monate nach der Verurteilung erhob das vermeintliche Opfer Jennifer W. bei der
Staatsanwaltschaft Hannover neue Anschuldigungen. Sie sei seit ihrem achten
Lebensjahr Opfer eines Mädchenhändlerrings gewesen und über Jahre hinweg unter
anderem von ihrem Vater vergewaltigt und dabei gefilmt worden. Dabei habe sie
mit ansehen müssen, wie ein anderes vermeintliches Opfer ein Baby zur Welt
brachte, dieses Baby sei nach der Geburt an die Wand geworfen worden und habe
dieses nicht überlebt. Die Staatsanwaltschaft versuchte die Angaben zu
überprüfen, jedoch ohne Ergebnis. Weder konnten die Beschuldigten identifiziert,
noch der Tatort lokalisiert werden. Unsere Revision war zu diesem Zeitpunkt noch
nicht abgeschlossen, trotzdem leitete die Staatsanwaltschaft ihre Erkenntnisse
nicht an unsere Rechtsanwälte weiter. Die Ermittlungen um die neuen
Anschuldigungen ließ man drei Jahre und vier Monate ruhen. Währenddessen habe
man immer wieder versucht, mit Jennifer W. weitere Gespräche zu führen, um
konkretere Angaben über den Mädchenhändlerring zu bekommen, was aber in den drei
Jahren und vier Monaten nicht gelungen sei.
Mal teilte Jennifers Anwältin
den Ermittlern mit, sie befände sich im Ausland, mal die Zeugin lebe unter
falschem Namen in Hannover und sei deshalb nicht aufzufinden. Schließlich wurde
das Verfahren eingestellt. Widersprüche zwischen den Aussagen Jennifers in
beiden Verfahren hinsichtlich ihrer angeblichen Entjungferung wurden nicht
aufgeklärt. Anfang 2008 erklärte Jennifer gegenüber der Staatsanwaltschaft
Hannover, in der Sache keine Angaben mehr machen zu wollen. Daraufhin wurde ihr
Vater in dem neuerlichen Verfahren freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft
Hannover hätte an diesem Tag sofort eine Wiederaufnahme unseres Verfahrens von
2003-2004 von Amts wegen prüfen müssen. Doch der alkoholkranke Staatsanwalt, der
die neuerlichen Aussagen im September 2004 aufgenommen hatte, war schon außer
Dienst. Und offensichtlich waren seine Nachfolger dafür nicht zuständig. Unsere
Wiederaufnahme gelang erst mit dem Wiederaufnahmegesuch von Herrn Rechtsanwalt
Johann Schwenn aus Hamburg, den meine Frau und ich mittlerweile für unseren Fall
gewinnen konnten.
http://www.justizopferralfwitte.de
Ralf Witte
info@justizopferralfwitte.de
Stand 08.05.2022
Dr. Hans-Georg Straßer (geb. zensiert durch Anordnung des "Berliner Beauftragten für Datenschutz" 1946) - Vorsitzender Richter am Landgericht Kempten (ab 01.09.1995, ..., 2010) - im Handbuch der Justiz 1988 unter dem Namen Hans Georg Straßer ab 09.12.1977 als Richter am Amtsgericht Kempten aufgeführt. Im Handbuch der Justiz 1994 ab 15.06.1990 unter dem Namen Hans-Georg Straßer als Staatsanwalt als Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft Kempten aufgeführt. Im Handbuch der Justiz 1998 und 2010 unter dem Namen Hans-Georg Straßer ab 01.09.1995 als Vorsitzender Richter am Landgericht Kempten aufgeführt. 01.11.2013: "Unschuldig im Gefängnis Einspruch, Euer Ehren. Durch seine Entscheidung verbrachte ein Mann sieben Jahre hinter Gittern: Jetzt versucht ein Richter, sein fatales Fehlurteil in einem Vergewaltigungsprozess zu rechtfertigen. Doch sein Opfer will ihm diese Chance nicht geben. Vor zwei Wochen, am 29. Oktober, saß Dieter Gill abends vor dem Fernseher. In den Nachrichten wurde über ihn berichtet. Für die Deutschen wird er von nun an der Vater sein, der sieben Jahre lang unschuldig im Gefängnis saß, weil seine Tochter 1996 eine Lüge verbreitet hatte. Detailliert bezeugte der Teenager damals vor dem Landgericht Kempten seine Vergewaltigung durch den Vater. Der Vorsitzende Richter, Hansjörg Straßer, glaubte ihr. Er, seine beiden Schöffen und die zwei Beisitzer hatten keine Zweifel. Seit dem 29. Oktober, 17 Jahre später also, ist rechtskräftig, dass auch Richter Straßer irrte. Dieter Gills großer Tag fühlte sich aber nicht so groß an. Nach seinem Freispruch durch das Landgericht Memmingen mochte er den Sekt nicht trinken, den er morgens kaltgestellt hatte, notierten Journalisten der Zeit. Gill bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente, seine größte Sorge gilt der 33-jährigen Tochter. Sie vor allem hatte die Wiederaufnahme ermöglicht, weil sie ihre Anschuldigung zurücknahm und so neue Tatsachen schuf. Unter Tränen erzählte sie im Memminger Landgericht die Wahrheit. Anderntags erhielt Gill einen Anruf von Richter Straßer, der mittlerweile im Ruhestand ist. Straßer bat um ein Treffen, weil sie "ein gemeinsames Schicksal" verbinde. Ganz sicher will Dieter Gill, 62, eines nicht: dem Vorsitzenden Richter i.R. begegnen, der so brutal in sein Leben eingriffen hat. ..." - http://www.sueddeutsche.de/panorama/unschuldig-im-gefaengnis-einspruch-euer-ehren-1.1816068
25.000 Euro Entschädigung Unschuldig Verurteilter verlangt zusätzlich Schadenersatz
Aufgrund eines fehlerhaften Gutachtens aus dem Brandenburgischen Landesinstitut für Rechtsmedizin wurde Veysel Kurt im Jahre 2010 zu einer langjährigen Haftstrafe wegen Totschlags verurteilt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil zwar wegen grober Rechtsmängel wieder auf, Kurt wurde in einem zweiten Prozess vier Jahre später freigesprochen. Seine bürgerliche Existenz und seine Gesundheit aber sind durch das Strafverfahren und die erlittene Untersuchungshaft nachhaltig zerstört worden. Deshalb fordert er Schadenersatz vom Land. Am Dienstag verhandelt das Oberlandesgericht in Brandenburg darüber. ...
