Zwangsbehandlung
Gewaltfreiheit - 1 BvL 1/2024 - Pustekuchen:
Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind ... zulässig.
https://www.bverfg.de/e/ls20241126_1bvl000124
Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff und zwei weitere Richter/innen haben dagegen gestimmt. Der Aufstand der Aufrechten.
Urteil vom 26. November 2024
Pressemitteilung - Nr. 100/2024 vom 26. November 2024
Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 26. November 2024
- 1 BvL 1/24 -
Krankenhausvorbehalt
Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten in
Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind an
strenge Voraussetzungen gebunden und nur als letztes Mittel zulässig.
Die mit den fachrechtlichen Anforderungen an ärztliche Zwangsmaßnahmen
verbundenen Eingriffe in das Grundrecht der nicht einwilligungsfähigen Betreuten
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unterliegen einer strengen
Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Die Bindung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in
einem Krankenhaus mit näher bestimmtem Versorgungsniveau ist grundsätzlich
zulässig.
Die mit dem Krankenhausvorbehalt verfolgten Zwecke des Schutzes vor
Zwangsmaßnahmen im privaten Wohnumfeld, der Prüfung der Voraussetzungen
ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams, der Verhinderung von
auf Fehlanreizen beruhendem Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher
Zwangsmaßnahmen und der Sicherstellung einer angemessenen fachlichen Versorgung
sind legitim und grundrechtlich fundiert.
Eine ausnahmslose Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären
Krankenhausaufenthalt ist allerdings unangemessen. Eine Ausnahme ist geboten,
soweit Betreuten im Einzelfall nach einer Betrachtung ex ante aufgrund der
ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären
Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen
der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen
und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der
Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der
Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische
Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht
wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass
andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen
grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Verkündet am 26. November 2024 Heine Regierungshauptsekretärin als
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
- 1 BvL 1/24 -
Krankenhausvorbehalt
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob es mit der aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz folgenden Schutzpflicht
des Staates unvereinbar ist, dass § 1906a Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 Bürgerliches
Gesetzbuch (BGB) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der materiellen
Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des
Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I
Seite 2426) für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
die Durchführung der Maßnahme in einem Krankenhaus auch bei solchen Betroffenen
voraussetzt, die aus medizinischer Sicht gleichermaßen in der Einrichtung, in
der sie untergebracht sind und in der ihre gebotene medizinische Versorgung
einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist,
zwangsbehandelt werden könnten und die durch die Verbringung in ein Krankenhaus
zwecks Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit
beeinträchtigt werden
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs
vom 8. November 2023 - XII ZB 459/22 -
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff,
Eifert,
Meßling
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. Juli 2024 durch
Urteil
für Recht erkannt:
1. § 1906a Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung
des Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von
ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von
Betreuten vom 17. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 2426) und § 1832 Absatz 1
Satz 1 Nummer 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur
Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021
(Bundesgesetzblatt I Seite 882) sind mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Alternative 2
des Grundgesetzes unvereinbar, soweit Betreuten im Einzelfall aufgrund der
ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären
Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen
der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen
und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der
Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der
Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische
Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht
wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass
andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen
grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
2. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung gilt das bisherige Recht fort.
3. Der Gesetzgeber ist zur Neuregelung spätestens bis zum Ablauf des 31.
Dezember 2026 verpflichtet.
Inhaltsverzeichnis
1
A. Sachbericht
64
B. Zulässigkeit
92
C. Entscheidung über die Rechtsfrage: Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1
Alt. 2 GG
94
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
99
II. Schutzbereich und Eingriff
108
III. Rechtfertigung
109
1. Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG
112
2. Legitime Zwecke
113
a) Maßstab
116
b) Subsumtion
117
aa) Schutz vor Zwangsmaßnahmen im privaten Wohnumfeld
118
bb) Prüfung der Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch
multiprofessionelle Teams
119
cc) Verhinderung von auf Fehlanreizen beruhendem Ergreifen nicht
erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen
121
dd) Sicherstellung einer angemessenen fachlichen Versorgung
123
3. Geeignetheit
133
4. Erforderlichkeit
138
5. Angemessenheit
139
a) Maßstab
141
b) Subsumtion
142
aa) Schwere des Eingriffs
150
bb) Gewicht der verfolgten Zwecke
153
cc) Gesamtabwägung
154
(1) Regelfall
155
(2) Fehlen einer Ausnahmeregelung
165
dd) Unmöglichkeit verfassungskonformer Auslegung
168
D. Rechtsfolgen
G r ü n d e :
A.
1
Das Vorlageverfahren betrifft die Verfassungsmäßigkeit von § 1906a Abs. 1 Satz 1
Nr. 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der
materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 (BGBl I S.
2426, nachfolgend: BGB a.F.; auch im Übrigen werden Bestimmungen des
Bürgerlichen Gesetzbuchs, die im für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
fachrechtlichen Entscheidungen des Amtsgerichts als Betreuungsgericht und des
Beschwerdegerichts im Ausgangsverfahren maßgeblichen Jahr 2022 in Geltung
standen, durch den Zusatz „a.F.“ und solche, die mit Jahresbeginn 2023 in Kraft
traten, mit dem Zusatz „n.F.“ bezeichnet). Diese vom 22. Juli 2017 bis zum
Ablauf des 31. Dezember 2022 geltende Vorschrift bestimmte, dass ärztliche
Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten nur dann einwilligungsfähig sind, wenn sie
im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt
werden, in dem die gebotene medizinische Versorgung der Betreuten einschließlich
einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist. Durch das am 1. Januar
2023 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und
Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 (BGBl I S. 882) wurde § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr.
7 BGB a.F. durch die wortlautidentische Vorschrift des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr.
7 BGB n.F. ersetzt.
I.
2
1. Die hier zur Überprüfung ihrer Verfassungskonformität gestellte Vorschrift
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. wurde mit dem Gesetz zur Änderung der
materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017 eingeführt.
Dabei knüpfte der Gesetzgeber ärztliche Zwangsmaßnahmen bei Betreuten erstmals
nicht an die Voraussetzung, dass diese im Rahmen einer freiheitsentziehenden
Unterbringung der Betreuten durchgeführt werden. § 1906a BGB a.F. lautete wie
folgt:
§ 1906a Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen
(1) 1Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung
oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche
Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur
einwilligen, wenn
1. die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten notwendig ist, um einen
drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
2. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder
seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen
oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
3. die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901a zu beachtenden Willen des
Betreuten entspricht,
4. zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen
Drucks versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen
Maßnahme zu überzeugen,
5. der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere den
Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann,
6. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden
Beeinträchtigungen deutlich überwiegt und
7. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten
einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist,
durchgeführt wird.
2§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung seiner Pflichten
verhindert ist.
(2) Die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des
Betreuungsgerichts.
(3) 1Der Betreuer hat die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme zu
widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind. 2Er hat den Widerruf dem
Betreuungsgericht unverzüglich anzuzeigen.
(4) Kommt eine ärztliche Zwangsmaßnahme in Betracht, so gilt für die Verbringung
des Betreuten gegen seinen natürlichen Willen zu einem stationären Aufenthalt in
ein Krankenhaus § 1906 Absatz 1 Nummer 2, Absatz 2 und 3 Satz 1 entsprechend.
(5) 1Die Einwilligung eines Bevollmächtigten in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
und die Einwilligung in eine Maßnahme nach Absatz 4 setzen voraus, dass die
Vollmacht schriftlich erteilt ist und die Einwilligung in diese Maßnahmen
ausdrücklich umfasst. 2Im Übrigen gelten die Absätze 1 bis 3 entsprechend.
3
2. Im für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des
Betreuungsgerichts und des Landgerichts im Ausgangsverfahren maßgeblichen Jahr
2022 stellen sich die entscheidungserheblichen Vorschriften für ärztliche
Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Betreuungsrechts des Bürgerlichen Gesetzbuchs wie
folgt dar:
4
a) Kann ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz
oder teilweise nicht besorgen, bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag
oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer (vgl. § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.).
§ 1896 BGB a.F. lautete auszugsweise wie folgt:
§ 1896 Voraussetzungen
(1) 1Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz
oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen
Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. 2Den Antrag kann auch ein
Geschäftsunfähiger stellen. 3Soweit der Volljährige auf Grund einer körperlichen
Behinderung seine Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf
Antrag des Volljährigen bestellt werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen
nicht kundtun kann.
(1a) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt
werden.
(2) 1Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die
Betreuung erforderlich ist. 2Die Betreuung ist nicht erforderlich, soweit die
Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den
in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört, oder durch andere Hilfen, bei
denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen
Betreuer besorgt werden können.
