Psychologische Diagnostik
"Am dunkelsten ist es immer unter der Lampe"
altes chinesisches Sprichwort
<<Warskaja war eine sehr hübsche volle Blondine, klein und beweglich, mit zarten roten Wangen, wie man sie nur in einem Aquarell wiedergeben kann. Sie unterzog mich einem regelrechten Verhör, wobei sie ständig ihre kaum sichtbaren schmalen Brauen zusammenzog und sich Mühe gab, ein immer wieder aufleuchtendes Lächeln aus ihrem Gesicht zu bannen.
"Haben Sie ein pädologisches Studio?"
"Nein, ein pädologisches Studio haben wir nicht."
"Aber wie erforschen Sie dann die Persönlichkeit?"
"Die Persönlichkeit des Kindes?" fragte ich möglichst ernst.
"Nun ja, die Ihrer Zöglinge."
"Und warum soll man sie erforschen?"
"Warum? Wie arbeiten Sie denn? Wie können Sie an etwas arbeiten, was Ihnen unbekannt ist?"
X. Warskaja sprach energisch und überzeugt mit hoher Mädchenstimme und wandte sich immer wieder nach ihrer Freundin um.
R. Landsberg, mit dunklem Teint und wunderbaren schwarzen Zöpfen, hatte die Augen gesenkt und unterdrückte nachsichtig und geduldig ihre natürliche Empörung.
"Welche Dominanten herrschen bei Ihren Zöglingen vor?" fragte X. Warskaja und sah mir streng ins Gesicht.
"Wenn man in der Kolonie die Persönlichkeit nicht erforscht, ist es wohl überflüssig, nach den Dominanten zu fragen", sagte leise R. Landsberg.
"Warum denn?" sagte ich ernst. "Über Dominanten kann ich Ihnen einiges mitteilen. Bei uns herrschen die gleichen Dominanten vor wie bei Ihnen."
"Aber woher kennen Sie uns?" fragte X. Warskaja unfreundlich.
"Nun, Sie sitzen ja vor mir und sprechen mit mir."
"Na, und ..."
"Ich sehe Sie durch und durch. Sie sitzen vor mir, als seien Sie aus Glas, und ich sehe alles, was in Ihrem Innern vorgeht."
X. Warskaja errötete, aber in diesem Augenblick stürmten Karabanow, Werschnew, Sadorow und einige andere Zöglinge in mein Zimmer.>>
aus: "Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem"
A.S. Makarenko
Aufbau-Verlag Berlin, 1951, S. 303