27.03.2017
Unschuldig im Knast
ARD, Mittwoch 1. Juli 2009, 23.30 Uhr
SWR-Fernsehen, Mittwoch, 23. September 2009, 20.15 Uhr
ARD Extra, Donnerstag, 2. Juli 2009, 20:15 Uhr
ARD Extra, Samstag, 4. Juli 2009, 17:03 Uhr
ARD Extra, Samstag auf Sonntag, 5. Juli 2009, 03:05 Uhr
Ein Film von Valentin Thurn, 44 Minuten
Es ist der Alptraum schlechthin: Der Tag, an dem „Im Namen des Volkes“ ein Richter spricht: schuldig! Der Verurteilte weiß: ich war es nicht. Doch keiner glaubt es ihm.
Drei Fälle stehen im Mittelpunkt dieser Dokumentation:
Donald Stellwag, der neun Jahre wegen Bankraubs im Knast saß. Nur zwei Wochen nach seiner Entlassung wurde der echte Bankräuber auf frischer Tat geschnappt.
Harry Wörz, verurteilt zu 11 Jahren Haft, freigesprochen nach fünf Jahren Haft und jetzt erneut vor Gericht, weil ihn die Staatsanwalt immer noch für schuldig hält.
Und Andreas Kühn, der aus dem Knast die Wiederaufnahme seines Falls anstrebt. Dabei hilft ihm sein ehemaliger Chef, der von seiner Unschuld überzeugt ist.
Buch und Regie: Valentin Thurn
Mitarbeit: Karin de Miguel
Kamera: Hans Hausmann
Ton: Thorsten Czart, Alex Czart
Schnitt: Oliver Held,
Musik: BASS
Sprecher: Volker Risch
Darsteller: Sahra Flock, Jenny Krenz, Guido Henrichs, Michael Jost, Jens Lange, Hansjörg Schaub, Jörg Schwaiger
Maske: Ute Gross
Requisite: Eric Fischell
Aufnahmeleitung: Katja Matthias
Redaktion: Hans-Michael Kassel (SWR)
Produktion: Thurn Film
THURN FILM
Marsiliusstr. 36
50937 Köln
Tel. 0221 - 9420 2510
Fax 0221 - 9420 2512
mobil 0163 - 548 9353
(Sächsische Zeitung)
Gefangen in der Blitzerfalle
Von Thomas Schade
In Hoyerswerda macht eine fehlerhafte Messanlage fast 600 Autofahrer zu Verkehrssündern, 400 sollen begnadigt werden. Oder auch nicht.
Uwe Appenheimer vor dem Blitzer am Kamenzer Bogen in Hoyerswerda. Der Gastwirt wurde zu früh verurteilt und muss auf Gnade hoffen. Foto: Robert Michael
Ein Blitz lässt Uwe Appenheimer seit Monaten am Rechtsstaat zweifeln. Nur Millisekunden lang und grell schoss das rote Licht am 21. Mai 2007 um 12.20 Uhr aus dem olivgrünen Kasten ins Gesicht des 46-jährigen Gastwirtes.
Auf dem Weg zum Globusbaumarkt passierte Appenheimer an jenem Tag die einzige Ampelkreuzung von Dörgenhausen vor den Toren von Hoyerswerda. „Es war knapp, aber bei Rot bin ich nicht über die Kreuzung gefahren“, sagt Appenheimer. Er kann Rot, Gelb und Grün unterscheiden. „Das kontrolliert jedes Jahr der Doktor.“ Appenheimer fliegt Leichtflugzeuge und muss regelmäßig zum medizinischen Check-up. Außerdem sei er ein gesetzestreuer Bürger: „Ich nehme Behinderten nicht den Parkplatz weg, ich kenne Liechtenstein aus dem Atlas, und nicht mal bei Frau Birthler habe ich etwas über mich gefunden“, frozzelt er.
Die ganze Härte des Gesetzes
Seit vielen Wochen schon blitzt es nicht mehr aus dem Kasten an der Kreuzung Kamenzer Bogen Ecke Wittichenauer Straße. Doch den Gastwirt aus dem kleinen Ort Weißig trifft seither das Gesetz in seiner ganzen Härte. 1,91 Sekunden habe das rote Licht der Ampel bereits geleuchtet, als er die Kreuzung befuhr, heißt es im Bußgeldbescheid aus dem Hoyerswerdaer Rathaus. 125 Euro Geldbuße, vier Wochen Fahrverbot und vier Punkte in Flensburg donnerten auf Appenheimer nieder. Doch der ließ sich davon nicht schrecken, legte Widerspruch gegen den Bescheid ein.
Ohne juristischen Beistand saß er einige Wochen später im Hoyerswerdaer Amtsgericht vor Evelin Kloß. Die 49-jährige Richterin ist eine lebenserfahrene Juristin. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie den ersten Raucher freigesprochen, den städtische Kontrolleure im „Grillhaus Istanbul“ trotz Rauchverbot beim Qualmen erwischt hatten und mit Bußgeld bestrafen wollten.
Auch Uwe Appenheimer hat die Amtsrichterin in angenehmer Erinnerung. „Mein Ruf nach Freispruch verhallte ungehört, aber die Richterin wusste, was ein Gastwirt nicht gebrauchen kann“, sagt er. Sie schraubte Appenheimers Bußgeld auf 200 Euro hoch und erließ dafür das Fahrverbot. Das Urteil vom 7.September 2007 wurde sofort rechtskräftig. Bis Ende Januar sollte er insgesamt 252,52 Euro an die Landesjustizkasse zahlen: Bußgeld, Gebühren, Verfahrenskosten.
Ein Gutachten mit Folgen
Noch ehe er zahlte, las Appenheimer in der Zeitung von dem Lkw-Fahrer aus Solingen, dem es an derselben Ampel ähnlich ergangen war. Der Berufskraftfahrer hatte einen Rechtsanwalt um Hilfe gebeten. Außerdem wurde der Sachverständige Dieter Rachel aus Riesa mit einem Gutachten über den Blitzer am Kamenzer Bogen beauftragt. Als alle Beteiligten dieses Falls am 23.November 2007 ebenfalls vor der Amtsrichterin Kloß saßen, wurde amtlich bekannt, was viele ahnten: Die Anlage arbeite fehlerhaft, so die Richterin nach der Lektüre des Gutachtens.
Die Induktionsschleife, die die Zeitmessung auslöst, liegt nicht wie vorgeschrieben einen bis eineinhalb Meter vor der Haltelinie der Autos in der Fahrbahn, sondern sechs bis sieben Meter davor. Außerdem wird der olivgrüne „Starkasten“ nicht wie vorgeschrieben mit 220 Volt Stromspannung betrieben, sondern nur mit 42 Volt. Die Folge: Die Anlage weise die „Rotlichtverstöße nicht zweifelsfrei nach“, so das Gutachten.
