Waldorfpädagoge


 

 

 

 

Kind verhungert: Tödliche Ignoranz im Jugendamt

Bundesgerichtshof entscheidet heute über Mitverantwortung von Behörde

Von Catrin Barnsteiner und Michael Mielke

Ein Kind verhungert, zwei sind lebensgefährlich unterernährt. Die Pflegeeltern werden wegen Mordes verurteilt. Kontrolliert hatte sie das Jugendamt nicht. Dagegen klagt jetzt ein Opfer

Beutelsbach - Es gibt eine Geschichte über das Ende von Alexander: Kurz bevor das Kind starb, wollte es Leberwurstbrot essen. Und Milch aus der Babyflasche trinken. Es fror. Sein Pflegevater, ein angehender Waldorfpädagoge, soll sich zu ihm gelegt haben. Seine Pflegemutter machte sich Sorgen, ob Leberwurstbrot und Milch nicht vielleicht zuviel durcheinander für den Jungen wären. Wenige Stunden später war das Kind tot. Verhungert. Sein Bruder Alois und Andreas, ein weiteres Pflegekind, überlebten.

Andreas klagt gegen das Jugendamt, aber er wird vor dem Bundesgerichtshof nicht erscheinen. Es gibt nur Fotos, die im November 1997 von der Polizei gemacht wurden. Heute ist Andreas 15 Jahre alt, als er acht war, hatte er das Gesicht eines Greises und wog gerade mal 11,8 Kilogramm. Der Chefarzt der Kinderklinik in Waiblingen sagte damals, er habe "in der Bundesrepublik solche Kinder noch nicht gesehen. Haut und Knochen, eingesunkene Wangen, eingesunkene Gesäße." Er mußte an Bilder aus Somalia oder Biafra denken.

Der Kriminalfall im schwäbischen Beutelsbach, unweit von Stuttgart, ist nun sogar Thema eines Zivilsenats des Bundesgerichtshofs geworden - aber hinter diesem Fall stehen weitreichende Fragen: Wie weit soll die Kontrolle des Jugendamts bei Pflegefamilien gehen? Wieviel Kontrolle ist nötig, damit die Kinder sich als vollintegrierte Familienmitglieder entwickeln können, ohne ständig an ihre Besonderheit erinnert zu werden?

Professor Wolfgang Krüger, Sprecher des Bundesgerichtshofs, spricht von einem Präzedenzfall. Der Fall nun, das sind drei Jungen, die in einer Pflegefamilie lebten. Alexander, fünf Jahre alt, starb dort an Hunger. Sein Bruder Alois - er war sechs Jahre alt und wog nur zehn Kilogramm - und Andreas konnten gerettet werden. Für die Pflege der Jungen hatten die damals 33 Jahre alte Kinderpflegerin Ulrike R. und ihr 39 Jahre alte Ehemann Klaus R. monatlich knapp 1700 Euro erhalten. Außerdem gab es so genannte Tageskinder; an manchen Tagen waren es bis zu acht. Bei dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern waren 1999 dann die Details ans Licht gekommen: Alois, Andreas und Alexander bekamen nur trockenes Brot und Wasser. Einer der Jungen, so heißt es, sei einmal nachts weggelaufen, um in einer Gaststätte um Reste zu betteln. Auch im Mülleimer seiner Schule wühlte er nach Essensresten. Wenn Besuch kam, mußten sie sich in einem abgedunkelten Raum aufhalten. Schließlich, im Sommer 1997, wenige Monate vor dem Tod des kleinen Alexander, wurden sie von den Nachbarn gar nicht mehr gesehen.

Ganz anders erging es den drei leiblichen Kindern der Familie: Sie hatten Computer, Hifi-Anlagen und zwei Pferde. Sie waren gesund. Als Alexander starb, waren seine Augen verdreht, sein Bauch gebläht, er konnte nicht mehr sprechen, sich kaum noch rühren. Und als am 27. November 1997 dann schließlich doch ein Rettungsarzt gerufen wurde, war es zu spät.

Beutelsbach in Baden-Württemberg, 8000 Einwohner, direkt in den Weinbergen gelegen. Das Haus, in dem die Familie damals wohnte, ist zweistöckig und liegt hinter einem Garten. Es ist ein großes Haus mit einem großartigen Ausblick - und es ist ein Schandfleck für die Nachbarschaft. Weil es die Nachbarn immer wieder daran erinnert, was war.