[…]
5
Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder
ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche
Zwangsmaßnahme; vgl. § 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.), kann ein Betreuer mit
entsprechendem Aufgabenkreis in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen. Die
einzelnen Voraussetzungen für die Einwilligung des Betreuers in die ärztliche
Zwangsmaßnahme legt § 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. fest. Eine dieser
Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen (vgl. BTDrucks 18/11240, S. 19),
regelt die hier zur Überprüfung gestellte Vorschrift des § 1906a Abs. 1 Satz 1
Nr. 7 BGB a.F.
6
b) Die Einwilligung des Betreuers in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der
Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1906a Abs. 2 BGB a.F.). In eine etwaig
notwendige Verbringung des Betreuten zu einem stationären Aufenthalt in einem
Krankenhaus gegen seinen natürlichen Willen zum Zwecke der ärztlichen
Zwangsmaßnahme kann der Betreuer auf Grundlage von § 1906a Abs. 4 BGB a.F.
einwilligen; auch diese Einwilligung steht unter betreuungsgerichtlichem
Genehmigungsvorbehalt (§ 1906a Abs. 4 i.V.m. § 1906 Abs. 2 BGB a.F.). § 1906 BGB
a.F. lautete auszugsweise wie folgt:
§ 1906 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei freiheitsentziehender
Unterbringung und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit
Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des
Betreuten erforderlich ist, weil
1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen
Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder
erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder
2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine
Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher
Eingriff notwendig ist, die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht
durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit
oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung
nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
(2) 1Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.
2Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub
Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.
(3) 1Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen
weggefallen sind. 2Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht
unverzüglich anzuzeigen.
[…]
7
3. Mit der Einführung von § 1906a BGB a.F. wollte der Gesetzgeber eine vom
Bundesverfassungsgericht beanstandete Schutzlücke schließen. Diese war darin
begründet, dass eine ärztliche Zwangsmaßnahme gegenüber Betreuten, hinsichtlich
derer die Voraussetzungen für eine freiheitsentziehende Unterbringung nicht
vorlagen, unter keinen Umständen möglich war:
8
a) Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sah zunächst keine
ausdrückliche Regelung zu den Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen vor
(vgl. BTDrucks 11/4528, S. 72, 141). Der Bundesgerichtshof ging in ständiger
Rechtsprechung davon aus, dass Betreuer und Betreuerinnen ausschließlich in
ärztliche Zwangsmaßnahmen einwilligen können, die im Rahmen einer
freiheitsentziehenden Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB in der Fassung
des Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für
Volljährige vom 12. September 1990 (BGBl I S. 2002) durchgeführt werden (vgl.
BGHZ 166, 141 <149 Rn. 18 ff.>). Eine freiheitsentziehende Unterbringung in
diesem Sinne sei gegeben, wenn der Betroffene gegen seinen Willen oder im
Zustand der Willenlosigkeit in einem räumlich begrenzten Bereich eines
geschlossenen Krankenhauses, einer anderen geschlossenen Einrichtung oder dem
abgeschlossenen Teil einer solchen Einrichtung festgehalten, sein Aufenthalt
ständig überwacht und die Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb des Bereichs
eingeschränkt werde, wobei die Maßnahme auf eine gewisse Dauer angelegt sein
müsse (vgl. BGHZ 145, 297 <300 ff.>).
9
b) Das Bundesverfassungsgericht entschied durch Beschluss vom 23. März 2011 zur
Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug, dass die wesentlichen Voraussetzungen für
die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung klarer und bestimmter gesetzlicher
Vorgaben bedürfen (vgl. BVerfGE 128, 282). In Reaktion hierauf fügte der
Gesetzgeber durch das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl I S. 266) die
Absätze 3 und 3a in § 1906 BGB ein (vgl. im Einzelnen die Darstellung in BVerfGE
142, 313 <316 ff. Rn. 8 bis 17>). Danach sollte die Einwilligung des Betreuers
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme (weiterhin) nur im Rahmen einer
betreuungsrechtlichen freiheitsentziehenden Unterbringung möglich sein (vgl.
BTDrucks 17/11513, S. 6).
10
c) Auf einen konkreten Normenkontrollantrag des Bundesgerichtshofs in Bezug auf
§ 1906 Abs. 3 BGB erklärte es das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 26.
Juli 2016 für mit der aus 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates
unvereinbar, dass für Betreute, denen schwerwiegende gesundheitliche
Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen
ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln
können, eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen
Umständen möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht
geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich
nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind. Es gab dem
Gesetzgeber ferner auf, unverzüglich eine Regelung für diese Fallgruppe zu
treffen (vgl. BVerfGE 142, 313).
11
Das Bundesverfassungsgericht befand, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den
Gesetzgeber verpflichte, ein System der Hilfe und des Schutzes für unter
Betreuung stehende Menschen vorzusehen, die die Erforderlichkeit einer
medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen
nicht erkennen oder nicht danach handeln könnten (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 Rn.
71>). Der Konflikt zwischen der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden
Schutzpflicht des Staates einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht sowie dem
Recht auf körperliche Unversehrtheit desselben Grundrechtsberechtigten
andererseits sei möglichst schonend aufzulösen. Drohten Betreuten schwerwiegende
Gesundheitsbeeinträchtigungen und überwögen die Vorteile eines medizinischen
Eingriffs eindeutig die damit verbundenen Nachteile und Risiken, gehe die
Schutzpflicht vor, so dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer medizinischen
Behandlung und Untersuchung auch gegen den natürlichen Willen der Betreuten
vorzusehen habe (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 Rn. 72>). Dabei müssten strenge
materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen an eine solche
Zwangsbehandlung die möglichst weitgehende Berücksichtigung der betroffenen
Freiheitsrechte sicherstellen (vgl. BVerfGE 142, 313 <341 Rn. 78>). Eine
medizinische Zwangsbehandlung gegen den freien Willen eines Menschen sei
ausgeschlossen; dies gelte auch, soweit der freie Wille anhand von Indizien
ermittelbar sei (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 75, 342 f. Rn. 82 f.>).
12
d) Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung sollte mit der
Einführung von § 1906a BGB a.F. die vom Bundesverfassungsgericht beanstandete
Schutzlücke dadurch geschlossen werden, dass die Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt wurde
(vgl. BTDrucks 18/11240, S. 1 f., 13). Statt an eine freiheitsentziehende
Unterbringung sollte die Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen künftig an
einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus geknüpft werden (vgl. BTDrucks
18/11240, S. 15). Ambulant durchgeführte ärztliche Zwangsbehandlungen sollten
weiterhin ausgeschlossen bleiben (vgl. BTDrucks 18/11240, S. 15):
„Ambulante ärztliche Zwangsmaßnahmen widersprechen den Grundsätzen einer
modernen Psychiatrie, wonach Menschen mit psychischen Krankheiten gerade in
ihrem Wohn- und sonstigen persönlichen Umfeld vertrauensvolle Unterstützung und
Hilfe und nicht staatlich genehmigten Zwang benötigen. Eine auf Vertrauen
gegründete und auf Kooperation mit dem Patienten ausgerichtete ambulante
psychiatrische Versorgung, die auf die Ausübung von Zwang verzichtet, stellt ein
wesentliches Element eines auf die Vermeidung von Zwang ausgerichteten
psychiatrischen Hilfesystems dar. Die Einführung der Möglichkeit einer
ambulanten Zwangsbehandlung würde das Ziel, Zwang im psychiatrischen Hilfesystem
so weit wie möglich zu vermeiden, konterkarieren. Durch die Koppelung der
ärztlichen Zwangsmaßnahme an eine stationäre Behandlung des Betroffenen soll
außerdem sichergestellt werden, dass die gebotene sorgfältige Prüfung der
Voraussetzungen der ärztlichen Zwangsmaßnahme erfolgt; dabei geht es nicht nur
um die Frage, ob die ärztliche Behandlung als solche durchzuführen ist, sondern
auch darum, ob gerade die zwangsweise Durchführung der Behandlung notwendig und
verhältnismäßig ist, also namentlich um die sorgfältige Prüfung der
Einwilligungsfähigkeit, der Wünsche und des Willens des Betroffenen gemäß §
1901a BGB sowie der zur Verfügung stehenden weniger belastenden Alternativen.