Auf Suche nach Gerechtigkeit
Der Brummi-Fahrer aus Solingen bekam einen Freispruch erster Klasse, während Uwe Appenheimer wegen desselben Vergehens rechtskräftig verurteilt war und sein Bußgeld zahlte, um einer Pfändung und weiteren Kosten zu entgehen. Nun erst recht auf der Suche nach Gerechtigkeit, bat er im Amtsgericht um Rat. Er solle die Wiederaufnahme seines Falls beantragen und auf das Gutachten verweisen, wurde ihm geraten. Doch die Rechtspflegerin, die ihm dabei helfen sollte, schickte Uwe Appenheimer wieder heim. Ihre unhaltbare Begründung: Da sei nichts mehr zu machen, die Frist für eine Wiederaufnahme sei überschritten. Der Direktor des Amtsgerichts entschuldigte sich im März 2008 persönlich für das „nicht korrekte Verhalten“ der Rechtspflegerin.
665 fehlerhafte Messungen
„Beim zweiten Versuch wurde mir ausgesprochen freundlich und kompetent geholfen“, sagt Appenheimer. Fünf Monate lang zermahlten die Mühlen der Justiz seinen Wiederaufnahmeantrag. Am 28.August 2008 stellte ihm das Amtsgericht „anheim“, den Antrag zurückzuziehen, „um gegebenenfalls weiteren Kostenrisiken zu entgehen“. Denn nach „derzeitiger Rechtsauffassung“ folgte die ostsächsische Gerichtsbarkeit der ausgesprochen dünnen Argumentation der Staatsanwaltschaft. Die lehnte die Wiederaufnahme des Falls ab, weil Appenheimer über die fehlerhafte Blitzeranlage nur einen Zeitungsbericht und kein eigenes Gutachten hatte. Dabei waren dem Amtsgericht und der Stadtverwaltung das Gutachten des Experten seit einem Dreivierteljahr bekannt und der seit November 2007 abgeschaltete Blitzer vor den Stadttoren eine allen bekannte Tatsache. Heute glaubt Uwe Appenheimer: „Die wollten alle nur eine peinliche Blamage vermeiden.“ Denn er und der Berufskraftfahrer aus Solingen waren längst nicht die Einzigen, die in die Blitzerfalle geraten waren. Im April 2007 hatte die Stadt die Rotlichtüberwachungsanlage, wie sie im Amtsdeutsch heißt, in Betrieb genommen. Als der Blitzer nach sieben Monaten wegen der offensichtlichen Messfehler abgeschaltet werden musste, hatte die Stadt nach eigenen Angaben bereits 665 Bußgeldverfahren eingeleitet. In Rede stehen rund 80000 Euro, die der Fiskus damit kassierte–größtenteils zu Unrecht.
Gnadengesuch ruht
Uwe Appenheimer erfuhr am Vorweihnachtstag 2008 aus dem Amtsgericht, dass da „ein gewaltiger Stein ins Rollen gekommen“ sei, wie er sagt. Rund 400 Bußgeldverfahren müssen aufgehoben werden. 110 Fälle, in denen Urteile ausgesprochen wurden, seien wieder aufgenommen und in Freisprüche umgewandelt worden. Nur er habe Pech, erfuhr Uwe Appenheimer. Sein Wiederaufnahmeverfahren wurde bereits abgelehnt. „Damit hätte ich den Rechtsweg ausgeschöpft, sagte man mir“, so Appenheimer. Außerdem wurde er mit nur 200Euro Geldstrafe zu gering bestraft. Erst ab 250 Euro betreibt die Justiz den Aufwand eines Wiederaufnahmeverfahrens.
Im Rathaus von Hoyerswerda hält man sich mit Auskünften ziemlich zurück. Als Uwe Appenheimer von seinem Pech erfuhr, hatte Bürgermeister Stefan Sorka (CDU) bereits ein Gnadengesuch für fast 400 zu Unrecht beschuldigte Autofahrer beim Innenministerium in Dresden gestellt. Ob auch Gnade für Uwe Appenheimer beantragt wurde, will Rathaussprecher Bernd Wiemer nicht sagen.
Doch die Stadt hat es sich wohl etwas zu einfach gemacht. Denn seit etwa drei Wochen ruht dieses Gnadengesuch in Dresden, erklärt Ministeriumssprecher Lothar Hofner auf Nachfrage. Er bestätigt, dass es sich bei der Blitzerfalle von Hoyerswerda um einen „bundesweit einzigartigen Fall“ handelt. Nach einem weiteren Urteil des Amtsgerichtes muss die Stadt alle Fälle erneut überprüfen. Der Grund ist die Verurteilung eines Fahranfängers. Neben einer Geldstrafe verlor er auch seinen Führerschein, den er nun neu erwerben muss, wenn er wieder Auto fahren will. Das ist nach Ansicht des Innenministeriums mit so hohen Folgekosten verbunden, dass der Fall auch auf dem Rechtsweg durch die Wiederaufnahme im Sinne des Fahranfängers entschieden werden kann. Nach Bekanntwerden dieses Falles seien deshalb alle Akten wieder zurück nach Hoyerswerda geschickt worden, sagt Hofner.
Die Stadt muss nun alle Fälle auf diese Folgekosten überprüfen. Gnade ist eben nur der letzte Weg, um Rechtsfrieden herzustellen. In Dresden wird auf den immensen Aufwand in Verwaltung und Justiz verwiesen, den die Blitzerfalle verursacht hat. Abgebaut werden soll sie nicht. Die Kreuzung sei ein Unfallschwerpunkt, aber vordringlich sei das auch nicht, da es für die notwendige Reparatur noch keinen Termin gebe, so Stadtsprecher Wiemer.
All das hilft Uwe Appenheimer nicht. Ihm geht es schon lange nicht mehr um 252,52 Euro. Er nimmt das Grundgesetz zur Hand, das er mal im Bundestag geschenkt bekommen hat und liest Artikel 3 vor: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Da müsse er eben dort hin, wo über diesen Artikel entschieden werde, sagt er.
Donnerstag, 26. März 2009
http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=2111881
Politiker einig: Entschädigung bei Justizirrtümern erhöhen
Berlin (ddp). Die Grünen-Bundestagsfraktion hat die Regierung aufgefordert, sich für eine höhere Haftentschädigung einzusetzen.
«Für Menschen, die in Deutschland zu Unrecht Freiheitsentzug erlitten haben, muss es endlich eine menschenwürdige Entschädigung geben», sagte der Grünen-Politiker Volker Beck der Wochenendausgabe der «Berliner Zeitung».