Sehr geschickt sei die Pflegemutter gewesen, heißt es im ersten Prozeß: Mißtrauischen Fragern erzählte sie, die leiblichen Eltern der Kinder wären Alkoholiker. Ja, mit dem Essen täten sie sich auch schwer, die Buben. Ein Schwurgericht in Stuttgart verurteilte das Ehepaar im Juni 1999 zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen. Ein Verdeckungsmord. Die Pflegeeltern hätten trotz des katastrophalen Zustands des kleinen Alexander einen Arztbesuch vermieden, um die jahrelangen Mißhandlungen der Pflegekinder zu vertuschen. Die Mutter sagte aus, sie wäre mit den Kindern nicht mehr zu Recht gekommen und hätte sie durch Essensentzug disziplinieren wollen.

In der Regel wird mit so einem Urteil, das vom Bundesgerichtshof ja auch bestätigt wurde, die Akte geschlossen. In diesem Fall gab es jedoch zunächst parallel ein Strafverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes des Rems-Murr-Kreises wegen fahrlässiger Tötung. Die Verteidiger von Ulrike und Klaus R. hatten den öffentlich Bediensteten vorgeworfen, sich nach der Vermittlung der Kinder in die Pflegefamilie nicht mehr genügend um die verhaltensgestörten Jungen gekümmert zu haben. Wie hoch der Grad der Unkenntnis über den Zustand der Pflegefamilie war, hatte sich in dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern gezeigt. Eine Mitarbeiterin des Waiblinger Jugendamtes sprach von einer "Musterfamilie", die "einen sehr geordneten, sehr harmonischen Eindruck" vermittelt habe. Das Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes wurde dann auch - wie zumeist in derartigen Fällen - eingestellt. Doch ein Anwalt zog vor ein Zivilgericht und forderte im Namen des einstigen Pflegekindes Andreas vom Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht Schmerzensgeld, außerdem die Anerkennung der Zuständigkeit des Amtes für künftige materielle und immaterielle Schäden. Und er gewann: Eine Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart sprach dem Jungen am 7. März 2003 ein Schmerzensgeld in Höhe von 25 000 Euro zu und bestätigte die Haftung des Jugendamtes für künftige Schäden. Doch auch die nächste Instanz, der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Stuttgart, wies die Berufung zurück. Mit der Begründung, die Mitarbeiter des Jugendamtes hätten nach Umzug der Pflegefamilie 1993 aus Hof in den Rems-Murr-Kreis sofort Kontakt aufnehmen und sich über die Lebensumstände des Jungen persönlich informieren müssen.

Heute soll dieser Fall vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe nun höchstrichterlich entschieden werden. Es könnte ein Urteil mit Folgen werden.

 

Berliner Morgenpost 14.10.2004

 

 


 

 

 

 

Tödliche Ignoranz

 

Ein Kind verhungert, zwei sind lebensgefährlich unterernährt. Die Pflegeeltern werden wegen Mordes verurteilt. Kontrolliert hatte sie das Jugendamt nicht. Dagegen klagt jetzt ein Opfer

Die Welt, 14. Oktober 2004

von Catrin Barnsteiner und Michael Mielke

Es gibt eine Geschichte über das Ende von Alexander, erzählt von seiner Pflegemutter vor Gericht. Kurz bevor das Kind starb, wollte es Leberwurstbrot essen. Und Milch trinken. Es fror. Sein Pflegevater - ein angehender Waldorfpädagoge - soll sich zu ihm gelegt haben. Seine Pflegemutter machte sich Sorgen, sagte sie, ob ein Leberwurstbrot und etwas Milch nicht vielleicht zuviel durcheinander für den Jungen wären. Wenige Stunden später war das Kind tot. Verhungert. Weil es vorher monatelang nur Wasser und Brot bekam, wie sein Bruder Alois und Andreas, ein weiteres Pflegekind. Diese beiden überlebten. Knapp.

Das war im November 1997. Heute ist Andreas 15 Jahre alt, und er klagt gegen das damals zuständige Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht auf Schmerzensgeld. Vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, das den Fall heute höchstrichterlich entscheidet, wird er nicht erscheinen. Es gibt nur diese Fotos, die damals von der Polizei gemacht wurden. Da hatte Andreas das Gesicht eines Greises und wog gerade mal 11,8 Kilogramm. Der Chefarzt der Kinderklinik in Waiblingen sagte, er habe "in der Bundesrepublik solche Kinder noch nicht gesehen. Nur Haut und Knochen, eingesunkene Wangen, eingesunkene Gesäße." Er mußte an Bilder aus Somalia oder Biafra denken.