Diese Prüfung sollte nach Möglichkeit durch ein multiprofessionelles Team unter
Einschluss auch des Pflegepersonals durchgeführt werden (so die Empfehlung der
Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme zu
‚Zwangsbehandlungen bei psychischen Erkrankungen‘ vom April 2013, Deutsches
Ärzteblatt Heft 26, S. 1337). In der Praxis hat sich außerdem die Beteiligung
einer klinischen Ethikberatung bewährt. Schließlich kann nur bei einer
stationären Behandlung davon ausgegangen werden, dass die im jeweiligen
Einzelfall medizinisch oder psychologisch erforderliche Begleitung
beziehungsweise Pflege des Betroffenen vor und vor allem nach der Behandlung
gesichert ist.“
13
Der Bundesrat bat indes, die Entscheidung für das ausnahmslose Erfordernis eines
stationären Krankenhausaufenthalts im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu
überprüfen. Er wandte ein, die generelle Unzulässigkeit von Zwangsbehandlungen
außerhalb vollstationärer Krankenhausaufenthalte führe zu weiteren Schutzlücken
oder zu vermeidbaren und verfassungsrechtlich bedenklichen Belastungen der
Betreuten, die mit der Verbringung in ein Krankenhaus und dem dortigen
Aufenthalt einhergehen könnten (vgl. BRDrucks 66/17, S. 4):
„In vielen Fällen wird die Durchführung einer Zwangsbehandlung im Rahmen eines
vollstationären Krankenhausaufenthalts die beste Gewähr dafür bieten, dass die
gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer
erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist. Dies gilt aber nicht
ausnahmslos. Gerade bei Betreuten, die sich aufgrund einer fortgeschrittenen
Demenz in einem Pflegeheim befinden, führten die im Gesetzentwurf vorgesehenen
Regelungen dazu, dass diese nicht nur gegen ihren natürlichen Willen behandelt,
sondern auch gegen ihren natürlichen Willen in ein Krankenhaus verbracht werden
müssen, selbst wenn es sich bei der Zwangsbehandlung um eine weitgehend
ungefährliche, erwartungsgemäß komplikationslose Maßnahme handelt. Die
Verbringung in ein Krankenhaus und der dortige Aufenthalt können dann mit
wesentlich größeren Belastungen einhergehen als die eigentliche Zwangsbehandlung
(zum Beispiel bei der Verabreichung eines harmlosen Medikaments). So kann im
Einzelfall der Ortswechsel und der Aufenthalt in einer Klink mit seiner hohen
Patienten- und Ärztefluktuation für den Betreuten wesentlich eingreifender sein
als der Verbleib in der gewohnten Umgebung des Heimes, in der der Betreute von
vertrauten Personen versorgt wird. Diese zusätzlichen Belastungen sind
keineswegs immer sachlich gerechtfertigt. Sie sind es zum Beispiel dann nicht,
wenn aufgrund der Art der medizinisch indizierten Behandlung keine weiteren
Nachwirkungen zu erwarten sind oder das Pflegeheim die gebotene medizinische
Versorgung einschließlich der erforderlichen Nachbehandlung genauso
sicherstellen kann wie das Krankenhaus. In diesen Fällen wäre es mit
unverhältnismäßigen Belastungen für den Betreuten verbunden, wenn er nur um der
Entsprechung eines Leitbilds des Gesetzgebers willen in ein Krankenhaus
verbracht und dort vollstationär aufgenommen werden müsste.“
14
Die Anregung des Bundesrats zu überprüfen, ob ärztliche Zwangsmaßnahmen
außerhalb eines vollstationären Krankenhausaufenthalts auch in einer sonstigen
Einrichtung, in der die medizinische Versorgung des Betroffenen sichergestellt
ist, durchgeführt werden könnten, lehnte die Bundesregierung ab und führte aus
(vgl. BTDrucks 18/11617, S. 5 f.):
„Aufgrund des Ultima-Ratio-Gebots sollen die Hürden für ärztliche
Zwangsmaßnahmen nicht gesenkt werden. Bei einer Ausweitung von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen auf Heime bzw. sonstige Einrichtungen, wie etwa spezialisierte
ambulante Zentren, besteht die Gefahr, dass es zu einer deutlichen Zunahme von
Zwangsbehandlungen käme und die Alternativen nicht immer sorgfältig geprüft
würden. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen
vielfach dadurch vermieden werden können, dass Heimbewohner mit Demenz, mit
einer geistigen Behinderung oder mit einer psychischen Krankheit in der
Einrichtung eine vertrauensvolle Unterstützung bekommen und unter Verwendung der
erforderlichen Zeit von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme überzeugt
werden können. Derartige Bemühungen würden durch die Zulassung von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen in Heimen konterkariert.
Außerdem ist der Schutz des privaten Wohnumfelds der Betroffenen
sicherzustellen. Hier sollen die Betroffenen vertrauensvolle Unterstützung
erhalten und sich nicht Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sehen. Dabei sollen
Heimbewohner denselben Schutz genießen wie Betroffene, die zu Hause gepflegt und
versorgt werden.
Die Einschränkung auf einen stationären Krankenhausaufenthalt führt nicht zu
weiteren Schutzlücken. Denn eine Behandlung, die ambulant durchgeführt werden
kann, kann mindestens ebenso gut auch stationär vorgenommen werden (so auch das
Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15).“
15
Entsprechend der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und
Verbraucherschutz (vgl. BTDrucks 18/12842, S. 3) nahm der Bundestag den
Gesetzentwurf in seiner Sitzung am 22. Juni 2017 mit geringfügigen Änderungen im
Hinblick auf § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 4 BGB a.F. an (vgl.
Plenarprotokoll 18/240, S. 24649). Nach Art. 1 Ziffer 3, Art. 8 des Gesetzes zur
Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom
17. Juli 2017 trat § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. am 22. Juli 2017 in
Kraft (vgl. BGBl I S. 2426). Art. 7 des vorgenannten Gesetzes sah vor, dass das
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz nach Ablauf von drei
Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Auswirkungen der durch dieses
Gesetz vorgenommenen Änderungen auf die Anwendungspraxis untersucht,
insbesondere die Art und Häufigkeit von betreuungsgerichtlich genehmigten oder
angeordneten ärztlichen Zwangsmaßnahmen sowie die Wirksamkeit der
Schutzmechanismen in § 1906a BGB a.F.
16
4. Das am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des
Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 (BGBl I S. 882) ließ den
Regelungsgehalt der entscheidungserheblichen Vorschriften unverändert. Die
Regelung in § 1906a Absätze 1 bis 4 BGB a.F. wurde in § 1832 Absätze 1 bis 4 BGB
n.F. überführt und der Normwortlaut lediglich durch Verzicht auf den Begriff des
„Wohls des Betreuten“ in § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB n.F. geringfügig
angepasst (vgl. BTDrucks 19/24445, S. 261). Die Regelung in § 1906a Abs. 5 BGB
a.F. ist nun ohne inhaltliche Änderungen in § 1820 Abs. 2 Nr. 3 BGB n.F.
enthalten (vgl. BTDrucks 19/24445, S. 261). § 1906 Absätze 1 bis 3 BGB a.F.
finden sich in § 1831 Absätzen 1 bis 3 BGB n.F. wieder; auch insoweit wurde der
Normwortlaut lediglich durch Verzicht auf den Begriff des „Wohls des Betreuten“
im Einleitungssatz des § 1831 Abs. 1 BGB n.F. verändert (vgl. BTDrucks 19/24445,
S. 261). Die Voraussetzungen des § 1814 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 BGB n.F. für die
Bestellung eines (rechtlichen) Betreuers für einen Volljährigen entsprechen im
Wesentlichen den Voraussetzungen des § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. (vgl.
BTDrucks 19/24445, S. 230 f.). Anders als § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. nennt §
1814 Abs. 1 BGB n.F. die Unfähigkeit des Volljährigen, seine Angelegenheiten
selbst zu besorgen, als erste Voraussetzung. Nicht der medizinische Befund einer
Krankheit oder Behinderung soll das vorrangig festzustellende Tatbestandselement
sein, sondern der individuell und konkret zu bestimmende objektive
Unterstützungsbedarf. Ferner wird das Unvermögen zur Besorgung der
Angelegenheiten nun durch die Einschränkung konkretisiert, dass ein Volljähriger
hierzu „rechtlich“ nicht in der Lage sein dürfe. Schließlich wird tatbestandlich
nur noch an eine Krankheit oder Behinderung angeknüpft, um Diskriminierungen zu
vermeiden. Den potentiellen Kreis von grundsätzlich für eine Betreuung in
Betracht kommenden Personen soll dies nicht verändern (vgl. BTDrucks 19/24445,
S. 230 f., 234).
17
5. Eine vom Bundesministerium der Justiz im Jahr 2022 in Auftrag gegebene, am
31. Januar 2024 vorgelegte „Evaluierung des Gesetzes zur Änderung der
materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017“
(Henking/Juckel/Gather/Steinert, Evaluierung des Gesetzes zur Änderung der
materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur
Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17. Juli 2017,
Schlussbericht, 31. Januar 2024; nachfolgend: Evaluierung) identifizierte keinen
Änderungsbedarf mit Blick auf § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. Ärztliche
Zwangsmaßnahmen ohne freiheitsentziehende Unterbringungen bildeten die Ausnahme.
