Professionellenkritik - Historisches
"Vom Hakenkreuz zum Ehrenkreuz",
in "Der Spiegel" 12/2000
über den Kindermörder, Psychiater und Gerichtsgutachter Heinrich Groos, der
sich in der NS-Zeit aktiv an der Ermordung schwer behinderter, hilfsbedürftiger
oder von ihren Eltern verlassenen Kindern beteiligte.
In der Nachkriegszeit mit 30.000 offiziellen Gerichtsexpertisen der meistbeschäftige
Gerichtsgutachter Österreichs.
Wie man leider sieht, sind auch Gerichtsgutachter nicht immer automatisch gute
Menschen..
Der Hesterberg. 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig.
Eine Ausstellung zum Jubiläum der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie des Heilpädagogikums in Schleswig.
(Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Band 56)
Schleswig 1997, 157 S.
Die Psychiatrie im Nationalsozialismus gehört zu dem Teil der NS-Medizin, der
als relativ gut untersucht gelten kann. Auch der grauenhafteste Aspekt der
Psychiatriehistorie, die als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung
psychisch kranker und behinderter Menschen, ist in jüngster Zeit
Forschungsgegenstand zahlreicher Studien; einschlägige Publikationen hierzu
liegen sowohl für einzelne Regionen als auch in Form von überregionalen
Gesamtdarstellungen vor. Für Schleswig-Holstein hingegen ist die
"Euthanasie" bisher recht rudimentär erforscht. Umso verdienstvoller
ist der zu besprechende Austellungskatalog Der Hesterberg, der sechs Beiträge
zu unterschiedlichen Aspekten der Geschichte und Gegenwart der Kinder- und
Jugendpsychiatrie in Schleswig enthält. Dabei bildet die NS-"Euthanasie"
den thematischen Schwerpunkt der Publikation.
Die Historikerin Susanna Misgajski, die die sehenswerte Austellung konzipierte
und gestaltete, stellt in ihrem Beitrag die Geschichte der Schleswiger Kinder-
und Jugendpsychiatrie von der Gründung der Anstalt 1852 bis zum Zusammenbruch
des "Dritten Reiches" dar. Dem Aufsatz vorangestellt ist ein Exkurs über
die sozialgeschichtlichen Entwicklungen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert.
Dabei findet die These Klaus Dörners von der Entstehung und Entwicklung der
"Sozialen Frage" Berücksichtigung. Es folgt eine detailreiche
Darstellung der Gründungsgeschichte der Schleswiger Anstalt. Die Verfasserin
arbeitet hier heraus, daß die Betreuung der psychisch kranken und geistig
behinderten Kinder zunächst als primär pädagogische Aufgabe gesehen wurde;
medizinische Konzepte fehlten bzw. erwiesen sich als erfolglos. Erst mit der
Jahrhundertwende vollzog sich auchb auf dem Hesterberg ein für die deutsche
Psychiatrie kennzeichnender Wandel von der pädagogischen Betreuung zur
medizinischen Versorgung der Kinder; personeller Ausdruck dessen war der
Leitungswechsel vom Pädagogen Friedrich Ludwig Stender zum Mediziner August
Stender, Sohn des Vorgenannten, im Jahre 1895.
Die Belegungszahlen der 1900 von einer privaten Einrichtung in die öffentliche
Hand der schleswig-holsteinischen Provinzialverwaltung übergegangenen Anstalt
expandierten von 11 Kindern im Gründungsjahr auf 226 zum Zeitpunkt der
Deprivatisierung. Dem weiteren kontinuierlichen Anstieg der Patientenzahlen auf
schließlich ca. 500 Kinder und Jugendliche im Jahre 1923 wurde durch großzügige
räumliche und personelle Erweiterungen Rechnung getragen. Der Beginn der Dualität
von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Fürsorgeerziehung auf dem Hesterberg ist
gekennzeichnet durch die Aufnahme von 40 "Fürsorgezöglingen" im März
1918, da in den Provinzial-Erziehungsheimen Unterbringungsschwierigkeiten
bestanden.
