Vater muss Sorgerecht gegen seinen Willen übernehmen
Sorgerechtsregelung zugunsten eines Elternteils gegen dessen Willen
OLG Karlsruhe, Beschluß vom 27.08.1998 - 2 UF 135/98
Leitsatz:
»Aufgrund der Neufassung von § 1671 Abs. 2 BGB (ab 01.07.1998) ist auch eine Sorgerechtsregelung zugunsten eines Elternteils gegen dessen entgegenstehenden Willen möglich, zumal inzwischen § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB n.F. diesbezüglich nicht mehr von "das Recht und die Pflicht", sondern von "die Pflicht und das Recht" spricht.«
Gründe:
I. Der am 12.05.1951 geborene Antragsteller und die am 05.09.1951 geborene Antragsgegnerin haben am 21.12.1973 die Ehe geschlossen, aus der die Tochter Nina, geboren am 16.09.1981 (fast 17 Jahre alt) und die Zwillinge Julia und Simone, geboren am 15.01.1986 (12 Jahre) hervorgegangen sind. Durch Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Schwetzingen vom 17.05.1988 (3 F 10/87) wurde die Ehe der Parteien geschieden, der Versorgungsausgleich geregelt und nach heftigen Auseinandersetzungen der Parteien und Einholung eines psychologischen Gutachtens durch den Sachverständigen Dr. Paul S, M vom 30.12.1987 die elterliche Sorge für die Kinder der Mutter, bei der die Töchter nach dem Auszug des Vaters im August 1986 verblieben waren, übertragen. Diese kam im Laufe der Jahre immer weniger mit ihrer älteren Tochter zurecht. Seit ca. 1996 stand sie wegen der erheblichen Erziehungsschwierigkeiten mit dem Jugendamt des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis, W in Kontakt. An Gesprächen mit dem Jugendamt und der Erziehungsberatung hat Nina, die teilweise ihrer Schulpflicht nicht nachkam, nicht teilgenommen. Nach Angaben ihrer Mutter randaliere Nina in ihrem Zimmer, wenn sie sich nicht durchsetzen könne. Sie habe auch schon Schränke und Türen aufgebrochen, um sich am Eigentum anderer zu vergreifen. Zu ihrem Vater habe sie ständig Kontakt. Auf dessen schriftlichen Antrag vom 02.07.1998 und die schriftliche Zustimmung der Mutter vom 11.07.1998 sowie das schriftliche Einverständnis von Nina hat das Familiengericht nach Anhörung des Jugendamts- wegen der von den Parteien dargelegten Dringlichkeit - ohne mündliche Verhandlung mit Beschluß vom 24.07.1998 (2 F 368/98) in Abänderung des Urteils des Familiengerichts Schwetzingen vom 15.05.1988 (3 F 10/87) die elterliche Sorge für Nina auf deren Vater übertragen. Hiergegen wendet sich dieser mit seiner am 31.07.1998 beim Familiengericht eingelegten, am 06.08.1998 beim Oberlandesgericht eingegangenen Beschwerde. Bereits vor Zugang der amtsgerichtlichen Entscheidung hatte er mit Schreiben vom 27.07.1998 gebeten, das Abänderungsverfahren ruhen zu lassen. Nina habe nicht ständigen Kontakt zu ihm gehabt. Vielmehr habe es seine geschiedene Ehefrau seit der Trennung verstanden, seine Versuche, im Kontakt mit den Kindern zu bleiben, zu erschweren oder unmöglich zu machen. Zwischen Nina und ihrer Mutter sei es zu wiederholten Handgreiflichkeiten gekommen- Nina habe auch ihre Geschwister bedroht. Ihr Verhalten und ihre mangelhaften Leistungen in der Schule (inzwischen habe sie die Abschlußprüfung nicht bestanden) seien durch die fehlende Erziehung und Zuneigung der Mutter, die ihre Tochter in einem Heim unterbringen wolle, verursacht. Da sich die Provokationen und Aggressionen der Tochter inzwischen auch gegen ihn richten würden, sehe er sich derzeit nicht in der Lage, die elterliche Sorge für Nina, die sich seit Anfang August 1998 in seiner 1-Zimmer-Wohnung aufhalte, zu übernehmen. Die Antragsgegnerin hat kein Verständnis für den Sinneswandel des Antragstellers, mit dem sie nach wie vor keine Gespräche führen könne. Der Senat hat die Parteien und ihre Tochter Nina sowie Frau B. vom Kreisjugendamt W. angehört. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.08.1998 wird verwiesen. Die beigezogenen Scheidungsakten 3 F 10/87 das Amtsgerichts Schwetzingen lagen zu Informationszwecken vor.