Es seien keine Fälle identifiziert worden, bei denen der bloße Umstand, dass die
Behandlung im Krankenhaus durchgeführt worden sei, zu einer
Gesundheitsgefährdung der Betroffenen geführt habe (Evaluierung, S. 244 f.).
Eine Auswertung von Fallakten habe ferner ergeben, dass bei dem weit
überwiegenden Anteil der Betroffenen eine Diagnose aus dem Bereich
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20–F29 ICD-10-GM Version
2024) gestellt worden sei (Evaluierung, S. 42, 203). In etwa der Hälfte der
beobachteten Fälle sei die betreuungsgerichtliche Genehmigung im Wege der
einstweiligen Anordnung erfolgt (Evaluierung, S. 46, 52).
II.
18
1. In dem der Vorlage zugrunde liegenden Ausgangsverfahren wendet sich die
psychisch schwer erkrankte Betroffene gegen die Versagung der
betreuungsgerichtlichen Genehmigung, ihre zwangsweise ärztliche Behandlung mit
einem Neuroleptikum statt in einem Krankenhaus in dem von ihr bewohnten
Wohnverbund durchzuführen.
19
a) Die im Jahr 1963 geborene Betroffene des Ausgangsverfahrens leidet an einer
paranoiden Schizophrenie sowie an einem schizophrenen Residuum. Für sie ist
deswegen seit dem Jahr 2000 eine Betreuung eingerichtet. Der Aufgabenkreis des
Berufsbetreuers umfasst unter anderem die Gesundheitssorge und die
Aufenthaltsbestimmung. Die Betroffene ist seit dem Jahr 2008 – mit
zwischenzeitlichen Krankenhausaufenthalten – in einem Wohnverbund geschlossen
untergebracht, zuletzt auf Grundlage von § 1906 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 BGB
a.F. Sie lehnt die fachärztlich für erforderlich gehaltene Dauermedikation mit
Neuroleptika ab. Mit jeweils betreuungsgerichtlich genehmigten Einwilligungen
ihres Betreuers wurde sie regelmäßig in einem dem Wohnverbund nahegelegenen
Krankenhaus (LWL-Klinik) zwangsweise mit Neuroleptika ärztlich behandelt. Hierzu
genehmigte das Betreuungsgericht jeweils ihre geschlossene Unterbringung in der
LWL-Klinik und ermächtigte die zuständige Behörde, auf Veranlassung des
Betreuers bei der Zuführung der Betroffenen zur Unterbringung in der Klinik
erforderlichenfalls Gewalt anzuwenden.
20
b) Mit Schreiben vom 11. August 2022 beantragte der Berufsbetreuer „die
Genehmigung zur Zwangsbehandlung [der Betroffenen] mit bis zu 4 ml Haldol
Decanoat intramuskulär 28-tägig […] auf der Station [des von ihr bewohnten
Wohnverbunds] im Rahmen einer stationsäquivalenten Behandlung für den Zeitraum
von 6 Wochen“. Weiterhin formulierte er: „Hilfsweise für den Fall, dass die
stationsäquivalente Behandlung nicht genehmigt wird, beantrage ich die
geschlossene Unterbringung für diese Behandlung in der LWL-Klinik […] oder einer
anderen geschlossenen Einrichtung für den Zeitraum von 6 Wochen.“ Zur Begründung
der Anträge führte er aus, die in der Vergangenheit regelmäßig notwendig
gewordenen Verbringungen in ein stationäres Umfeld, bei denen Fixierungen mit
Anbringung einer Spuckmaske zum Transport notwendig gewesen seien, hätten bei
der Betroffenen regelmäßig Retraumatisierungen ausgelöst. Dem könne durch eine
stationsäquivalente Behandlung im heimischen Umfeld vorgebeugt werden.
21
c) Mit Beschluss vom 20. September 2022 wies das Betreuungsgericht den auf
Genehmigung der Zwangsbehandlung in dem von der Betroffenen bewohnten
Wohnverbund gerichteten Hauptantrag zurück und genehmigte entsprechend dem
Hilfsantrag die zwangsweise Heilbehandlung der Betroffenen während der
geschlossenen Unterbringung im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus längstens bis zum 1. November 2022. Die gegen die Zurückweisung des
Hauptantrags eingelegte Beschwerde wies das Landgericht mit Beschluss vom 20.
Oktober 2022 zurück und ließ die Rechtsbeschwerde zu. Zwar lägen die
Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB a.F. für die
Genehmigung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme vor. Eine Zwangsmedikation sei
aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
jedoch nur in einem Krankenhaus während einer vollstationären Aufnahme zulässig.
Eine Auslegung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. dahingehend, dass eine
Zwangsmedikation auch außerhalb eines stationären Krankenhausaufenthalts in
einer geschlossenen Einrichtung zulässig sei, überschreite die Grenze zulässiger
Auslegung. Gegen den Beschluss des Landgerichts vom 20. Oktober 2022 richtet
sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie die Feststellung
beantragt, dass die Beschlüsse des Betreuungsgerichts vom 20. September 2022 und
des Landgerichts vom 20. Oktober 2022 sie in ihren Rechten verletzt hätten.
22
2. Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom 8. November 2023
gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, § 13 Nr. 11, § 80 Abs. 1 BVerfGG ausgesetzt und
dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob es mit der
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist,
dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. für die Einwilligung des Betreuers in
eine ärztliche Zwangsmaßnahme die Durchführung der Maßnahme in einem Krankenhaus
auch bei solchen Betroffenen voraussetzt, die aus medizinischer Sicht
gleichermaßen in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in der ihre
gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen
Nachbehandlung sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden könnten und die durch
die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der ärztlichen
Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden.
23
a) Die Vorlage sei gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG statthaft.
24
aa) Dem stehe nicht entgegen, dass mit § 1906a BGB a.F. eine Regelung
Vorlagegegenstand sei, die mit Wirkung zum 1. Januar 2023 außer Kraft getreten
sei. Im Fall des Außerkrafttretens einer Norm sei die Richtervorlage eröffnet,
wenn durch das Außerkrafttreten eine Erledigung des Ausgangsverfahrens nicht
eingetreten und die außer Kraft getretene Regelung für das Verfahren weiterhin
entscheidungserheblich sei. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Zwar hätten
sich die Entscheidungen des Betreuungsgerichts und des Beschwerdegerichts in der
Hauptsache erledigt. Die Erledigung sei aber nicht durch das Außerkrafttreten
der Regelung, sondern dadurch eingetreten, dass der bis zum 1. November 2022
reichende Zeitraum von sechs Wochen, für den der Betreuer die Zwangsbehandlung
in der von der Betroffenen bewohnten Einrichtung beantragt habe, abgelaufen sei.
Für das Rechtsschutzbegehren der Betroffenen, das entsprechend § 62 FamFG auf
die Feststellung einer Rechtsverletzung durch die Beschlüsse des
Betreuungsgerichts und des Beschwerdegerichts gerichtet sei, sei die Rechtslage
zum Zeitpunkt des Ergehens dieser Beschlüsse am 20. September 2022 und am 20.
Oktober 2022 maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt sei die Vorschrift des § 1906a BGB
a.F. noch in Kraft gewesen, weshalb sie weiterhin den Maßstab für die vom
Bundesgerichtshof zu treffende Entscheidung bilde.
25
bb) Die durch Zeitablauf eingetretene Erledigung der Hauptsache stehe der
Vorlage ebenfalls nicht entgegen. Denn zum einen bestehe ein hinreichend
gewichtiges grundsätzliches Klärungsbedürfnis an der Vorlagefrage fort. Zum
anderen sei aufgrund der für ärztliche Zwangsmaßnahmen geltenden Zeitspanne von
maximal sechs Wochen (vgl. § 329 Abs. 1 Satz 2 FamFG) die vom
Bundesverfassungsgericht anerkannte Konstellation gegeben, in der sich ein
gewichtiger Grundrechtseingriff nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine
Zeitspanne beschränke, in welcher Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum
erlangen könnten, weshalb ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse an einer
verfassungsgerichtlichen Klärung anzuerkennen sei.