«Die Entschädigungshöhe muss die Wertschätzung der Rechtsordnung vor der Freiheit der Bürger und ihrer Menschenwürde zum Ausdruck bringen», forderte er.
Derzeit werden elf Euro pro Tag zu Unrecht erlittener Straf- oder Untersuchungshaft gezahlt. Das Bundesjustizministerium prüft seit Herbst letzten Jahres, ob eine Erhöhung sich durchsetzen lässt. Auch in der Regierungskoalition gibt es Befürworter. «Die Entschädigung sollte erhöht werden», sagte der rechtspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stephan Mayer, dem Blatt. Der immaterielle Schaden, der Verlust an Lebensqualität und die Rufschädigung, seien für zu Unrecht Inhaftierte enorm.
Der FDP-Politiker Jörg van Essen nannte eine Entschädigung von elf Euro nicht angemessen. «Eine Anhebung ist dringend geboten», sagte er. «Die Auswirkung auf die Arbeit und die Existenz ist gravierend.
Deswegen sollte der Staat bei einem Irrtum nicht knausern.» Der Deutsche Anwaltverein strebt eine Entschädigung von rund 100 Euro pro Tag an.
Vereinssprecher Sven Walentowski nannte die derzeitige Höhe der Entschädigung «beschämend».
17.08.2008 Ta
http://www.e110.de/artikel/detail.cfm?pageid=67&id=89832
Justizirrtum in Berlin
888 Tage unschuldig im Knast
Von Barbara Hans
Monika de M. saß als Mörderin im Gefängnis, verlor Job, Wohnung, ihr altes Leben. Jetzt hat das Berliner Landgericht die vermeintliche Brandstifterin freigesprochen. Ein Justizirrtum, der das Opfer hilflos zurücklässt: "Wat soll ick dazu sagen? Ick hab ja nüscht jemacht."
Berlin - "Der Tathergang ist nicht feststellbar. Die Gutachten des Landeskriminalamtes sind nicht tragfähig." Mit diesen klaren Worten der Richterin Angelika Dietrich wurde heute im Berliner Landgericht ein Justizirrtum revidiert, der die vermeintliche Brandstifterin Monika de M. vor drei Jahren hinter Gitter brachte - und ihr Leben zerstörte.
Monika de M. nach ihrem Freispruch: "Wat soll ick dazu sagen?"
19 Verhandlungstage, verteilt auf ein halbes Jahr, hatte die 22. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts gebraucht, um Monika de M. im Januar 2005 wegen Mordes, Brandstiftung mit Todesfolge und Versicherungsmissbrauchs zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung zu verurteilen.
Richter Peter Faust hatte damals genug Zeugen gehört und genügend Gutachten gelesen, um der Arzthelferin die besondere Schwere ihrer Schuld nachzuweisen. 888 Tage verbrachte die daraufhin im Knast - zu Unrecht, wie das Gericht nun festgestellt hat. Für Monika de M.s Freispruch benötigte die 29. Schwurkammer des Berliner Landgerichts ganze zwei Tage.
Ihr Urteil begründete Richterin Angelika Dietrich mit den Worten: "Der Angeklagten ist die Ermordung ihres Vaters zur Last gelegt worden. Sie soll im gesamten Haus fünf bis zehn Liter Brennspiritus ausgeschüttet und angezündet haben. Dieser Tatvorwurf wiegt außerordentlich schwer. Ein Mord soll begangen worden und fünf Mordmerkmale erfüllt gewesen sein." Allein: Was vor drei Jahren als überzeugende Beweislage galt, hat sich mittlerweile - und zwar nicht durch die Arbeit der Ermittler - als gegenstandslos herausgestellt.
Heute sah es die Kammer als erwiesen an, dass nicht Monika de M. das Feuer gelegt hat, in dem ihr Vater starb, sondern dass es durch eine brennende Zigarette ausgelöst wurde. Die Kammer habe keine Zweifel, dass die These, der Brand sei durch Brennspiritus entstanden, eindeutig widerlegt worden sei, so Dietrich.
"Een Jefühl wie nach der bestandenen Führerscheinprüfung"
Monika de M. dankte vor Gericht ihrer Familie für deren Unterstützung und betonte in Richtung der Kammer, das Verfahren sei im Gegensatz zum ersten "okay" gewesen. Große Worte sind nicht ihr Metier.
Sie fühle sich "jeklatscht", sagt sie unmittelbar nach ihrem Freispruch, müsse das alles erst einmal verarbeiten. "Datt is een Jefühl wie nach der bestandenen Führerscheinprüfung." Die Urteilsverkündung verfolgt Monika de M. scheinbar gelassen. Man könnte auch sagen: teilnahmslos. Es ist eine Ruhe, die ihr im ersten Verfahren als Gleichgültigkeit ausgelegt worden ist. "Ick hab ne Mauer uffjebaut", ist alles, was Monika de M. sagt, wenn man sie nach ihrer Gelassenheit fragt. "Wat soll ick dazu sagen? Ick hab ja nüscht jemacht."
Zwischendurch schüttelt sie ganz leicht den Kopf. Es scheint mehr eine Geste für sie selbst als ein Signal an die Außenwelt. Ihre Hände sind gefaltet, mit den Spitzen der Zeigefinger tippt sie im immergleichen, langsamen Rhythmus gegeneinander. Es ist eine merkwürdige Ruhe, die die 52-Jährige ausstrahlt. Manchmal scheint sie unsicher, flüchtet sich in lockere Sprüche, unbeholfenes Gelächter. Was sie denn rückblickend über das erste Verfahren denkt? Sie denke lieber gar nicht mehr dran, das sei besser. Ob sie den Freispruch feiern wird? "Vielleicht jehen wir kurz wat trinken, mehr nich."
Während des Plädoyers ihres Verteidigers schaut sie immer wieder zu den Zuschauerbänken, auf denen viele Mitglieder ihrer Familie sitzen, zieht ihren Pullover und ihre Socken zurecht. Seine Mutter habe vor dem Prozess immer viel geredet, viel gelacht. Jetzt sei sie stiller geworden, viel stiller, sagt ihr 30-jähriger Sohn. "So schnell kann's jehen", sagt sie selbst. Es ist ein knappes Fazit eines Verfahrens, das sich über viereinhalb Jahre erstreckt hat. Keine Worte des Zornes, der Wut, keine Worte über ein Leben, das nicht mehr das alte ist, seit Monika de M. gesessen hat, verurteilt für einen Mord, den sie nicht begangen hat.