Der Fall im schwäbischen Beutelsbach, unweit von Stuttgart, wirft Fragen auf. Wie weit soll die Kontrolle des Jugendamts bei Pflegefamilien gehen? Wieviel Kontrolle ist nötig, damit die Kinder sich als vollintegrierte Familienmitglieder entwickeln können, ohne ständig an ihre Besonderheit erinnert zu werden? Professor Wolfgang Krüger, Sprecher des Bundesgerichtshofs, spricht von einem Präzedenzfall. Der Vorwurf, ein Jugendamt habe versagt, weil es Pflegeeltern nicht genügend kontrolliert habe, sei vor dem obersten deutschen Gericht noch nicht verhandelt worden.

Der Fall, das sind drei Jungen, die in einer Pflegefamilie lebten. Alexander, fünf Jahre alt, starb dort. Er war verhungert. Sein Bruder Alois - er war sechs Jahre alt und wog nur zehn Kilogramm - und Andreas konnten gerettet werden. Über die Pflegeeltern sagte der Richter später: "Sie sammelten Kinder wie andere Leute Puppen." Für die Pflege der Jungen hatten die damals 33 Jahre alte Kinderpflegerin Ulrike R. und ihr 39 Jahre alte Ehemann Klaus R. monatlich knapp 1700 Euro erhalten. Außerdem gab es sogenannte Tageskinder; an manchen Tagen waren es bis zu acht. Bei dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern waren 1999 dann die Details ans Licht gekommen: Alois, Andreas und Alexander bekamen nur trockenes Brot und Wasser. Einer der Jungen, so heißt es, sei einmal nachts weggelaufen, um in einer Gaststätte um Reste zu betteln. Auch im Mülleimer seiner Schule wühlte er nach Essensresten. Wenn Besuch kam, mußten sie sich in einem abgedunkelten Raum aufhalten. Am besten im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Schließlich, im Sommer 1997, wenige Monate vor dem Tod des kleinen Alexander, wurden sie von den Nachbarn gar nicht mehr gesehen.

Ganz anders erging es den drei leiblichen Kindern der Familie: Sie hatten Computer, Hifi-Anlagen und zwei Pferde. Sie waren gesund. Als Alexander starb, waren seine Augen verdreht, sein Bauch gebläht, er konnte nicht mehr sprechen, sich kaum noch rühren. Und als am 27. November 1997 dann schließlich doch ein Rettungsarzt gerufen wurde, war es zu spät.

Beutelsbach in Baden-Württemberg, 8000 Einwohner, direkt in den Weinbergen gelegen. Das Haus, in dem die Familie damals wohnte, ist zweistöckig und liegt ein bißchen zurückgesetzt, hinter einem Garten. Es ist ein großes Haus mit einem großartigen Ausblick - und es ist ein Schandfleck für die Nachbarschaft. Weil es die Nachbarn immer wieder daran erinnert, was war.

Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, wohnt nicht weit von dem Haus mit der Nummer 21. Nein, sagt er, und es klingt wütend. Nein, man konnte es nicht sehen, nein, wirklich nicht, die Buben waren immer gut angezogen, nicht verlottert, nein, niemand hat das geahnt. Niemand hätte es ahnen können. Er sagt all das, obwohl man die Frage für diese Antwort noch nicht gestellt hat. Aber vielleicht hat er sich die Frage schon oft genug selbst gestellt.

Die Frage wäre gewesen: "Ist Ihnen denn damals nichts aufgefallen?" Dann packt der Nachbar die Reporterin am Handgelenk und ruft erregt: "Sie sehen auch unterernährt aus, hören Sie, Sie sind viel zu dünn. Und ich rufe auch nicht das Jugendamt oder die Polizei, verstehen Sie? Es gibt Kinder, die sind eben dünn. Das ist Veranlagung." Er hat auch eine Bekannte, die direkt neben dem Haus der Familie gewohnt hat. Und die, sagt er, und es klingt verzweifelt, würde immer alles bemerken. Etwa wenn bei ihm, am anderen Ende der Straße, die Rolläden nachmittags noch nicht hochgezogen wären, dann bemerke die das. Aber das mit den Kindern, das hätte selbst sie nicht gesehen. Selbst sie.