26
cc) Die Vorlage sei auch statthaft, wenn wie hier ein gesetzgeberisches
Unterlassen vorliege. Zwar könne schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen nicht
Gegenstand einer Vorlage sein. Sei der Gesetzgeber aber auf einem Gebiet – wie
hier auf dem der ärztlichen Zwangsmaßnahmen – bereits tätig geworden und halte
ein Gericht die geschaffenen Vorschriften angesichts einer grundrechtlichen
Schutzpflicht für unzureichend, sei eine Vorlage möglich.
27
b) Die Verfassungsmäßigkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. sei für die
Entscheidung über die Rechtsbeschwerde erheblich.
28
aa) Verstieße die Bestimmung gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, könne die
Rechtsbeschwerde Erfolg haben.
29
Die Rechtsbeschwerde sei statthaft und auch im Übrigen zulässig. Dies gelte auch
mit Blick auf das verfolgte Ziel, eine Rechtsverletzung durch die Beschlüsse des
Betreuungsgerichts und des Beschwerdegerichts nach § 62 FamFG feststellen zu
lassen. Diese Vorschrift sei im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend
anwendbar. Die Betroffene sei insoweit antragsberechtigt. Ein berechtigtes
Interesse im Sinne von § 62 Abs. 1 FamFG liege schon deshalb vor, weil aufgrund
der lang andauernden Behandlungsbedürftigkeit eine Wiederholung der Ablehnung
ärztlicher Zwangsmaßnahmen in ihrer Wohnung konkret zu erwarten sei (vgl. § 62
Abs. 2 Nr. 2 FamFG).
30
Für das Rechtsbeschwerdeverfahren sei mit dem Betreuungsgericht und mit dem
Beschwerdegericht davon auszugehen, dass die (allgemeinen) Voraussetzungen für
die Genehmigung der vom Betreuer beantragten ärztlichen Zwangsmaßnahme nach §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB a.F. vorgelegen hätten. Zudem sei für
das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen, dass – wie von der
Rechtsbeschwerde geltend gemacht – die Einrichtung, in der die Betroffene
untergebracht sei, mit Blick auf die bei ihr erforderliche Zwangsbehandlung auch
so organisiert sei, dass darin ihre gebotene medizinische Versorgung
einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung im Sinne von § 1906a Abs. 1
Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. sichergestellt gewesen wäre. Schließlich sei
rechtsbeschwerderechtlich zu Grunde zu legen, dass die Verbringung der
Betroffenen in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme
zu erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen (Retraumatisierungen) bei ihr
führe.
31
Dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift nach einer weiteren
Sachaufklärung möglicherweise nicht beantwortet werden müsse, ändere für den mit
der Rechtsbeschwerde (§§ 70 ff. FamFG) angerufenen und daher nur mit der Prüfung
von Rechtsverletzungen befassten Senat nichts an der Entscheidungserheblichkeit
der von ihm für verfassungswidrig gehaltenen Regelung.
32
bb) Bei Annahme der Verfassungsmäßigkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. sei die Rechtsbeschwerde hingegen zurückzuweisen. Das Betreuungsgericht und
das Beschwerdegericht seien zu Recht davon ausgegangen, dass eine
Zwangsbehandlung der Betroffenen in ihrer Wohneinrichtung nach Auslegung von §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. unter Berücksichtigung des Wortlauts, der
Entstehungsgeschichte, des gesetzgeberischen Willens und von Sinn und Zweck der
Regelung nicht genehmigungsfähig sei. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung
dürften ärztliche Zwangsmaßnahmen nur in einem Krankenhaus durchgeführt werden.
Darunter falle der von der Beschwerdeführerin bewohnte Wohnverbund nicht. Da
durch die Gesetzgebungsgeschichte des § 1906a BGB a.F. der eindeutige Wille des
Gesetzgebers belegt sei, jegliche ärztliche Zwangsbehandlung außerhalb eines
Krankenhauses auszuschließen, sei nach der Vorschrift eine ärztliche
Zwangsmaßnahme in der Wohneinrichtung der Betroffenen auch im Wege einer
stationsäquivalenten Behandlung nicht genehmigungsfähig. Für eine analoge
Anwendung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. auf die von der Betroffenen
beantragte Zwangsbehandlung in dem von ihr bewohnten Wohnverbund fehle es an der
erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Auch könne das von der Betroffenen
begehrte Ergebnis nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung erreicht werden.
33
c) Dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. eine „strikte Koppelung“ der
Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen an deren Durchführung in einem
Krankenhaus auch für Fallgestaltungen vorschreibe, bei denen Betroffene aus
medizinischer Sicht gleichermaßen in der Einrichtung, in der sie untergebracht
seien und in der ihre gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer
erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt sei, zwangsbehandelt werden könnten
und die durch die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der
ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt würden, sei mit der
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar.
34
aa) Der Staat sei aus der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht
verpflichtet, hilfsbedürftigen Menschen, die im Hinblick auf ihre
Gesundheitssorge unter Betreuung stünden und bei einem drohenden erheblichen
gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht
erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln könnten, notfalls auch gegen
ihren natürlichen Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren. Die
Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts sei Sache des
Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und
Gestaltungsspielraum zukomme, wenn er dem Grunde nach verpflichtet sei,
Maßnahmen zum Schutz des Rechtsguts zu ergreifen. Die Verletzung einer solchen
Schutzpflicht liege nur vor, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht
getroffen seien, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich
ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das gebotene Schutzziel zu erreichen,
oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben. Zugleich müsse der
Gesetzgeber durch inhaltlich anspruchsvolle materielle und verfahrensrechtliche
Voraussetzungen an eine medizinische Zwangsbehandlung sicherstellen, dass die
zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen – das Recht auf Selbstbestimmung
und körperliche Unversehrtheit – möglichst weitgehend Berücksichtigung fänden.
Der Konflikt zwischen den in ihrer Abwehr- und Schutzpflichtdimension
kollidierenden Grundrechten derselben Grundrechtsberechtigten sei möglichst
schonend aufzulösen. Auch im Rahmen der objektiv-rechtlichen Dimension des Art.
2 Abs. 2 Satz 1 GG sei das Gebot schonender Mittelauswahl zu beachten.
35
bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr.
7 BGB a.F. nicht.
36
Die Regelung sei in Fällen wie dem vorliegenden ungeeignet, das gebotene
Schutzziel zu erreichen. Sie verstoße gegen das Gebot schonender Mittelauswahl,
weil sie zur Folge habe, dass Betroffene den Schutz einer ärztlichen
Zwangsmaßnahme nur unter Hinnahme von für die Erreichung des Schutzziels nicht
erforderlichen gesundheitlichen Belastungen erhielten. Hierbei handele es sich
auch nicht um absolute Einzelfälle. Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe,
weshalb diese für die Betroffenen vermeidbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen
hinzunehmen und ärztliche Zwangsmaßnahmen außerhalb eines Krankenhauses strikt
zu verweigern seien, beruhten auf nicht vertretbaren Einschätzungen, weshalb der
Gesetzgeber sein „Gestaltungsermessen“ überschritten habe.
37
(1) Die Begründung des Gesetzgebers, eine Zulassung ambulant durchgeführter
Zwangsbehandlungen im psychiatrischen Bereich berge die Gefahr einer
Durchführung solcher Behandlungen unter Verletzung des ultima-ratio-Gebots ohne
ausreichende Prüfung weniger eingriffsintensiver Alternativen, sei nicht
tragfähig. Denn auch eine ärztliche Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung
eines Betroffenen sei von einer vorherigen Genehmigung des Betreuungsgerichts
abhängig, die sich an den Maßstäben des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6
BGB a.F. messen lassen müsse.
38
(2) Auch das Anliegen des Gesetzgebers, die Prüfung der Voraussetzungen
ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch ein multiprofessionelles Team unter Einschluss
des Pflegepersonals sicherzustellen, sei nicht tragfähig. Denn nach § 39 Abs. 1
Satz 4 SGB V erfolge eine stationsäquivalente Behandlung ebenfalls durch ein
ärztlich geleitetes multiprofessionelles Behandlungsteam.
39
(3) Die gesetzgeberische Annahme, ambulante ärztliche Zwangsmaßnahmen
widersprächen den Grundsätzen einer modernen Psychiatrie, wonach Menschen mit
psychischen Krankheiten gerade in ihrem Wohn- und sonstigen persönlichen Umfeld
keinen staatlich genehmigten Zwang erfahren sollten, lasse unberücksichtigt,
dass es vielfach eher dem Wohl und (mutmaßlichen) Willen Betroffener entspreche,
im eigenen Wohnumfeld behandelt zu werden, als in eine nicht vertraute
Krankenhausumgebung verbracht und dort festgehalten zu werden.