Es scheint ein wenig so, als habe die Familie immer noch nicht begriffen, was an jenem 18. September 2003 über sie hereingebrochen ist. "Sie müssen sich vorstellen, die Verurteilung wegen Mordes hängt immer noch wie ein Damokles-Schwert über ihrem Kopf. Das darf man nicht unterschätzen", sagt ihr Anwalt Lutz Körner. "Ihre ersten Worte nach dem Urteil waren: endlich frei. Jetzt kann ein ganz neuer Abschnitt für sie beginnen."
"Das LKA müsste einen Nobelpreis kriegen"
Dem Einsatz ihres Anwaltes und ihres Schwagers Rudolf Jursic hat es Monika de M. zu verdanken, dass das Urteil der 22. Großen Strafkammer nun aufgehoben wurde. Der 59-jährige Ingenieur, ein massiger Mann mit einer tiefen Stimme und ebenso tiefen Furchen im Gesicht, hat Tausende Stunden investiert, um nachzuweisen, dass das Gutachten der Sachverständigen des LKA fehlerhaft, die Schwester seiner Ehefrau - die im Prozess als Nebenklägerin auftrat - den Brand nicht gelegt hat.
Jursic hat wie ein Besessener Modelle gebaut, Versuchsreihen dokumentiert, Studien gesammelt. Doch seine Wut ist nach dem Freispruch nicht verraucht. Im Gegenteil: Aus dem Kampf für die Freiheit seiner Schwägerin ist längst auch ein Feldzug gegen die Vorgehensweise des LKA geworden, der Fall sei "nur einer in einer immer länger werdenden Kette", dahinter stehe nicht weniger als ein Justizskandal. "Das LKA müsste einen Nobelpreis kriegen: Die schaffen es, Ethanol nachzuweisen, wo es gar keins gibt."
Für Richter Peter Faust war der Fall Monika de M. in der ersten Instanz klar: Die Arzthelferin soll in jener Nacht das Reihenhaus ihres Vaters in Berlin-Neukölln angezündet haben, um die Versicherungssumme in Höhe von rund 220.000 Euro zu kassieren. Ihr an Bronchialkrebs erkrankter, bettlägeriger Vater starb in den Flammen, ihr damaliger Lebensgefährte konnte sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten. Monika de M. war als einzige bekleidet, als einzige unverletzt, als die Feuerwehr, die sie gerufen hatte, am Unglücksort eintraf. "Kommen Sie schnell, wir brennen ab!", hatte sie am Telefon gesagt.
Ihr Vater habe immer im Bett geraucht, erklärte sich Monika de M. gegenüber einer Polizistin am Unglücksort. Mehrfach waren ihm brennende Zigaretten aus der Hand und auf den Boden gefallen. Monika de M. habe in diesem Moment "emotionslos" gewirkt, wird sich die Polizistin später erinnern. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Emotionen, vielleicht war Monika de M. überwältigt, schockiert. Sich auszudrücken ist nicht ihre Stärke, das weiß sie selbst. Im Prozess wurde es zu ihrem Verhängnis.
Monika de M.s Motiv schien auf der Hand zu liegen - zumindest für Richter Faust: "Aufgewachsen in bürgerlichen Verhältnissen stand sie an der Grenze zur Asozialität: pleite, Lohn gepfändet, Sohn im Gefängnis, der zwölf Jahre jüngere Geliebte ein Trinker", begründete er 2005 sein Urteil. De M. habe Geldprobleme gehabt - und in der Versicherungssumme für das Haus die Lösung für ihre Sorgen gesehen. Dass de M. ihren Vater zuvor lange gepflegt hatte, die Ärzte ihm aufgrund seiner Erkrankung ohnehin nur noch zwei Monate zu leben gaben und ihre Schulden sich auf nur ein- bis zweitausend Euro beliefen - all das zählte wenig. "Es wurde nachgewiesen, dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde", heißt es in dem ersten Urteil.
"Bei uns taucht Spiritus nicht so häufig als Brandursache auf"
Gestützt wurde diese Annahme von zwei Gutachtern des LKA Berlin - widerlegt durch vier Sachverständige der Verteidigung. Richter Faust stützte sein Urteil einzig auf die Ausführungen der LKA-Experten L. und B. und ignorierte die anders lautenden Schlüsse der Verteidigungsgutachter - ein "Darstellungsmangel", wie der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Revisionsurteil entschied und den Fall zurück an das Landgericht verwies. Zwei Monate nach dem BGH-Urteil wurde Monika de M. aus der Haft entlassen.
Im neuen Prozess hat Silke Löffler, Leiterin des Fachbereichs Brandursachen beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden, ein Obergutachten erstellt. Die Sachverständige ist zu dem Schluss gekommen, dass eine brennende Zigarette die wahrscheinlichste Ursache für das Feuer ist. Ihr Fazit ist eindeutig. "Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem Brandspurenbild und der Analyse des LKA", sagt sie mit fester Stimme. Mit anderen Worten: Die Analyse der Gutachter aus Berlin passt nicht zu den Brandspuren am Haus. 17 Proben hatten die Experten vom LKA genommen - in 16 konnten sie Brennspiritus nachweisen. "Wenn ich in 16 von 17 Proben etwas nachweisen kann, ist das meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich", sagt Löffler. Soll heißen: Eine Methode, die eine so hohe Trefferquote ergibt, ist verdächtig.
"Jede zu Unrecht erfolgte Verurteilung ist eine zu viel"
Das LKA Berlin habe bundesweit jedoch die meiste Erfahrung auf diesem Gebiet. "Bei uns taucht Spiritus nicht so häufig als Brandursache auf", sagt Löffler. Und deutet nur an, worin viele Beobachter im Berliner Landgericht einen wahren Justizskandal wähnen. Das Berliner LKA hat sich auf den Nachweis von Spiritus spezialisiert - und identifiziert mit einer besonders ausgeklügelten Methodik womöglich auch besonders viele entsprechende Fälle.
Richterin Dietrich hat sich den Ausführungen Löfflers angeschlossen - und in ihrer Urteilsbegründung angemahnt, das Gericht dürfe den Ausführungen von Sachverständigen nicht "blind folgen". "Der notwendige selbstkritische Ansatz hat bei den Gutachtern des LKA gefehlt." Die Methodik des LKA werde in der Fachwelt "vorsichtig ausgedrückt als nicht unproblematisch angesehen". Kritik übte Dietrich auch an der Vorgehensweise beim ersten Verfahren. "Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Kammer haben sich darauf verlassen, dass die Gutachten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Das war falsch."
Dennoch habe im Fall von Monika de M. das Rechtssystem gegriffen. "Das bedeutet nicht: Ende gut, alles gut. Jede zu Unrecht erfolgte Verurteilung ist eine zu viel."