II. Die gemäß § 621 e Abs. 1 und 3 ZPO zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Familiengericht in Abänderung seiner früheren Sorgerechtsentscheidung nunmehr das Sorgerecht über Nina auf den Kindesvater übertragen. Das nach wie vor destruktive Verhältnis ihrer Eltern zueinander läßt zum Wohl des Kindes die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge, die § 1671 BGB (in der ab 01.07.1998 geltenden Fassung) grundsätzlich vorsieht, ebensowenig zu wie die Beibehaltung der alleinigen elterlichen Sorge der Kindesmutter, die zumindest derzeit keinen auch nur annähernd vernünftigen Kontakt zu ihrer Tochter mehr findet. Der ursprüngliche Abänderungsantrag des Vaters ist begründet (zu den Voraussetzungen einer Abänderungsentscheidung nach § 1696 BGB vgl. Senatsbeschluß vom 12.12.1997, FamRZ 1998, 1046). Es sind triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe vorhanden, die nach der Erstentscheidung vom 15.05.1988 eingetreten sind und die die mit einer Änderung verbundenen Nachteile deutlich überwiegen. So ist die Antragsgegnerin nicht mehr in der Lage, erzieherisch auf Nina einzuwirken. Anders als durch Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater kann die Gefahr nicht behoben werden, daß Nina jeglichen Halt verliert und erheblichen Schaden in ihrer weiteren Persönlichkeitsentwicklung erleidet. Die erstinstanzliche Entscheidung entspricht dem ausdrücklichen Willen beider Elternteile und Ninas, dem sich das Jugendamt angeschlossen hat. Auch die Anhörung der Beteiligten vor dem Senat hat ergeben, daß das seelische Wohl von Nina durch das (möglicherweise auch unverschuldete) Versagen der Eltern gefährdet ist. Da eine Heimunterbringung der fast 17 Jahre alten Jugendlichen oder ein betreutes Wohnen zumindest in Kürze nicht zu realisieren ist und voraussichtlich zunächst an ihrem Widerstand scheitern wird, kann der dargelegten Gefahr nur durch eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater begegnet werden (§ 1666 Abs. 1 BGB). Denn Nina hat sich in ihrer Not dem Antragsteller zugewandt, der sie auch trotz seiner beengten Wohnverhältnisse aufgenommen hat. Er allein bietet ihr noch den Halt, den sie dringend benötigt, gerade weil sie sich inzwischen viel zu große Freiräume geschaffen hat. Im übrigen will der Vater nach eigenem Bekunden immer für seine Tochter dasein und würde sie nicht im Stich lassen, so daß die Alternative der Anordnung einer Pflegschaft nach Ansicht des Senats nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des geringsten Eingriffs (§ 1666 a Abs. 1 und 2 BGB) entsprechen würde. Insoweit unschädlich ist die Äußerung des Antragstellers im Beschwerdeverfahren, nicht mehr zur Übernahme der elterlichen Sorge bereit zu sein. Der Senat hat bereits in seiner zitierten Entscheidung vom 12.12.1997 (FamRZ 1998, 1046, 1047) darauf hingewiesen, daß das in § 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. normierte elterliche Sorgerecht ausdrücklich auch die elterliche Pflicht umfaßt, für das minderjährige Kind zu sorgen, damit aber auch den Rechtsanspruch des Kindes auf Sorge beinhaltet, welcher ihm ab seiner Geburt zusteht und der erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres erlischt. In gleicher Weise fällt den Eltern automatisch mit der Geburt ihres ehelichen Kindes das Sorgerecht zu, dem sie sich nicht durch einseitige bloße Erklärung, die Sorge nicht mehr ausüben zu wollen, entziehen können. Der nicht mehr bestehende Wille eines Elternteils, das Sorgerecht ausüben zu wollen, ist daher für sich unbeachtlich. Diese zum bisherigen Recht ergangene Entscheidung gilt verstärkt für das ab 01.07.1998 in Kraft getretene neue Kindschaftsrecht, wonach die bisherige Reihenfolge der Worte "das Recht und die Pflicht" umgekehrt ist in "die Pflicht und das Recht", § 1626 Abs. 1. S. 1 BGB n. F.. Damit wird hervorgehoben, daß es sich bei der elterlichen Sorge in erster Linie um eine Elternpflicht" handelt; auch soll der Tendenz entgegen gewirkt werden, den Begriff der elterlichen Sorge auf ein Sorgerecht zu verkürzen (Familienrechtsreformkommentar/Rogner, § 1626 BGB, Rn. 2; Mühlens/Kirchmeier/ Greßmann, Das neue Kindschaftsrecht, § 1626 BGB, Anmerkungen zu Absatz 1). Dieser Elternverantwortung kann sich der Antragsteller nicht durch - zumindest auch finanziell motivierter - Rücknahme seines Sorgerechtsantrags entziehen, dessen es im übrigen für eine Abänderungsentscheidung nach § 1696 Abs. 1 BGB nicht bedarf. Die Sorgerechtsregelung gegen den Willen des Sorgerechtsberechtigten ist zulässig. Das (ab 01.07.1998 geltende) neue Kindschaftsrecht kennt eine vergleichsweise Regelung in § 1671 BGB n.F., nach dessen Absatz 2 ein Antrag auf alleinige Sorgerechtsübertragung bei fehlender Zustimmung des anderen Elternteils dann zurückzuweisen ist, wenn dieser nach Ansicht des Familiengerichts die bessere Qualifikation für die Alleinsorge hat, aber seinerseits keinen Antrag auf Übertragung der alleinigen Sorge gestellt hat. Damit bleibt die gemeinsame Sorge gegen den Willen mindestens eines Elternteils aufrechterhalten (vgl. Johannsen/Henrich/Jaeger, Eherecht, 3. Aufl., § 1671, Rn. 43). Der Gesetzgeber hat es bei dieser als Defizit der Kindschaftsrechtsreform kritisierten (vgl. Deutscher Anwaltsverein, FamRZ 1996, 1401) Regelung belassen, so daß gegen die Zulässigkeit einer Übertragung der elterlichen Sorge auf einen insoweit widersprechenden Elternteil keine Bedenken bestehen, sofern eine solche Regelung dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1697 a BGB). Diese Voraussetzung ist - wie dargelegt - zu bejahen, wobei der Kindesvater dann auch verpflichtet ist, die derzeitigen unzulänglichen Wohnverhältnisse zu verbessern (keineswegs ausgeschlossen erscheint dem Senat, daß der Vater kraft seiner Autorität - gegebenenfalls in Absprache mit dem Jugendamt - Nina künftig in eine betreute Wohngemeinschaft unterbringen kann). Seine Beschwerde war mit der Kostenfolge aus §§ 131 Abs. 3 KostO, 13 a Abs. 1 Satz 2 FGG zurückzuweisen.
Die Entscheidung über den Beschwerdewert richtet sich nach § 30 Abs. 2, 3, § 131 Abs. 2 KostO. Die weitere Beschwerde war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, §§ 621 e Abs. 2 Satz 1, 546 Abs. 1 Satz 2, 3 ZPO. (Quelle: Redaktion Deutsche Rechtsprechung)
http://www.vrp.de/archiv/rechtspr/r9900097.htm