40
(4) Die Einschätzung des Gesetzgebers, nur bei einer stationären
Krankenhausbehandlung sei die im jeweiligen Einzelfall medizinisch oder
psychologisch erforderliche Versorgung des Betroffenen vor und nach der
Behandlung sichergestellt, sei nicht belegt und widerspreche der gesetzlichen
Konzeption der stationsäquivalenten Behandlung in § 39 Abs. 1 Satz 5 SGB V.
41
(5) Das den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügende Schutzkonzept
ärztlicher Zwangsmaßnahmen nach § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. werde auch
nicht anderweitig gesetzlich aufgefangen; denn das nordrhein-westfälische Gesetz
über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten vom 17. Dezember
1999 in der Fassung des zweiten Änderungsgesetzes vom 6. Dezember 2016 (GV NRW
S. 1062) habe schon deshalb nicht eingreifen können, weil es eine ärztliche
Zwangsbehandlung nur im Rahmen einer Unterbringung in einem Krankenhaus
vorgesehen habe.
42
(6) Völkerrechtliche Bindungen durch die UN-BRK und die EMRK stünden einer
Pflicht des Staates, unter gewissen Voraussetzungen medizinische
Zwangsbehandlungen von Betreuten auch außerhalb eines Krankenhauses zu
ermöglichen, nicht entgegen.
43
d) Einer verfassungskonformen Auslegung sei § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
nicht zugänglich. Die einzig in Betracht kommende Auslegung dahingehend, dass
eine Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung der Betroffenen genehmigungsfähig
sei, widerspräche dem Wortlaut der Vorschrift und dem klar erkennbaren Willen
des Gesetzgebers.
III.
44
Von der im Normenkontrollverfahren eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme
haben die Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung, der Senat der Freien
und Hansestadt Hamburg, die Hessische Landesregierung, die Niedersächsische
Landesregierung, die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die Regierung des
Saarlandes, die Sächsische Staatsregierung, die Bundesärztekammer
(Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern), der GKV-Spitzenverband, der
Betreuungsgerichtstag e.V., der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege e.V., der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen
mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG
Selbsthilfe), der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen e.V., der Dachverband
Gemeindepsychiatrie e.V., der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (nachfolgend: DGPPN), der
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP), der Deutsche
Gesellschaft für Verhaltenstherapie – Berufsverband Psychosoziale Berufe e.V.
(nachfolgend: DGVT BV) und der Deutsche Richterbund, Bund der Richterinnen und
Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte e.V. Gebrauch gemacht. Die
Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Äußerung erhalten.
45
Zuvor war an diejenigen, denen die Gelegenheit zur Stellungnahme eröffnet worden
war, mit Ausnahme des GKV-Spitzenverbands, ein umfassender Fragenkatalog
versandt worden, unter anderem zu Fallzahlen, Gruppen von Betroffenen, Arten und
Genehmigungsquoten ärztlicher Zwangsmaßnahmen, zur praktischen Durchführung der
zwangsweisen Verabreichung von Medikamenten, zu den Auswirkungen der
(zwangsweisen) Verbringung in ein Krankenhaus und des Aufenthalts dort auf
Betroffene, zu den Auswirkungen einer etwaigen Ausweitung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen auf Pflegeheime, vergleichbare Einrichtungen beziehungsweise den
häuslichen Bereich und zu Erkenntnissen zur Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern im (europäischen) Ausland.
46
Im Ergebnis hält die Bundesregierung die vorgelegte Regelung für
verfassungskonform. Die Bayerische Staatsregierung und die Niedersächsische
Landesregierung halten die Regelung für verfassungswidrig. Der
Betreuungsgerichtstag, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege, die BAG Selbsthilfe und der Dachverband Gemeindepsychiatrie
sprechen sich im Ergebnis gegen die Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen
außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus aus. Hingegen
erachten der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen und die DGPPN eine
Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen außerhalb eines stationären Aufenthalts
in einem Krankenhaus in einzelnen Anwendungsfällen unter bestimmten
Voraussetzungen zur Vermeidung unnötiger Belastungen für geboten. Auch laut
Bundesärztekammer kommt eine solche Ausnahme in Betracht. Im Übrigen enthalten
die Stellungnahmen insbesondere empirische Erkenntnisse zu den vom Senat
aufgeworfenen Fragen.
47
1. Die Bundesregierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit der Vorlage;
insbesondere fehlten notwendige fachgerichtliche Feststellungen zum Sachverhalt,
ohne die die für die Zulässigkeit einer Vorlage erforderliche
Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeit der vorgelegten Norm für das
Ausgangsverfahren nicht feststehe. Der Ausschluss der zwangsweisen Behandlung
der Betroffenen in ihrer Wohneinrichtung unter den im Vorlagebeschluss genannten
Bedingungen sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Die vom Gesetzgeber getroffenen
Regelungen zur Ausgestaltung der Art und Weise der Zwangsbehandlung verletzten
die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht. Der Gesetzgeber
habe sichergestellt, dass alle nicht einwilligungsfähigen und schutzbedürftigen
Patienten eine dringend erforderliche Behandlung gegebenenfalls auch gegen ihren
natürlichen Willen erhalten könnten. Er habe den Sachverhalt sorgfältig
ermittelt, die unterschiedlichen, teilweise widerstreitenden Aspekte für und
gegen eine Zwangsbehandlung in der Wohnung oder Wohneinrichtung der Betroffenen
umfassend abgewogen und mit der Entscheidung, dass die Zwangsbehandlung im
Rahmen einer stationären Behandlung in einem Krankenhaus stattfinden müsse, im
Rahmen seines Einschätzungs-, Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums dem Primat
des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen und dem Schutz ihrer Wohnung durch
Art. 13 GG Rechnung getragen. Das Untermaßverbot gebiete keine Ausnahme
zugunsten ambulanter Zwangsbehandlungen.
48
2. Die Bayerische Staatsregierung teilt die Rechtsauffassung des
Vorlagegerichts. Bereits bei ihrer Frühjahrskonferenz am 1. und 2. Juni 2022
hätten die Justizministerinnen und Justizminister der Länder den Bundesminister
der Justiz mit einstimmigem Beschluss gebeten zu überprüfen, inwieweit die
Beschränkung ärztlicher Zwangsmaßnahmen auf den stationären Bereich eines
Krankenhauses angesichts der damit einhergehenden Belastungen eines zwingenden
Aufenthaltswechsels mit der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG vereinbar sei. Speziell bei Menschen mit Demenz gehe eine Einweisung in ein
Krankenhaus unter anderem aufgrund des Verlusts des vertrauten Umfelds häufig
mit einer Verschlechterung des Gesamtzustands einher. Eine Überblicksarbeit gehe
davon aus, dass 3 % bis 29 % der älteren Patientinnen und Patienten während
eines Krankenhausaufenthalts sogar ein Delir entwickelten (unter Verweis auf
Siddiqi/House/Holmes, Age and Ageing, Volume 35, Issue 4 <Juli 2006>, S. 350).
49
3. Die Niedersächsische Landesregierung lehnt die strikte Koppelung der
Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen an deren Durchführung in einem
Krankenhaus in Übereinstimmung mit dem Vorlagegericht ab. Der dem
Ausgangsverfahren zugrunde liegende Fall sei kein Einzelfall, sondern trete zwar
selten, aber regelmäßig auf. Es bestehe eine hinreichende wissenschaftliche
Evidenz, dass psychisch schwer erkrankte Menschen idealerweise „aufsuchend“
durch multiprofessionelle Teams versorgt werden sollten. Allerdings müsse die
Entscheidung über den Ort der Zwangsbehandlung der Präferenz der Betroffenen
folgen. Im Hinblick auf empirische Erkenntnisse hätten niedersächsische Gerichte
mitgeteilt, schätzungsweise 90 % oder mehr der von ärztlichen Zwangsmaßnahmen
Betroffenen seien psychisch Erkrankte. In aller Regel gehe es um die zwangsweise
Verabreichung von Medikamenten, vor allem von Neuroleptika.
50
4. Die Sächsische Staatsregierung führt aus, unter den zwangsweise verabreichten
Medikamenten überwögen Antipsychotika. Die Gabe erfolge oftmals im Rahmen einer
mehrmonatigen stationären Behandlung. Aus der klinischen Praxis werde
zurückgemeldet, dass die ambulante Gabe von Depotneuroleptika nur bei Gegenwehr
herausfordernd sei. Unter fest definierten und kontrollierten Rahmenbedingungen
könne die ambulante Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen aus
fachwissenschaftlicher Sicht mit den Grundsätzen moderner Psychiatrie vereinbar
gestaltet werden.
