Lebensborn
Lebensborn
Auf Veranlassung Heinrich Himmlers 1935 aus rassisch und bevölkerungspolitischen Überlegungen gegründete Einrichtung (Verein) mit der satzungsgemäßen (1938) Aufgabe "den Kinderreichtum in der SS zu unterstützen, jede Mutter guten Blutes zu schützen und zu betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und Kinder guten Blutes zu sorgen", und dem Fernziel der Menschenzüchtung. In den Entbindungsheimen des Lebensborn wurden rund 11.000 (meist nichteheliche) Kinder geboren, in den Kinderheimen seit 1941 auch die "Eindeutschung" verwaister oder "rassisch wertvoller" Kinder aus den besetzten Gebieten betrieben.
Nationalsozialistische „Lebensborn“-Heime
Die Patenkinder der SS
Bis 1945 kamen im "Lebensborn" uneheliche Kinder zur Welt. Viele wissen bis heute nicht, wer sie wirklich sind. Ruthild Gorgass wurde im Heim "Harz" geboren.
Von Florentine Fritzen
Ein Helm der SS: In den "Lebensborn"-Heimen kamen uneheliche Kinder ranghoher SS-Offiziere zur Welt
20. September 2010
Das Silbermedaillon mit den Fotos ihres Vaters trägt Ruthild Gorgass nur an besonderen Tagen. Dieser Tag ist besonders, weil Gorgass an den Ort zurückgekehrt ist, an dem sie 1942 zur Welt kam, mitten im Krieg, mit einem anderen Namen, dem Mädchennamen ihrer Mutter. Das ehemalige Lebensborn-Heim der SS in Wernigerode im Harz steht leer. Die große Frau mit den blauen Augen und den kurzen blonden Haaren öffnet das Gartentor, stapft durch Farne und Brennnesseln um das gelb verklinkerte Fachwerkhaus herum. Hier hat die 68 Jahre alte Physiotherapeutin, die in der Nähe von Mainz wohnt, das erste Vierteljahr ihres Lebens verbracht. Mehr als tausend Kinder wurden hier zwischen 1937 und 1945 geboren, die meisten unehelich. Oft waren die Väter SS-Männer oder ranghohe Nazis.
An der Klingel hängen Spinnweben. Ruthild Gorgass steigt die Stufen zum Eingang hoch und späht durch ein Fenster. Drinnen ist Schimmel. Sie drückt die Klinke, die Tür ist verrammelt. Wenn der Landkreis das Grundstück bald verkauft, wird das baufällige Haus wahrscheinlich abgerissen. „Es ist ein Jammer“, sagt Gorgass. Und dann: „Schon bewegend.“ Und dann: „Wie oft werden diese Frauen diese Treppe gegangen sein.“ Und dann: „Vergangenheit.“
Schwarzweißfotos erinnern an ihren Vater
Ihr Vater kam am Tag nach ihrer Geburt hierher, um sich die Tochter anzusehen, obwohl er eigentlich ganz sicher gewesen war, einen Sohn gezeugt zu haben. Wahrscheinlich hatte das Lebensborn-Personal den 49 Jahre alten Mann angerufen, vielleicht chauffierte ihn sein Fahrer zum Lebensborn-Heim „Harz“. Er war ein hohes Tier bei den kriegswichtigen Leuna-Werken in Halle, deshalb hatte er Telefon und ein Auto. Ruthild Gorgass nimmt die Silberkette vom Hals und klappt das Medaillon auf. Die Schwarzweißfotos zeigen einen Mann in einer Uniform des Ersten Weltkriegs. 1916 bekam der Leutnant bei Verdun so viele Splitter in die Brust und in den Rücken, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht mehr kämpfen konnte.
Männer und Frauen, die ihre Kinder im Lebensborn zur Welt kommen lassen wollten, brauchten einen „Ariernachweis“ bis ins Jahr 1800 zurück. Die Schwangere musste außerdem ein Gesundheitszeugnis vorlegen. Obwohl der Lebensborn der SS gehörte, war eine Mitgliedschaft des Vaters in der „Schutzstaffel“ nicht zwingend. Heinrich Himmler wollte mit dem 1935 gegründeten Lebensborn-Verein verhindern, dass die „nordische Rasse“ ausstarb - und erreichen, dass es weniger Abtreibungen gab.