Recht ausführlich werden die Betreuungs- und Therapiekonzepte in den Jahren der
Weimarer Republik dargestellt. Neben fortschrittlichen Methoden wie der
Arbeitstherapie für die psychiatrischen Patienten und einer sonderpädagogischen
Betreuung für die als "schwer erziehbar" geltenden "Fürsorgezöglinge"
sowie der konsequenten Beschulung mit der Möglichkeit der Erlangung von
Schulabschlüssen und Berufsqualifikationen für beide Klientengruppen fanden
auch gewaltgeprägte Maßnahmen, etwa Fixierungen, "Dauerbäder" in
kaltem Wasser und die sog. Elektroschock"therapie" Anwendung. Ausdruck
des Versuches der Somatisierung psychiatrischer Erkrankungen war das
Hesterberger Röntgeninstitut, in dem die Kinder und Jugendlichen Röntgenbestrahlungen
des Kopfes erhielten.
Mit Beginn des "Dritten Reiches" vollzogen sich tiefgreifende
Anstaltsumstrukturierungen zu Lasten der Psychiatriepatienten und "Fürsorgezöglinge".
Die Patienten wurden vollkommen willkürlich und wahllos innerhalb
Schleswig-Holsteins in andere Anstalten verlegt, von dort teilweise
weitertransportiert oder wieder nach Schleswig-Hesterberg zurückgebracht; so
stieg in den dreißiger Jahren die Zahl der "Fürsorgezöglinge", während
die Anzahl der Psychiatriepatienten sank. Die Betroffenen waren "Verfügungsmasse"
der nationalsozialistischen Provinzialverwaltung und die Anstalten dienten
nunmehr der Verwahrung und Asylierung ohne primären therapeutischen Auftrag.
Der den Beitrag abschließenden Darstellung der Schleswiger
"Kinderfachabteilung" vorangestellt ist ein kurzer Abriß der geistes-
und realgeschichtlichen Entwicklung von der Eugenik zur NS-"Euthanasie".
Opfer dieser verhängnisvollen Entwicklung wurden auch Kinder und Jugendliche
der Hesterberger Anstalt, wobei Schleswig erst relativ spät von der
T4-Mordaktion erfaßt wurde. In der Zeit von Mai bis August 1941 wurden die
Opfer mit insgesamt fünf Sammeltransporten in die Tötungsanstalt Bernburg
deportiert. Auch im letzten Jahr der nationalsozialistischen Terrorherrschaft,
im September 1944, wurden 697 Schleswiger Patienten in den Tod geschickt; sie
wurden in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde deportiert. Die leitende Ärztin
der Hesterberger Anstalt, Dr. Erna Pauselius, wußte zu jeder Zeit von dem Zweck
der Transporte und von der tödlichen Funktion der Zielanstalten.
Unter Leitung von Erna Pauselius bestand seit Dezember 1941 auf dem Hesterberg
eine "Kinderfachabteilung", die der Selektion und Tötung behinderter
Kinder im Rahmen der NS-Kinder"euthanasie" diente. Folglich stieg seit
Ende 1941 die Mortalität in der Hesterberger Anstalt signifikant an; die Kinder
starben vorwiegend in Folge pflegerischer und therapeutischer Nichtversorgung
somatischer Erkrankungen, wie die Autorin an Einzelschicksalen belegt. Die Tötungsmethode
unterlassener Pflege und verweigerter adäquater Therapie ist kennzeichnend für
die sog. zweite Phase der "Euthanasie".
Der notwendige Hinweis auf die erschreckenden inhaltlichen Parallelen von
Eugenik bzw. Rassenhygiene und der aktuellen Bioethik beschließt den auf
umfassender Quellengrundlage basierenden und informativen Beitrag.
Der Frage 216 verstorbene Kinder der Kinderfachabteilung Schleswig - Tötung,
Verwahrlosung oder 'natürlicher Tod'? geht die Medizinerin Annette Grewe mit
gutachterlicher Qualität nach. Ihr Beitrag basiert auf der Analyse
therapeutischer Standards und ihrer Anwendung bei der an Lungenentzündung
erkrankten und verstorbenen Patienten der Schleswiger Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Dabei wird belegt, daß ein großer Anteil der Kinder und
Jugendlichen mit einer Lungenentzündung keinerlei medizinische Therapie
erhielten, obwohl diese Erkrankung seit Entdeckung der Sulfonamide Mitte der
dreißiger Jahre ursächlich behandelbar war. Die Verfasserin weist die die
NS-Medizin kennzeichnende, an gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen
orientierte Selektion hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen nach; Patienten
mit einer geringradigen psychischen oder neurologischen Behinderung wurden im
Falle einer Lungenentzündung mit Sulfonamiden zumeist erfolgreich behandelt, während
solche mit schwerwiegender Behinderung nicht therapiert wurden und verstarben.