51
5. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, die Hessische Landesregierung,
die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und die Regierung des Saarlandes
legen Fallzahlen aus der jüngeren Vergangenheit insbesondere zu der Anzahl
gestellter Anträge auf Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen und zu der Anzahl
betreuungsgerichtlicher Genehmigungen und Ablehnungen solcher Anträge in diesen
Ländern vor.
52
6. Die Bundesärztekammer führt aus, die zwangsweise Verabreichung von
Medikamenten erfordere zum Teil, aber nicht stets begleitende Zwangsmaßnahmen,
die nur unter den besonderen Bedingungen einer stationären Behandlung
durchführbar seien. Unter bestimmten, klar zu definierenden Voraussetzungen
insbesondere in Bezug auf Qualifikation, Anwesenheit und nachträgliche
Verfügbarkeit geeigneten Personals komme eine Zwangsmedikation in einigen Fällen
aber auch außerhalb einer stationären Behandlung in Betracht.
53
7. Der GKV-Spitzenverband legt dar, die psychiatrische Behandlung im häuslichen
Umfeld durch mobile ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams im
Sinne einer stationsäquivalenten Behandlung nach § 39 Abs. 1 SGB V stelle hohe
organisatorische Anforderungen an die Leistungserbringung und bleibe
hinsichtlich Intensität und Multiprofessionalität weit hinter einer
vollstationären Krankenhausbehandlung zurück. Das Angebot stationsäquivalenter
psychiatrischer Behandlungen sei in den Jahren 2018 bis 2020 kontinuierlich
ausgebaut worden; eine Umsetzung sei indes eher für größere psychiatrische
Versorger realisierbar. Im Ergebnis biete lediglich jedes zehnte Krankenhaus
stationsäquivalente psychiatrische Behandlungen für Erwachsene an. Die
durchschnittliche Vergütung stationsäquivalenter psychiatrischer
Behandlungsleistungen für Erwachsene habe im Jahr 2022 etwa 247 Euro pro Tag
betragen und habe damit deutlich unter den Kosten einer vollstationären
Krankenhausbehandlung in Höhe von etwa 336 Euro pro Tag gelegen.
54
8. Der Betreuungsgerichtstag befürchtet, eine Ausweitung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen auf Orte außerhalb eines geeigneten stationären Krankenhauses
werde die Schwelle für ärztliche Zwangsmaßnahmen absenken. Bereits nach derzeit
geltendem Recht prüften die Gerichte die einzelnen Tatbestandsmerkmale des §
1832 Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB n.F. zum Teil unzureichend und
begründeten die Genehmigung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme häufig nur unter
Wiedergabe des Gesetzeswortlauts, ohne hinreichende tatsächliche Feststellungen
zu treffen. Um sicherzustellen, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen nur als ultima
ratio durchgeführt würden, spreche daher vieles für eine Beibehaltung der
Anforderung einer stationären Behandlung in einem geeigneten Krankenhaus.
55
9. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
problematisiert die Gefahr, dass die Ausweitung von Zwangsmaßnahmen auf Orte
außerhalb eines Krankenhauses zu einer weniger sorgfältigen Prüfung der
Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen führen könne. Oberstes Ziel sei es,
jede Form von Zwang zu vermeiden. Zwangsbehandlungen in der Wohnung als letztem
sicherem Rückzugsort seien dringend zu vermeiden. Allerdings führe auch die
zwangsweise Verbringung in ein Krankenhaus zu schweren Folgen für Betreute,
insbesondere zu Vertrauensverlust, Angst, Hilflosigkeit und Gegengewalt.
56
10. Die BAG Selbsthilfe nimmt an, die Beschränkung der Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen auf den stationären Bereich von Krankenhäusern sei in
Einzelfällen eine gewisse Barriere vor der Anwendung von Zwangsmaßnahmen.
Entfiele diese, sei eine kräftige Zunahme von Zwangsbehandlungen zu erwarten.
Zwang müsse aber in allen Bereichen der psychiatrischen Versorgung vermieden
oder auf das unvermeidbare Minimum reduziert werden. Die Durchführung einer
Zwangsmedikation sei oftmals mit erheblicher Gewaltanwendung verbunden, die zu
Traumatisierungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen könne.
57
11. Der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen kann sich im Ergebnis eine sehr
eng begrenzte Ausnahme von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vorstellen, wenn
diese im Interesse der verstärkten Vermeidung von Zwangsbehandlungen mit einer
Veränderung der Rahmenbedingungen kombiniert werde. Zwar sei zu befürchten, dass
die Hemmschwelle für die Beantragung und Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen
durch die Einführung einer Ausnahmeregelung sinke, weil eine in der gewohnten
Umgebung des Betroffenen durchgeführte Behandlung als weniger erheblicher
Eingriff betrachtet werde als ein gewaltsam erzwungener Ortswechsel. Der
Mehrzahl der ehrenamtlichen Betreuer und teilweise den Berufsbetreuern fehlten
die notwendigen Fachkenntnisse, um Behandlungswünsche von Ärztinnen und Ärzten,
Einrichtungen und Angehörigen wirksam zu kontrollieren. Gleichwohl dürften
Betreute nicht erheblichen, an sich vermeidbaren gesundheitlichen Schäden
ausgesetzt werden, um im Interesse der Allgemeinheit die Rahmenbedingungen für
eine Behandlung gegen den natürlichen Willen möglichst abschreckend zu
gestalten. Allerdings müsse in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden, ob
die notwendige medizinische Hilfe für Verletzungen durch eventuell notwendige
Gewaltanwendung, für Komplikationen und für Nebenwirkungen vor Ort vorgehalten
werde, ob die Nachbehandlung sichergestellt sei und ob die Behandlung in der
eigenen Wohneinrichtung mit einem Vertrauensverlust verbunden sei, der letztlich
zu einer stärkeren Belastung führe als die Zuführung in ein Krankenhaus.
Grundsätzlich bedürfe es eines Richtungswechsels im Umgang mit Zwang.
Zwangsbehandlungen müssten verstärkt vermieden werden.
58
12. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie spricht sich gegen eine Ausweitung
unfreiwilliger Behandlungsmaßnahmen in den ambulanten Bereich aus. Nur
Krankenhauseinrichtungen verfügten regelhaft über alle Voraussetzungen für die
zwangsweise Verabreichung von Medikamenten. Auch stelle die Notwendigkeit einer
Krankenhauseinweisung eine gewisse Hürde dar, die dazu beitrage, die
Erforderlichkeit einer Medikation zu prüfen. Die Zulassung einer vergleichsweise
weniger aufwendigen und preiswerteren ambulanten Zwangsmedikation von Menschen
mit psychotischen Erkrankungen mit Neuroleptika erzeuge demgegenüber hohen
Druck, dieses Mittel möglichst häufig einzusetzen. Eine Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen im unmittelbaren Lebensumfeld hebe ferner den Schutz einer
gesicherten Privatsphäre auf.
59
13. Die DGPPN erklärt, die von Zwangsbehandlungen Betroffenen litten vorwiegend
an psychotischen Störungen. Verabreicht würden nicht nur Psychopharmaka, sondern
auch Medikamente zur Behandlung körperlicher Erkrankungen. Zweifelsohne könne
eine ambulante Durchführung in bestimmten Situationen weniger belastend sein als
eine stationäre. Eine Prognose, wie sich eine Genehmigungsfähigkeit ambulanter
Zwangsbehandlungen auf die Anzahl ärztlicher Zwangsmaßnahmen auswirke, sei sehr
schwierig. Zu erwarten sei, dass ein Dunkelfeld aufgehellt werde, wodurch die
offiziellen, aber nicht unbedingt die tatsächlichen Fallzahlen anstiegen.
Möglich sei ferner eine lediglich örtliche Verlagerung der Zwangsbehandlungen.
Allerdings sei die zwangsweise ambulante Behandlung für Pflegeeinrichtungen
nicht unbedingt einfacher als eine Überweisung in ein Krankenhaus. Ob
Zwangsbehandlungen stationär in einem Krankenhaus oder ambulant stattfänden,
hänge daher entscheidend von der künftigen Finanzierung durch die
KrankeKrankenkassen ab.
60
14. Die DGSP führt aus, die Verbringung in ein Krankenhaus und der Aufenthalt
dort zur Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme seien schwerwiegende
Eingriffe in die Grundrechte der Betreuten. Im Vergleich zur „ambulanten
Anwendung von Zwangsmaßnahmen“ handele es sich allerdings um einen weniger
gravierenden Eingriff. Sie verweist auf die schädlichen körperlichen und
psychischen Folgen von Zwangsbehandlungen im Allgemeinen und betont, Ziel des
Handelns müsse eine gewaltfreie Psychiatrie sein.