09.04.2008
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,546413,00.html
Schmerzensgeld wegen langjährigen Freiheitsentzugs aufgrund fehlerhaften Sachverständigen-Gutachtens
Der 19. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main hat einen gerichtlichen Sachverständigen zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 150.000,- Euro verurteilt, weil aufgrund seines in einem Strafprozess erstatteten Gutachtens der Kläger (und dortige Angeklagte) zu Unrecht zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Bei einem Banküberfall im Jahre 1991 hatte eine automatische Überwachungskamera mehrere Lichtbilder des Täters gefertigt, die später zur Festnahme des Klägers führten. Im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wurde der Beklagte als Sachverständiger beauftragt, ein anthropologisches Vergleichsgutachten zu erstellen. Dabei waren die von der automatischen Überwachungskamera der Bank angefertigten Fotos sowie von dem Sachverständigen angefertigte Vergleichsbilder von dem Kläger auf ihre Übereinstimmung zu untersuchen. Der Beklagte kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger „mit sehr großer Wahrscheinlichkeit“ mit der Person auf den Täterbildern identisch sei. In der Strafverhandlung hatte er sich sogar dahingehend geäußert, dass für ihn an der Täterschaft des Klägers keinerlei Zweifel bestünden. Nach seiner Berufserfahrung sei es unvorstellbar, dass eine andere Person als Täter in Betracht komme. Aufgrund dieses Gutachtens wurde der Kläger wegen des Überfalls auf die Sparkasse zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Kurz nach seiner Haftentlassung wurde die Tat jedoch von dem wirklichen Täter gestanden, der mittlerweile auch rechtskräftig verurteilt worden ist.
Der Kläger hat den beklagten Sachverständigen wegen grob fahrlässiger Verletzung der Pflichten eines Sachverständigen auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 311.259,21 Euro in Anspruch genommen. Das Landgericht Hanau hatte die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von knapp 58.000,- Euro zuerkannt. Gegen diese Entscheidung hatten beide Parteien Berufung eingelegt. Der Kläger erstrebte ein höheres Schmerzensgeld, während der Beklagte seine Haftung dem Grunde nach bestritt.
Nach dem heute verkündeten Urteil verbleibt es bei der Haftung des Beklagten, während dem Kläger ein höheres Schmerzensgeld zugesprochen wurde. Auch der Senat geht davon aus, dass das Gutachten grob fahrlässig fehlerhaft erstattet wurde. Zwar sei das schriftliche Gutachten noch nicht grob fehlerhaft. Eine grob fahrlässige Fehlerhaftigkeit der Begutachtung folge jedoch aus den Äußerungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer, weil er dort nicht mehr nur eine „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ der Täterschaft, sondern das Bild einer von Restzweifeln befreiten Sicherheit vermittelt habe. Die Darstellung seines Identifikationsergebnisses in der Hauptverhandlung habe die erforderliche Differenzierung und Erläuterung der Wahrscheinlichkeitsprädikate vermissen lassen und die Darstellung gegebener Zweifel zu Ausschlussmerkmalen verabsäumt. Wenn aber Zweifel angezeigt seien, müsse der Gutachter diese Zweifel auch deutlich machen. Stattdessen habe der Sachverständige jegliche Zurückhaltung aufgegeben und eine nahezu 100%ige Wahrscheinlichkeit der Täteridentität assistiert. Der Beklagte habe somit naheliegende und von dem wissenschaftlichen Standard gebotene Überlegungen nicht beachtet. Dieser Fehlerhaftigkeit komme objektiv ein besonderes Gewicht zu, da vom Ergebnis des Vergleichsgutachtens entscheidend abhing, ob der Kläger eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen hat. Es sei eine wichtige Aufgabe des Sachverständigen, die Grenzen der anthropologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse deutlich zu machen.
Insgesamt hielt der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,- Euro als billige Geldentschädigung für 1973 Tage zu Unrecht erlittener Haft für angemessen.
Die Revision wurde nicht zugelassen.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 2. Oktober 2007 - Az: 19 U 8/2007
Pressesprecher des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main: Dr. Wolfgang Weber
Frankfurt/Main (ddp). Für eine zu Unrecht verbüßte Haftstrafe
erhält ein Hausmeister aus Bayern ein Schmerzensgeld in Höhe von 150 000 Euro. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main verurteilte einen Sachverständigen am Dienstag zu der Zahlung, weil er den heute 50-Jährigen mit seinem Gutachten fälschlicherweise schwer belastet hatte. Der Mann hatte wegen eines vermeintlichen Banküberfalls acht Jahre in Haft gesessen.
Bei dem Überfall im März 1991 hatte eine Überwachungskamera den Täter erfasst. Vor dem Landgericht Nürnberg identifizierte ein Anthropologe den Mann dann fälschlicherweise als den Täter und führte aus, dass «keinerlei Zweifel» bestünden. Erst nach Verbüßung der langjährigen Haftstrafe klärte sich der Irrtum auf.
Der Mann hatte daraufhin von dem Gutachter ein Schmerzensgeld in Höhe von gut 311 000 Euro gefordert. In erster Instanz hatte das Landgericht Hanau dem 50-Jährigen daraufhin 57 000 Euro zugesprochen. Beide Seiten legten jedoch Berufung ein.
Das OLG hielt ein Schmerzensgeld von 150 000 Euro für die zu Unrecht erlittene Haft für angemessen. Das Gutachten des Sachverständigen sei «grob fahrlässig fehlerhaft» gewesen, da der Fachmann in seiner Einschätzung vor Gericht «jegliche Zurückhaltung» aufgegeben habe. Ein Gutachter müsse aber mögliche Zweifel und die Grenzen der anthropologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse deutlich machen. Eine Revision gegen das Urteil ließ das OLG nicht zu.
(Az:19 U8/2007)
Siehe auch:
Vorsicht, Justizirrtum!
Interview bei Maischberger:
SENDUNG VOM DIENSTAG, 17. MAI 2005, 23.00 UHR
Vorsicht, Justizirrtum!
* Sendung vom 17.05.2005:
Rolf Bossi (Bild: WDR/Thomas Ernst)
Rolf Bossi (81)
"Die deutschen Strafgerichte sind so ungerecht, dass man die Urteile auch auswürfeln könnte," sagt Rolf Bossi, Deutschlands bekanntester Strafverteidiger. Justizirrtümer seien demnach "sozialstaatlich sanktionierte Kunstfehler".
In seinem aktuellen Bestseller "Halbgötter in Schwarz" geißelt der 81-Jährige, der sich in den Mordprozessen gegen Jürgen Bartsch oder Ingrid van Bergen einen Namen machte, die Willkür deutscher Richter. Er räumt zwar ein, dass 95 Prozent der Vorsitzenden saubere Arbeit ablieferten – die restlichen fünf Prozent stellten allerdings ein Problem dar.