Sehr geschickt sei die Pflegemutter gewesen, heißt es im ersten Prozeß: Mißtrauischen Fragern erzählte sie, die leiblichen Eltern der Kinder wären Alkoholiker. Ja, mit dem Essen täten sie sich auch schwer, die Buben. Selbst Verwandte, die die Familie im Sommer bevor Alexander starb, besuchten, ließen sich täuschen. Zugegeben, sagten sie später, sie hätten sich ein bißchen gewundert, warum die Pflegekinder selbst im Hochsommer ständig froren und Jacken und Wollmützen trugen. Ein Schwurgericht in Stuttgart verurteilte das Ehepaar im Juni 1999 zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen. Ein Verdeckungsmord. Die Pflegeeltern hätten trotz des katastrophalen gesundheitlichen Zustands des kleinen Alexander einen Arztbesuch vermieden, um die jahrelangen Mißhandlungen der Pflegekinder zu vertuschen.

In der Regel wird mit so einem Urteil, das vom Bundesgerichtshof auch bestätigt wurde, die Akte geschlossen. In diesem Fall gab es jedoch zunächst parallel ein Strafverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes des Rems-Murr-Kreises wegen fahrlässiger Tötung. Die Verteidiger von Ulrike und Klaus R. hatten ihnen vorgeworfen, sich nach der Vermittlung der Kinder in die Pflegefamilie nicht mehr genügend um die verhaltensgestörten Jungen gekümmert zu haben. Wie hoch der Grad der Unkenntnis über den Zustand der Pflegefamilie war, hatte sich im Prozeß gegen die Pflegeeltern gezeigt. Eine Mitarbeiterin des Waiblinger Jugendamtes sprach von einer "Musterfamilie", die "einen sehr geordneten, sehr harmonischen Eindruck" vermittelt habe. Und Ulrike R., sagte die Sozialarbeiterin, habe sich als "kompetente Frau" präsentiert, "eine Pflegemutter, die alles im Griff hat".

Das Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes wurde - wie oft in derartigen Fällen - eingestellt. Doch dann forderte ein Anwalt vor einem Zivilgericht im Namen des einstigen Pflegekindes Andreas vom Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht Schmerzensgeld, außerdem die Anerkennung der Zuständigkeit des Amtes für künftige materielle und immaterielle Schäden. Und er gewann: Eine Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart sprach dem Jungen im März 2003 ein Schmerzensgeld in Höhe von 25 000 Euro zu und bestätigte die Haftung des Jugendamtes für künftige Schäden. Das Jugendamt ging gegen diese Entscheidung in Berufung.

Doch auch die nächste Instanz, der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Stuttgart, wies die Berufung zurück. Mit der Begründung, die Mitarbeiter des Jugendamtes hätten nach dem Umzug der Pflegefamilie aus dem fränkischen Hof - der 1993 erfolgte - in den Rems-Murr-Kreis sofort Kontakt aufnehmen und sich über die Lebensumstände des Jungen persönlich informieren müssen. Der Landkreis entgegnete, die Überprüfung einer Pflegefamilie nach einem Wechsel der Zuständigkeit sei weder üblich noch erforderlich, wenn das Pflegeverhältnis über mehrere Jahre bestanden habe und keine negativen Erfahrungen vorlägen.

Bei dem morgigen Urteil des Bundesgerichtshofs geht es um mehr als 25 000 Euro. Die Summe mutet ohnehin auch für Laien gering an. Das, so erklärt Wendt Nassal, der den Rems-Murr-Kreis vertritt, liege daran, daß es tatsächlich nur um wenige Monate gehe: Von April 1997 bis November 1997. Denn bis April 1997 hätten regelmäßige Treffen von Mitarbeitern aus dem Kreis Hof mit der Familie stattgefunden. Die hätten dann ihre Berichte an das Jugendamt Waiblingen geschickt. Während des letzten Besuches im April schien offenbar kein übermäßiger Anlaß zur Besorgnis vorzuliegen - Mitarbeiter des Rems-Murr-Kreises kamen danach nicht zum Haus der Familie. Begründung des Waiblinger Jugendamtes: Man wollte die Kinder nicht mit neuen Gesichtern unnötig belasten.

Auf der Straße in Beutelsbach, fast direkt vor dem Haus mit der Nummer 21, hat ein Kind mit Kreide gemalt. Nichts Besonderes, eigentlich, eben das, was Kinder immer malen.

Es sind Strichmännchen.

 

 

 


zurück