Um das Tagebuch ihrer Mutter beneiden sie viele Lebensborn-Kinder
Obwohl die Historiker das Thema inzwischen entdeckt haben, hält sich das Gerücht, dass die Nazis in den sieben Lebensborn-Heimen im Deutschen Reich Menschen züchteten, indem sie SS-Männern deutsche Mädels zuführten. Es entstand schon in der Nazi-Zeit: Die Heime lagen abgeschieden, und die Menschen sahen nicht viel mehr, als dass dort ständig Schwangere und Uniformierte ein und aus gingen.
Ruthild Gorgass wüsste gerne, wie ihr Vater die kleine Reise nach Wernigerode seiner Ehefrau plausibel gemacht hatte, die mit dem Sohn in Halle blieb. Aber wichtiger ist ihr, wie es ihrer Mutter damals ging. Wahrscheinlich, sagt die Tochter, hat sie sich hochschwanger vom Bahnhof nach hier oben in die Salzbergstraße geschleppt. Sportlich sei ihre Mutter gewesen; wegen ihrer festen Muskeln dauerte die Geburt 40 Stunden. So jedenfalls hat sie es damals in ihr Tagebuch geschrieben. Um dieses Buch beneiden andere ehemalige Lebensborn-Kinder Frau Gorgass. Die Mutter hat darin Ruthilds ersten Zahn gefeiert und den ersten Klaps vermerkt, weil das Baby seine Milchration nicht trinken wollte. Vati kam alle paar Monate vorbei - bis Ruthild elf war. Bevor er 1953, gerade Rentner geworden, aus der DDR in den Westen ging, gab er der Mutter das Medaillon. Ruthild sollte es bekommen, wenn sie groß sei. Seit dem Tag des Abschieds, über den Frau Gorgass nicht gern spricht, weil er so traurig war, hat sie den Vater nicht mehr gesehen. Ein paar Jahre lang schickte er Westprodukte. Die ließ er im Laden packen, damit seine Frau nichts merkte. 1970 starb er.
„Du hast es nie richtig schwer gehabt.“
Dass Ruthild ihre beiden Eltern kennengelernt hat, auch darum beneiden sie Lebensborn-Kinder, die zu Adoptiveltern kamen und vielleicht erst vor wenigen Jahren erfahren haben, dass ihre Eltern gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Manche von denen, die nicht wissen, wer sie wirklich sind, sagen sogar: „Du hast es nie richtig schwer gehabt.“ Ruthild Gorgass hat es aber auch nie richtig leicht gehabt. Sie weiß noch, dass Vati einmal Beruhigungspillen nehmen musste, weil sie so wild war. Aber sie weiß nicht mehr, wie er roch.
Ruthilds Mutter sprach gern über die Monate in Wernigerode, bis zu ihrem Tod 1973. Mitten im Krieg gab es dort ordentliches Essen, und das Personal sei liebevoll gewesen. Wenn wieder eine „wehte“, wie die Schwangeren und Mütter es nannten, warteten alle gespannt. Es gibt ein Foto, auf dem die Stubenwagen der Neugeborenen im Gras aufgereiht sind. Inzwischen haben die Buchen auf dem Grundstück so viele Ableger bekommen, dass Frau Gorgass Mühe hat, sich vorzustellen, wo ihr Körbchen gestanden haben könnte. Als sie fast 18 war und eine Ausbildung zur Säuglings- und Kinderkrankenschwester begonnen hatte, zeigte ihr die Mutter das Haus in Wernigerode. Damals war eine Frauenklinik darin, und sie trauten sich nicht hinein. Das war 1960, kurz bevor auch Ruthild und ihre Mutter in den Westen „rübermachten“.
Frauen in den Heimen mussten ihre Anonymität wahren
Als sie ein Kind war, hatte die Mutter ihr die Sache mit Wernigerode so erklärt: „Wir waren da in einem Heim von den Nazis, aber ansonsten hatten wir damit nichts zu tun.“ Ruthild verriet nur ihrer besten Freundin davon. So viele Kinder hatten nach dem Krieg keinen Vater. Sie hatte immerhin einen, der ab und zu vorbeikam. Aber an ihrem Geburtstag war er nie da.
Manche früheren Lebensborn-Kinder erfahren aus Zufall von ihrer Herkunft, zum Beispiel, weil sie das Standesamt ihres Geburtsortes aufsuchen. In Wernigerode führte man über die Geburten im Heim „Harz“ im „Standesamt 2“ Buch - der Code für den Lebensborn. An den Heimatort der Frau wurden keine Daten weitergegeben. Wer wollte, konnte bald nach der Geburt ohne Kind, das in ein Heim oder zu Adoptiveltern kam, gut erholt aus der „Kur“ zurückkehren. Die Frauen waren in den Lebensborn-Heimen gehalten, sich nur mit Vornamen anzusprechen, um anonym zu bleiben. Ruthilds Mutter hieß „Frau Ruth“.