In "Menschen bei Maischberger" spricht Bossi über mögliche Verbesserungen des deutschen Rechtssystems und seine persönlichen Erfahrungen mit Fehlurteilen.
http://www.daserste.de/maischberger/sendung_dyn~uid,m0tyle1asjq95xc4eppgk4vq~cm.asp
Betreuungsskandal Fall Göhler
In diesem Jahr enthüllte report MÜNCHEN wiederholt den Behördenwahnsinn bei Zwangs-Betreuung – und löste damit eine Lawine aus: Der jüngste und skurrilste Fall ist die Geschichte des Mathematikers Bernhard Göhler: Nur weil er sich gegen vergangenes DDR-Unrecht wehren will, soll er plötzlich unter Betreuung gestellt werden: So stellt er Anfang des Jahres Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft Dresden. Denn nur noch dieses Jahr gilt ein Gesetz, das DDR-Unrecht wiedergutmachen soll. Dann passiert das Unfassbare: Bernhard Göhler bekommt plötzlich einen Bescheid vom Vormundschaftsgericht. Die Staatsanwältin hat ein Betreuungsverfahren angeregt.
Bernhard Göhler: "Ich habe weder die Staatsanwältin noch den Richter kennengelernt oder irgendwie mit ihnen telefoniert, habe keine Verbindung gehabt."
Monatelang muss er eine Entmündigung befürchten. Schlaflose Nächte quälen das Ehepaar Göhler. Und dann muss er sich tatsächlich psychiatrisch begutachten lassen. Doch die Gutachterin wundert sich sehr über das seltsame Betreuungsverfahren. In Ihrem Gutachten stellt sie fest, dass Bernhard Göhler vollkommen gesund ist und keinerlei Betreuung benötigt.
Ursula Spranger-Göhler: "Ich wäre am liebsten durch die Decke gegangen, weil ich es für nicht fassbar hielt, dass es in einem Rechtsstaat so etwas überhaupt geben kann. Das ist also diese große Enttäuschung."
report MÜNCHEN fordert eine Erklärung von der Staatsanwältin. Doch die Staatsanwaltschaft schickt den Pressesprecher vor – und der wirkt denn auch etwas zerknirscht.
Christian Avenarius, Staatsanwaltschaft Dresden: "Die Kollegin hat heute keine komplette Erinnerung daran. Das liegt nun eine Weile zurück und sie hat sich außerordentlich bemüht noch zu rekonstruieren, was da in ihr vorgegangen sein mag. Sie hat auch gar nichts beschönigt. Sie hat auch ganz offen geprüft, ob sie vielleicht einfach einen Schlampigkeitsfehler gemacht hat, ob sie was verwechselt hat und hat die ganzen Varianten immer wieder verworfen, ist immer wieder dazu gekommen: Es muss so gewesen sein, dass ich auf Grund dieses Inhalts einen Schluss gezogen habe, den ich heute vermutlich nicht mehr ziehen würde."
http://www.br-online.de/daserste/report/archiv/2007/00434/
"Rechtsschutz gegen staatliche Erziehungsfehler: Das Vormundschaftsgericht als Erzieher"
Siegfried Bäuerle / Hans-Martin Pawlowski (Hrsg.). - 1. Aufl. - Baden-Baden : Nomos Verl-Ges., 1996
ISBN 3-7890-4415-6
NE: Bäuerle, Siegfried [Hrsg.]
Vorwort
Wissenschaftliche Untersuchungen und Analysen können ihre Wurzeln auch in dem Schicksal einzelner Familien haben. Ausgehend von dem mehrfach in der Presse publizierten Fall Binckli` beschäftigen sich in diesem Sammelband Autoren verschiedener Fachdisziplinen (Juristen, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter) mit jugendamtlichen und vormundschaftsgerichtlichen Entscheidungen sowie mit ärztlichen, psychiatrischen Gutachten, die diesem Fall zugrunde liegen und auf den wissenschaftlichen Prüfstand gelegt werden sollen.
Es geht um die Frage, inwieweit Entscheidungen von Vormundschaftsgerichten und Jugendämtern in den erzieherischen Rahmen von einzelnen Familien eingreifen dürfen und können, ohne selbst massive Schädigungen bei Kindern auszulösen. Unbestritten ist, daß die Justiz mit ihren vielfältigen Entscheidungen (Strafen u.a.) nicht nur den einzelnen Fall treffen will, sondern auch immer die Wirkung für die große Masse der Nichtangeklagten im Auge hat. Damit wird die Bereitschaft der Mehrheit der Bevölkerung, sich in den rechtlichen Rahmen einbinden zu lassen, gestärkt.
(1)Vgl. die interessanten Ausführugen von Fromm über `Der Staat als Erzieher - Zur Psychologie der Strafjustiz` (Fromm, E.: Gesamtausgabe, Band 1, Analytische Sozialpsychologie. München 1959, S. 7 - 10). Er schreibt: `Die Bedeutung der Strafjustiz liegt durchaus nicht nur darin, daß sie eine Gesellschaft vor dem Verbrecher schützen und diesen bessern soll: eine ihrer wesentlichen Funktionen ist es vielmehr, die Masse in dem von den Herrschenden gewünschten Sinn psychisch zu beeinflussen.“ (Fromm 1989d, S. 10)
Bei gerichtlichen Fehlurteilen muß andererseits auch von negativen Einflüssen auf die Bevölkerung ausgegangen werden, die möglicherweise das Ansehen und die Stabilität der Justiz und damit auch der Gesellschaft selbst gefährden. Insofern darf diese Abhandlung nicht nur als die Bearbeitung des `Falles Binckli` angesehen werden, sondern die differenzierte Diskussion über einen einzigen Fall ist notwendig, um möglicherweise größeren Schaden von unserer Gesellschaft fernzuhalten.
Absicht der Autoren ist es, mit der Veröffentlichung des `Falles Binckli` eine breite öffentliche Resonanz auszulösen und eine differenzierte wissenschaftliche Diskussion in Gang zu bringen, was das Spannungsfeld zwischen den individuellen Handlungsweisen von Menschen (in der Familie) und den Reaktionen staatlicher, altehrwürdiger und autoritätsgetragener Institutionen, wie der Justiz, angeht, die von einem immer größeren Teil von aufgeklärten Menschen durchschaut wird.
