Neonatizid
Kinder der Kälte
Stefanie R. muss für viereinhalb Jahre ins Gefängnis, sie hat ihr Neugeborenes umgebracht. Es ist der jüngste Fall von Kindstötungen in Brandenburg. Und so rätselhaft wie alle vorher
Verborgene Gesichter, verborgene Gefühle. Stefanie R. (links) und Bianca S. bei ihren Verhandlungen im Landgericht Cottbus. Fotos: Michael Urban/ddp, dpa
Von Sandra Dassler, Cottbus
12.12.2008 0:00 Uhr
Die Kälte ist gut für die Hunde. Sie halten dann mindestens 30 Minuten durch. Im Sommer sind sie oft schon nach 20 Minuten erschöpft. Leichensuche ist ein schwieriger Job, nicht nur für Hunde.
„Dort hat es gelegen“, sagt Kriminalhauptkommissar Wolfgang Bauch und nimmt die rechte Hand aus der Jackentasche, um auf eine sandige Stelle unter ein paar Sträuchern zu zeigen. „Es“ war die verscharrte Leiche eines neugeborenen Jungen, die hier am Gräbendorfer See, 30 Kilometer westlich von Cottbus, entdeckt wurde. Das war im Mai. „Das andere Baby werden wir möglicherweise nicht mehr finden“, sagt Bauch, er schaut zu den beiden Hunden, die zwischen den Krüppelkiefern in Ufernähe herumrennen, die Schnauzen dicht am Boden. Weil Brandenburg keine Leichenspürhunde hat, sind Hundeführer mit ihren Tieren aus Berlin und Sachsen angereist.
Als Bauchs Kollegen von der Cottbuser Mordkommission hier im Frühjahr den verwesenden Körper des Neugeborenen bargen, ging ein Stöhnen durch das Land. Es war die vierte Babyleiche, die innerhalb von sechs Monaten in Brandenburg entdeckt wurde: im Dezember 2007 ein Junge in Schwarzheide, im Februar 2008 ein Junge in Nauen und ein Mädchen in Lübben. Im Mai dann Gräbendorf.
Inzwischen sind die Mütter aller vier getöteten Neugeborenen ermittelt worden. Staatsanwälte haben Anklagen geschrieben, Prozesse haben stattgefunden, Urteile wurden gesprochen – das letzte gestern: Das Landgericht Cottbus schickte die 25-jährige Stefanie R. ins Gefängnis. Die Richter sind überzeugt, dass sie ihren am 21. April geborenen Sohn tötete, indem sie ihn mit dem Gesicht so lange an sich drückte, bis das Kind erstickt war. Und ihn am darauffolgenden Abend am Gräbendorfer See vergrub.
Stefanie R. hatte eine Anstellung als Sekretärin, lebte mit ihrem langjährigen Lebensgefährten in guten materiellen Verhältnissen. Auch die drei anderen wegen Tötung ihrer Kinder verurteilten Mütter waren nicht arm. Sie waren nicht geistig minderbemittelt oder psychisch krank. Sie hätten ihre Kinder nach Überzeugung der Gerichte ohne weiteres groß ziehen können. Warum haben sie die Babys getötet?
Bei Stefanie R. bleibt noch eine weitere Frage offen. Sie war Ende 2006 schon einmal hochschwanger. Das sagte unter anderem ihr damaliger Chef, ein Arzt aus dem Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn, vor Gericht aus. Wenig später sei sie von einem Urlaub auf den Philippinen gertenschlank zurückgekommen. Ohne Kind.
Die Cottbuser Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb auch nach dem gestrigen Urteil weiter. Wolfgang Bauch und seine Kollegen haben auf den Phillippinen nachgefragt. Ohne Ergebnis. Und nun suchen sie noch einmal mit Leichenspürhunden hier am See.
Der Staat scheut offenbar keine Kosten, wenn es um die Aufklärung von Kindstötungen geht. Die Ermittler wollen nicht nur die Mütter finden. „Wir versuchen auch, hinter die Motive zu kommen“, sagt Bauch. Das gelingt nur manchmal.
Die 22-jährige Anne G. aus Nauen, die ihren Sohn kurz vor dem letzten Weihnachtsfest tötete, hat vor Gericht erzählt, dass sie schon 2004 trotz Pille schwanger geworden sei. Der Berliner Zahnarzt, bei dem sie eine Ausbildung machte, habe sie aufgefordert, zu kündigen, eine Schwangere wirke sich „negativ auf das Betriebsklima aus“. Die Eltern machten ihr Vorwürfe, vor allem, als das Verhältnis mit dem Kindsvater in die Brüche ging und ihre Tochter mit dem inzwischen geborenen Sohn zu ihnen zog.