Der Lebensborn war auch im Ausland tätig
Auf dem Standesamt im Wernigeroder Rathaus erlebt Ruthild Gorgass eine Überraschung. Die Standesbeamtin kramt eine rote Kladde hervor: das „Tagebuch der Hebamme“. Es ist erst kürzlich in einem Brunnen aufgetaucht, wahrscheinlich hat es das Heim-Personal dort am Kriegsende vor den Russen versteckt. Die Hebamme hat notiert, dass Ruthild „von der Mutter teilweise“ gestillt wurde, vermerkte aber auch „Beifütterung von Muttermilch“ - Frau Ruth hatte am Anfang selbst offenbar nicht genug Milch, so dass eine andere Frau abpumpen musste.
Ihre Geburtsurkunde kennt Ruthild Gorgass schon. Sie hat vor einigen Jahren angefangen, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, war 2001 eines der vier ersten ehemaligen Lebensborn-Kinder, die Kontakt zueinander aufnahmen, und 2005 bei der Gründung der Selbsthilfegruppe „Lebensspuren e.V.“ dabei. Heute sind sie 70 - von insgesamt mehr als 7000; und da sind nur die Kinder erfasst, die in den deutschen Heimen zur Welt kamen. Der Lebensborn war auch im Ausland tätig. Dort brachten SS-Männer geraubte „nordische“ Kinder in Heimen unter. Oft hatten die Nazis ihre Eltern getötet und ihre Dörfer verwüstet.
Bei der „Namengebungsfeier“ stand ein SS-Mann Pate
Anders als beim ersten Mal muss Ruthild Gorgass nicht weinen, als sie die deutsche Schrift auf ihrer Geburtsurkunde sieht und den Namen ihrer Mutter liest, die - „unverehelicht“, 31 Jahre alt, Sachbearbeiterin, gottgläubig - an jenem Augusttag 1942 um 9.33 Uhr eine Tochter gebar. Links neben dem Text wurde nachträglich eingefügt, dass Ruthilds Vater im Oktober 1942 die Vaterschaft anerkannte. Das war Pflicht, damit die Frau versorgt war - und wegen des Ariernachweises. Der Name des Vaters steht nicht in der Urkunde. Ihn hinterlegten die Nazis in den geheimen Unterlagen in der Lebensborn-Zentrale in Steinhöring bei München.
Dass ihr Vater bei ihrer „Namensgebungsfeier“ in Wernigerode dabei war, glaubt die Tochter nicht. Bei der pseudoreligiösen Zeremonie, die der christlichen Taufe nachempfunden war, wurde ein SS-Dolch über das Neugeborene gehalten, und ein SS-Mann stand Pate. Wie ihr Pate hieß, weiß Ruthild nicht mehr.
Liebte der Vater die Mutter?
Wenn die Tochter danach fragte, beteuerte ihre Mutter, sie sei ein Wunschkind gewesen. Ganz oft sagte die Mutti: „Du hast Lichterchen in den Augen, du bist beim Schein von Adventskerzen gezeugt worden.“ Kennengelernt hatten sich die Eltern bei der Industrie- und Handelskammer in Leipzig. Die Mutter war Sachbearbeiterin bei der IHK, der Vater hatte für die Leuna-Werke dort zu tun. Er war 18 Jahre älter und hat nichts anbrennen lassen. So ähnlich drückte sich auch Ruthild Gorgass' Halbbruder aus, den sie vor zehn Jahren aufgespürt hat. Als sie ihn das erste Mal besuchte, trug sie das Silbermedaillon. Inzwischen ist der Kontakt abgerissen, und Ruthild weiß nicht, ob ihr Bruder noch lebt. Aber niemand kann ihr nehmen, was er ihr bei einem ihrer drei Treffen erzählte: Ihre Mutter sei die Einzige der Geliebten des Vaters gewesen, die er regelmäßig besuchte. So ganz geheim hielt der Vater die Sache mit Ruth und Ruthild vor seiner Ehefrau nicht; der Halbbruder jedenfalls wusste erstaunlich viel.
Liebte der Vater die Mutter? Ruthild Gorgass weiß es nicht. Wäre er dann nicht geblieben, anstatt bloß ab und zu vorbeizukommen an diesen Tagen, an denen die kleine Ruthild nie verstand, warum die Eltern, wo der Vati doch so selten da war, immer Mittagsschlaf halten mussten? Sie hätten die knappe Zeit doch auch zu irgendetwas Schönem nutzen können.