Diese Kinder wurden sodann dem "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen
Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der zentralen und
weisungsbefugten Institution der Kinder"euthanasie", als
"behandelt" - Nazijargon für ermordet - gemeldet.
Die gescheiterte juristische Nachkriegsauseinandersetzung mit der
NS-"Euthanasie" in Schleswig-Holstein zeichnet der Historiker Uwe
Danker in seinem Beitrag Verantwortung, Schuld und Sühne - oder: "...habe
ich das Verfahren eingestellt" nach. In zwei Verfahren (1945 bis 1950 und
1961 bis 1965) wurde gegen mutmaßliche Verantwortliche der Patientenmorde in
Schleswig-Holstein ermittelt. Beide Verfahren wurden eingestellt, ohne daß nur
einer der Beschuldigten strafrechtlich belangt wurde; beide Verfahren leitete
der Oberstaatsanwalt Dr. Paul Thamm, der als Ankläger des
schleswig-holsteinischen Sondergerichtes ein exponierter Repräsentant der
NS-Unrechtsjustiz gewesen war. Es ist ein ernüchternder Befund der
ausgezeichneten Darstellung Dankers, daß die Ermittlungsverfahren ohne
strafrechtliche Konsequenzen blieben, obwohl sich die Staatsanwaltschaft ein
sehr präzises Bild der "Euthanasie"-Aktionen erarbeitet hatte und die
Beteiligungen der Beschuldigten daran bekannt waren. In den beiden
staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen trat ein perfektes System der
Delegierung von Verantwortung in der Durchführung des geplanten,
arbeitsteiligen Massenmordes zutage, das den Tätern mit der
Verantwortungsdelegierung auch die projektive Abwehr von Schuldgefühlen ermöglichte.
Dieses System der Verantwortungsleugnung und -delegierung hatte offenbar
wirkungsvollen Bestand bis in die sechziger Jahre und konnte von der
schuldhaften "Unschuld" der Vollstrecker der nationalsozialistischen
Ausmerzepolitik überzeugen.
Der Beitrag Kieler Nachkriegsordinarien der Medizin und die NS-Euthanasie des
Juristen Klaus-Detlev Godau-Schüttke zeigt, daß die Protagonisten des Kranken-
und Behindertenmordes nicht nur in juristischer Hinsicht ungestraft davonkamen,
sondern außerdem ihre berufliche und wissenschaftliche Karriere haben
ungehindert fortsetzen können - so etwa der Pädiater Werner Catel. Catels
Berufung zum Ordinarius für Kinderheilkunde nach Kiel 1954 wurde mit breiter
Unterstützung der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität
erwirkt, obwohl seine Funktion als "Gutachter" im Rahmen der
Kinder"euthanasie" hier hinlänglich bekannt war. Auch der
international steckbrieflich gesuchte "Euthanasie"-Massenmörder
Werner Heyde, der unter dem Falschnamen Dr. Fritz Sawade als medizinischer
Gerichtsgutachter im Schleswig-Holstein der fünfziger
Jahre Karriere machte, wurde von zahlreichen Mitgliedern der Kieler
Medizinischen Fakultät jahrelang gedeckt. An Hand dieser Beispiele macht der
Aufsatz von Godau-Schüttke deutlich, daß neben ideologischen auch personelle
Kontinuitäten des Nationalsozialismus einen demokratischen Neubeginn - freilich
nicht nur in Schleswig-Holstein - konterkarierten.
Die Ausstellung zur Geschichte der Hesterberger Kinder- und Jugendpsychiatrie
wird 1998 als Wanderausstellung in verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins zu
sehen sein.
Ein Besuch lohnt sich!
Eckhard Heesch