So kann anhand dieses Beispielfalles diskutiert werden, ob und inwieweit die moderne Justiz den seit Jahrzehnten als überwunden geglaubten Gedanken der Rache heute immer noch pfleglich behandelt und die vor allem psychologischen Überlegungen zu Strafen als ein weitgehend untaugliches Mittel zur Besserung von Tätern in ihr Reaktionsarsenal aufgenommen hat. Auch über den Standard von Gutachten, die von hochrangigen und gut dotierten Psychiatern und Psychotherapeuten dem Gericht vorgelegt werden, kann reflektiert werden.
Prüfkriterium für die Fortschrittlichkeit und damit Glaubwürdigkeit und Effizienz unserer Justiz sind die Erfahrungen in den Gerichtssälen und die Urteile der Gerichtspraxis, nicht aber die der jeweiligen intellektuellen Mode verpflichteten Thesen `fortschrittlicher Juristen auf Kongressen und sich modern gebender Psychoanalytiker auf Fachtagungen.
Beleuchtet man einmal einen konkreten Fall etwas genauer, so können nicht wenige Defizite und Fehler ausfindig gemacht werden. Die Autoren dieses Sammelbandes gehen durchaus nicht von behördlichen Entscheidungen ohne Fehl und Tadel aus. Da wir aber mit fehlbaren Menschen rechnen, müssen Fehler auch korrigiert werden und zwar nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der staatlichen Seite. Nicht bloße Verurteilung von Menschen, sondern gute Problemlösungen beweisen menschliche Vernunft und Größe.
Der Leser möge selbst entscheiden, inwieweit er diese Vernunft und den bloßen Menschenverstand bei den Verantwortlichen des Jugendamts in Freiburg (Breisgau) und bei den mit dem `Fall Binckli´ befaßten Richtern und Gutachtern entdeckt.
Karlsruhe, März 1996
Siegfried Bäuerle
Inhaltsverzeichnis
Einführung:
Hans-Martin Pawlowski
Kapitel 1: Zum Beispiel `Binckli´
Hans-Martin Pawlowski
Kapitel 2: Zum Schutz gegen fehlerhafte Gutachten
a) System- und prozeßorientiertes Vorgehen aus kinder- und jugend-psychiatrischer Sicht bei zu erwägendem Sorgerechtsentzug wegen Verdacht auf Kindesmißhandlung
Claus Heinemann
b) Fehlleistungen medizinischer Gutachter
Matthias Winzer
Kapitel 3: Gewalt gegen Kinder
- Zum ´Kindeswohl in psychologischen Gutachten
Siegfried Bäuerle
Kapitel 4: Überlegungen aus der Sicht des Jugendamts
Wilhelm Gerber
Kapitel 5: Zur Beschränkung der elterlichen Sorge
- Die Rechtsstellung der Eltern und Verwandten des Kindes bei staatlichen Eingriffen in die Familie -
Volker Lipp
Kapitel 6: Das Vormundschaftsgericht: Gericht oder Verwaltungsbehörde?
- Wie kann man Neutralität und Unparteilichkeit gewährleisten? -
Hans-Martin Pawlowski
Menschlicher Epilog eines Psychologen
- Eine Pathographie von institutionellen Strukturen und Entscheidungsprozessen -
Georg Hertel
"Lehren und Konsequenzen aus den Wormser Mißbrauchsprozessen."
VriLG Hans E. Lorenz in: "Deutsche Richterzeitung" 7/99. Der im Artikel geschilderte Fall ist ein ausgezeichnetes (und tragisches) Beispiel dafür, was passieren kann, wenn sich professionell zuständige auf ihren "gesunden Menschenverstand" und ihre Vorurteile verlassen, statt auf sachgerechte und umfassende Aufklärung. Er zeigt, dass die Berufsbezeichnung Sozialarbeiter/in, Gutachter/in und Richter/in noch lange keine Gewähr vor verheerenden Fehlurteilen ist.
Provinzposse beim Amtsgericht Leer und Oldenburg (Oldb)
Ein eher harmloser Fall von Justizirrtum
Die lesenswerte und höchst amüsante Provinzposse finden Sie auf der Homepage www.pickelfrei.htm
Geschildert wird der Fall eines Mannes, der vom Amtsgericht Leer der Unterhaltspflichtverletzung gegenüber seine Ehefrau und seinem nichtehelichen Sohn beschuldigt wird. Das Dumme dabei, der Beschuldigte Wolfgang Smidt war nie verheiratet und hat auch gar keinen Sohn.
Smidt macht sich den Spaß und nimmt die Justiz auf die Schippe. Die Justiz versteht aber keinen Spaß und so verurteilt Richter Hofmeister vom Amtsgericht Oldenburg den guten Herrn Smidt zu drei Jahren Bewährung.
Die Geschichte endet dann mit Happy End. Wolfgang Smidt wird am 12.2.02 vom Amtsgericht Oldenburg mitgeteilt, dass eine Verwechslung vorlag.
Der ganze Spaß und noch ein paar andere amüsante Bemerkungen ist zu lesen unter www.pickelfrei.de
Können Richter irren?
Ein Mann wird wegen Vergewaltigung seiner Freundin zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, obwohl die genetische Analyse keinerlei Hinweise auf ihn ergab. Jetzt gelang es dem Verurteilten, eine Neuansetzung des Verfahrens durchzusetzen. Diesmal wurden genetische Spuren gefunden – jedoch von einem Anderen. Der Beschuldigte wurde dennoch erneut verurteilt. Die Richter waren nämlich der Auffassung, dass die Frau den Vorfall glaubwürdig vorgetragen habe. Außerdem wurde kräftig spekuliert:
„Vermutlich seien die Genproben auf dem Weg zwischen den gerichtsmedizinischen Institutionen kontaminiert worden. Das Gericht halte es aber auch für nicht abwegig, dass der Angeklagte neben der Beziehung sexuellen Kontakt mit einer anderen Frau gehabt habe, die wiederum Geschlechtsverkehr mit einem fremden Mann hatte. Dies könne die fremden männlichen Chromosomen erklären.“
http://www.taz.de/pt/2004/03/09/a0118.nf/text
Lieber einen Mann zuviel im Knast als einen zuwenig, haben sich möglicherweise die Richter am Münchner Landgericht gedacht. In dubio vielleicht pro Theo, aber nicht pro reo! Man kann über unsere Justiz sagen, was man will: Das Mittelalter kriegt bei ihr echt eine Chance! Allerdings war die Rechtssituation insofern im Mittelalter besser, als man sich über das Kriterium der Gerechtigkeit gar keinen Illusionen hingab – im Gegensatz zum heutigen Rechtsstaat, dem naive Zeitgeister solch einen moralischen Ehrgeiz noch unterstellen.
23.04.2004
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Die Seite könnte allerdings etwas besser gepflegt werden. Na ja, auch Kritiker sind wie ihre Zielscheiben eben auch "bloß" Menschen