„Vielleicht war er die Liebe ihres Lebens.“
Als Ruthild zweieinhalb war, hing über dem Sofa ein Foto vom Vati. Als die Kleine das Bild entdeckte und sagte: „Vati auch Augen, und Nase und Mund und eine Brille“, da erzählte die Mutti, dass sie dem Vati, als sie ein ganz kleines Baby war, einmal die Brille von der Nase fegte. Sie freute sich, weil Ruthild die Geschichte so bezaubernd fand. Liebte die Mutter den Vater? Die Tochter sagt: „Vielleicht war er die Liebe ihres Lebens.“
Die Mutter ist im hessischen Bad Nauheim begraben, der Vater in Bayern. Zum Grab der Mutter geht Ruthild Gorgass regelmäßig. Am Grab des Vaters war sie ein einziges Mal.
Text: F.A.S.
Bildmaterial: AP
URTEIL
Richter lehnen Entschädigung für Lebensborn-Kinder ab
Für norwegische Kinder deutscher Wehrmachtsoldaten gibt es keine Wiedergutmachung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Klage von Nachkommen des "Lebensborn"-Programms abgewiesen. Die Begründung der Richter: Die mehr als 150 Kläger hätten ihr Anliegen zu spät vorgebracht.
Straßburg - Die Straßburger Richter stellten sich mit ihrer Entscheidung hinter das Urteil norwegischer Gerichte. Diese hatten erklärt, die "Lebensborn"-Nachkommen hätten ihre Klage binnen 20 Jahren einreichen müssen. Die "Lebensborn"-Kinder hatten die Regierung in Oslo auf Entschädigung in Höhe von mindestens 6300 Euro pro Betroffenem verklagt, besonders Geschädigte sollten vier Mal so viel erhalten.
Das von Reichsführer-SS Heinrich Himmler initiierte Programm "Lebensborn" sollte dazu dienen, die Geburtenrate unter so genannten Ariern zu erhöhen, um die Vorherrschaft der nordischen Rasse zu sichern. Die Norweger wurden von den deutschen Nationalsozialisten in diesem Sinne als reinrassig betrachtet, so dass nach der Besatzung des skandinavischen Landes viele Verbindungen zwischen deutschen Soldaten und norwegischen Frauen forciert wurden. Daraus gingen rund 12.000 Kinder hervor, die während des Krieges in "Lebensborn"-Heimen versorgt wurden.
Nach dem Krieg waren sie in Norwegen allerdings vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt. Zumeist wurden sie als "schwachsinnig" oder "abweichlerisch" eingestuft und in psychiatrische Anstalten eingewiesen oder zwangsadoptiert. In der Schule wurden sie ebenso schikaniert wie später im Berufsleben, wenn sie denn überhaupt eine Anstellung fanden.
Die Anwälte der Kläger betonten in Straßburg, diese Menschenrechtsverletzungen seien auch nach 1953 weitergegangen. Damals trat Norwegen der Europäischen Konvention für Menschenrechte bei. Die norwegische Regierung bot den Opfern im Jahr 2002 Zahlungen in Höhe von bis zu 25.600 Euro an.
In vielen der Beschwerden ist von schweren Misshandlungen, Vergewaltigungen und Demütigungen die Rede. Der heute 66-jährige Hermann Thiermann wurde nach eigenem Bekunden als kleiner Junge stundenlang bei großer Hitze in einen Schweinestall gesperrt, weil er angeblich stank. In der Schule sei er gehänselt und von älteren Jungen vergewaltigt worden, ohne dass der Lehrer eingegriffen habe.
Eine heute 64 Jahre alte Frau bekam von Betrunkenen ein Hakenkreuz in die Stirn gebrannt. Sie floh zu ihrem Vater in die Bundesrepublik, wurde von den deutschen Behörden aber wieder nach Norwegen zurückgeschickt.
In Norwegen war das Schicksal der "Kriegskinder" lange Zeit ein Tabu-Thema. Erst am 1. Januar 2000 räumte der damalige Regierungschef Kjell Magne Bondevik in seiner Ansprache zum Jahrtausendwechsel offiziell die "Ungerechtigkeit" ein, die sie erfahren mussten. Er entschuldigte sich "im Namen des norwegischen Staates" bei den Betroffenen für die Diskriminierungen.
Im Jahre 2004 erschienen in Norwegen erstmals zwei umfangreiche Studien über das Schicksal der Wehrmachtskinder und die Mitverantwortung des norwegischen Staates.
13. Juli 2007
www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,494344,00.html