Anne G. fand einen neuen Ausbildungsplatz, wurde 2007 trotz Pille wieder schwanger, für einen Schwangerschaftsabbruch war es zu spät, „ich wollte das alles nicht noch einmal mitmachen“, sagte sie damals. Sie verheimlichte die Schwangerschaft, brachte ihren Sohn unbemerkt zur Welt, wickelte ihn in eine Plastiktüte, versteckte diese im leerstehenden Nachbarhaus. Das Landgericht Potsdam verurteilte sie im August 2008 zu drei Jahren Gefängnis.
Die 23-jährige Bianca S. aus Lübben erzählte den Ermittlern, dass sie einige Jahre zuvor bei einem Schwangerschaftsabbruch im Krankenhaus behandelt worden sei „wie der letzte Dreck“. Eine erneute Abtreibung sei deshalb für sie nicht in Frage gekommen, als sie wieder schwanger wurde. Das Kind lehnte sie ab, weil es von einem ungeliebten Mann war. Auch Bianca S. verheimlichte ihre Schwangerschaft. Als das Kind im Februar zur Welt kam, ertränkte sie es in der Badewanne. Dann versuchte sie sich selbst umzubringen. Ihr Bruder fand sie mit der toten Tochter im Arm. Bianca S. wurde im Juni 2008 zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt.
Die jüngste der vier Frauen, eine 17-jährige Schülerin aus Schwarzheide, sagte vor Gericht, ihr Kind sei das Ergebnis einer Vergewaltigung durch einen Unbekannten. Ein DNS-Test brachte zwar ans Licht, dass ihr Freund der Vater war, doch das Gericht konnte nicht widerlegen, dass sie davon ausging, dass das Kind bei der angeblichen Vergewaltigung gezeugt wurde. Dennoch, das wahre Tötungsmotiv der Schülerin habe darin bestanden, dass das Kind – sie hatte es im Dezember 2007 mit einem Strumpf erdrosselt – „nicht in ihre Lebensplanung passte“. Viereinhalb Jahre lautete das Urteil im November 2008.
Auch Stefanie R. ist angeblich von einem Unbekannten vergewaltigt worden. Die zierliche Frau hat während der gesamten Dauer des gestern zu Ende gegangenen Prozesses ihr Gesicht verborgen. Stundenlang hielt sie den Kopf gesenkt, auch gestern, als das Strafmaß verkündet wurde. Viereinhalb Jahre Gefängnis. Der Staatsanwalt hatte siebeneinhalb gefordert.
Er heißt Tobias Pinder, ist 46, er bearbeitet seit Jahren Kapitaldelikte bei der Cottbuser Staatsanwaltschaft. In seinem Büro stapeln sich Akten, an der Wand steht ein Pappkarton. Er wurde angefertigt, um jene kleine Tiefkühltruhe zu rekonstruieren, in der eine Cottbuserin Jahre lang die Leiche ihres verhungerten sechsjährigen Sohnes versteckte: Dennis – der Fall hatte deutschlandweit Aufsehen erregt. Für die Kindstötungen unmittelbar nach der Geburt interessiere sich mittlerweile kaum noch jemand, sagt Pinder. „Es sind nur wenige Menschen im Gerichtssaal. Irgendwie scheint das ziemlich normal geworden zu sein.“
Der groß gewachsene Mann wird sehr ernst. „Aber wenn man so ein Baby auf dem Sektionstisch hat – diesen Anblick vergisst man nie. Bei Erwachsenen sieht man sofort, wenn sie nicht mehr am Leben sind. Die sehen wie Leichen aus: die Gesichtszüge sacken nach unten, Totenflecken breiten sich aus. Bei Neugeborenen ist das anders, wahrscheinlich weil bei ihnen die Durchblutung noch nicht in Gang gekommen ist. Sie sehen so frisch und lebendig aus. Wie Puppen.“
Wenn sich der Staatsanwalt aus dem Fenster seines Büros lehnt, kann er fast bis zum Cottbuser Theater schauen. Schönes Jugendstil-Gebäude, hundert Jahre alt. Den Faust spielen sie dort. Wie Gretchen ihr Kind ertränkt, wird wie bei den meisten Faust-Aufführungen nicht gezeigt.
Gretchen falle vielen Menschen beim Thema Kindstötung zuerst ein, sagt Matthias Lammel. Der 57-jährige Berliner begutachtet als gerichtspsychiatrischer Sachverständiger oft Frauen, die ihre Kinder während oder unmittelbar nach der Geburt töten. Neonatizid heißt der Fachbegriff dafür, und Neonatizide sind so alt wie die Menschheit. Im Mittelalter wurden „Kindsmörderinnen“ besonders hart bestraft: gepfählt, lebendig begraben, mit glühenden Zangen auseinandergerissen.
Im 19. Jahrhundert dann gestand das Reichsstrafgesetzbuch im sogenannten Dienstmädchenparagraphen 217 den Frauen mildernde Umstände zu – allerdings nur, wenn es sich um nichteheliche Kinder handelte. Erst 1998 wurde der Paragraph 217 abgeschafft. „Man ging wohl etwas naiv davon aus, dass Frauen heute viele Möglichkeiten haben, mit ungewollter Schwangerschaft umzugehen“, sagt Gutachter Lammel: „Durch Adoption, Abbruch oder Babyklappe zum Beispiel.“
Auch die oft gestellte Frage: „Warum hat die denn nicht verhütet?“ zeuge von einem naiven Frauen- oder Menschenbild. „Wir sind eben nicht immer rational“, sagt Lammel: „Manche sind es nie. Die wehren schon den Gedanken ab, dass sie schwanger sein könnten. Und zwar so lange, bis das Kind da ist. Dann kommt es zu Panikreaktionen: Das Kind muss weg, irgendwie, irgendwohin.“
Matthias Lammel hat auch Sabine H. begutachtet, jene Frau, die neun ihrer neugeborenen Kinder tötete und in Blumenkästen versteckte. Nach dem Fund der Babyleichen in Brieskow-Finkenheerd im Juli 2005 hatte der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm die „vom SED-Regime erzwungene Proletarisierung“ für die „Zunahme von Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“ verantwortlich gemacht.
Im Februar dieses Jahres kochte die Debatte erneut hoch, als der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer eine Studie vorlegte, wonach die Zahl der Kindstötungen im Osten drei bis viermal so hoch wie im Westen sei. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer nannte dies eine „Folge der DDR-Abtreibungspolitik“.
Die Cottbuser Richterin Sigrun von Hasseln hält von solchen Erklärungen wenig: „Die Ursachen in der Vergangenheit zu suchen ist absurd. Wir erfahren täglich, dass die Gegenwart zunehmend von Orientierung auf ausschließlich materielle Werte geprägt ist. Wir erleben Verrohung, emotionale Kälte – nicht umsonst ist die Rede von der Konsum- und von der Wegwerfgesellschaft.“
Viele junge Leute „haben nie wirkliche Liebe erfahren“, sagt Sigrun von Hasseln. „So konnten sie selbst keine Empathie, kein Mitgefühl für andere entwickeln.“
Als Vorsitzende der Jugendstrafkammer hat Sigrun von Hasseln auch über die 17-Jährige aus Schwarzheide zu Gericht gesessen. Die Schülerin habe „diese kalte Tat mit hoher krimineller Energie“ begangen, sagte sie in der Urteilsbegründung.
Auch das Kind der gestern verurteilten Stefanie R. stammte nicht von dem angeblichen Vergewaltiger, sondern von ihrem Freund. Juristisch sei auch ihr diese Version nicht zu widerlegen, sagte das Gericht in der Urteilsverkündung und folgte in diesem Punkt nicht dem Plädoyer des Staatsanwalts, der dargelegt hatte, dass die junge Frau bis zuletzt log. Als sie das erste Mal vernommen wurde, weil Kollegen bemerkt hatten, dass sie schwanger gewesen war, behauptete sie, das Kind zu einer Berliner Babyklappe gebracht zu haben. Nachdem feststand, dass dort kein Kind abgegeben worden war, erzählte sie, sie habe es nicht töten, sondern nur beruhigen wollen. Zur vermuteten Schwangerschaft ein Jahr zuvor äußerte sie sich überhaupt nicht.
„Über dieses Kind werden wir vielleicht nie etwas erfahren“, sagt Kriminalist Wolfgang Bauch. Die beiden Leichenspürhunde haben jedenfalls nichts gefunden an diesem frostklaren Dezembermorgen am Gräbendorfer See.
Stefanie R. hat sich bis heute nicht um die Beerdigung ihres Babys gekümmert.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.12.2008)
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite;art705,2682583