61
15. Nach den Ausführungen der DGVT BV legten aktuelle empirische Erkenntnisse
nahe, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen vor allem Menschen mit Psychosen und
dementiellen Erkrankungen beträfen, insbesondere in Form von Zwangsmedikationen.
Die ambulante Durchführung von Zwangsmedikationen sei grundsätzlich denkbar,
weil sie in vertrautem Umfeld durch vertraute Bezugspersonen erfolge. Allerdings
berge sie die Gefahr, das Vertrauen zu Bezugspersonen zu zerstören und die
eigene Wohnung zu einem Angstraum zu machen. Erforderlich sei daher zunächst
eine Verbesserung der ambulanten Versorgungssituation, wobei die subjektive
Wahrnehmung ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch Betroffene eng mit einer geeigneten
personellen Betreuung, dem Umfang von Informationen und der Einbindung in den
Entscheidungsprozess zusammenzuhängen scheine.
62
16. Laut Deutschem Richterbund zeigten Praxiserfahrungen, dass es in den weit
überwiegenden Fällen einer Genehmigung gemäß § 1906a Abs. 2 BGB a.F. um die
zwangsweise Verabreichung von Medikamenten an psychisch Erkrankte gehe.
Ärztliche Zwangsmaßnahmen fänden regelmäßig im Rahmen einer
freiheitsentziehenden Unterbringung statt. Eine Verbringung zur Zwangsbehandlung
nach § 1832 Abs. 4 BGB n.F. sei eine seltene Ausnahme. Bei einer Ausweitung der
Zwangsbehandlungen auf Fälle außerhalb eines Krankenhauses werde es
wahrscheinlich nicht zu einer Zunahme der Fallzahlen oder einer weniger
sorgfältigen Prüfung kommen. Im Gegenteil ließen sich im ambulanten oder
teilstationären Bereich vielleicht eher Möglichkeiten finden, eine
Zwangsbehandlung zu verhindern.
IV.
63
In der mündlichen Verhandlung am 16. Juli 2024 hat die Bundesregierung von der
Gelegenheit zur Äußerung, die sämtlichen Äußerungsberechtigten und Beteiligten
des Ausgangsverfahrens eingeräumt worden war, Gebrauch gemacht. Als sachkundige
Dritte im Sinne des § 27a BVerfGG haben der Bundesgerichtshof, der
Betreuungsgerichtstag, die BAG Selbsthilfe, die Bundesärztekammer, der
Bundesverband der Berufsbetreuer*innen, der Dachverband Gemeindepsychiatrie, die
DGPPN, die DGVT BV und der Deutsche Richterbund Stellung genommen.
B.
64
Die Vorlage des Bundesgerichtshofs ist zulässig.
I.
65
Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen
und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein
Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für
verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende
Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der
Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die
Vorschrift nach seiner Auffassung unvereinbar ist.
66
1. Statthafter Gegenstand einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein
formelles nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündetes Gesetz im Sinne einer
Rechtsnorm oder eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals einer solchen Norm
(vgl. BVerfGE 8, 274 <294 f.>; 17, 155 <163>; 97, 117 <122 f.>; 114, 303 <310>
m.w.N.). Schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen, also völlige Untätigkeit des
Gesetzgebers, kann nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein. Eine
Vorlage ist aber jedenfalls dann statthaft, wenn der Gesetzgeber auf einem
Rechtsgebiet bereits tätig geworden ist und ein Gericht die geschaffenen
Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen für unzureichend hält (vgl.
BVerfGE 142, 313 <331 f. Rn. 54 f.>; 159, 183 <204 Rn. 51> –
Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen).
67
2. Die Begründung muss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass und
weshalb das vorlegende Gericht im Fall der Gültigkeit der für verfassungswidrig
gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Fall ihrer
Ungültigkeit (vgl. BVerfGE 153, 310 <333 Rn. 55> m.w.N. – Knorpelfleisch; 161,
163 <245 Rn. 216> – Erziehungsaufwand im Beitragsrecht der Sozialversicherung;
167, 163 <188 Rn. 53> – Contergan II; stRspr). Für die Beurteilung der
Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist grundsätzlich die
Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht
offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 133, 1 <11 Rn. 35>; 138, 136 <171 Rn.
92>; 159, 149 <171 Rn. 58> – Solidaritätszuschlag auf
Körperschaftsteuerguthaben; 167, 163 <188 Rn. 53> jeweils m.w.N.).
68
Das vorlegende Gericht muss den Sachverhalt darstellen, sich mit der
fachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine insoweit einschlägige
Rechtsprechung darlegen und die in der Rechtsprechung und Literatur entwickelten
Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten
Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 159, 183 <205 Rn. 54>; 161,
163 <245 Rn. 216>). Es ist jedoch nicht verpflichtet, auf jede denkbare
Rechtsauffassung einzugehen (vgl. BVerfGE 159, 183 <205 Rn. 54>). Ferner muss
das vorlegende Gericht unter Ausschöpfung der ihm verfügbaren prozessualen
Mittel den Sachverhalt so weit aufklären, dass die Entscheidungserheblichkeit
der Gültigkeit der vorgelegten Rechtsvorschrift für das Ausgangsverfahren
feststeht (vgl. BVerfGE 64, 251 <254>; 79, 256 <265>; 142, 313 <333 f. Rn. 59>).
Ist es nicht in der Lage, die gebotenen Ermittlungen selbst durchzuführen, etwa,
weil es nur mit der Prüfung von Rechtsverletzungen befasst ist und die Sache zur
weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst an den Tatrichter zurückverweisen
müsste, steht dies der Zulässigkeit der Vorlage vor Aufklärung aller
tatsächlichen Umstände nicht entgegen (vgl. BVerfGE 58, 300 <327>; 142, 313 <333
Rn. 59>).
69
Ist die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm
vermisste Ausgestaltung nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine
konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten, reicht für die
Entscheidungserheblichkeit aus, dass die im Fall eines Verstoßes gegen das
Grundgesetz zu erwartende Erklärung der Norm als verfassungswidrig für den
Betroffenen die Chance offenhält, eine die vermisste Ausgestaltung einbeziehende
Regelung durch den Gesetzgeber zu erreichen (vgl. BVerfGE 142, 313 <332 Rn. 55>
m.w.N.). Dass lediglich die Feststellung der Unvereinbarkeit der Normen mit dem
Grundgesetz und für einen gewissen Zeitraum möglicherweise auch die Anordnung
ihrer vorübergehenden weiteren Anwendbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht
zu erwarten sind, steht der Entscheidungserheblichkeit nicht entgegen (vgl.
BVerfGE 148, 147 <178 Rn. 79> m.w.N.; 161, 163 <246 Rn. 217>).
70
Die Entscheidungserheblichkeit muss im Zeitpunkt der Entscheidung durch das
Bundesverfassungsgericht grundsätzlich noch gegeben sein (vgl. BVerfGE 149, 1
<10 f. Rn. 21> m.w.N.). Dass die beanstandete Rechtsvorschrift zwischenzeitlich
außer Kraft getreten ist, steht der Zulässigkeit der Vorlage aber jedenfalls
dann nicht entgegen, wenn sie weiterhin entscheidungserheblich für das
Ausgangsverfahren ist (vgl. BVerfGE 47, 46 <64>; 123, 1 <14>). Dies ist
insbesondere bei einer fachrechtlich vorgesehenen nachträglichen
Feststellungsklage (Fortsetzungsfeststellungsklage) der Fall. Das Gleiche gilt
im Fall der Erledigung der Hauptsache während eines laufenden Verfahrens;
erfolgt eine Klageänderung in eine Feststellungsklage, kommt es auf die
gesetzliche Regelung im Zeitpunkt der Erledigung an (vgl. BVerfGE 106, 275
<297>; 141, 143 <163 Rn. 43>).
71
3. Das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung
gestellten Norm überzeugt sein und die für seine Überzeugung maßgeblichen
Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Der Vorlagebeschluss muss hierzu den
verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben und sich mit der Rechtslage
auseinandersetzen, insbesondere auch mit der maßgeblichen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 138, 1 <13 f. Rn. 37> m.w.N.; 167, 163
<188 Rn. 54>). Insbesondere kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern,
die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung
maßgebend genannt worden sind (vgl. BVerfGE 86, 71 <78> m.w.N.).
72
4. Zudem muss das vorlegende Gericht die Möglichkeit einer verfassungskonformen
Auslegung erörtern (vgl. BVerfGE 85, 329 <333 f.>; 86, 71 <77>; 124, 251 <262>)
und vertretbar begründen, dass es diese nicht für möglich hält (vgl. BVerfGE
121, 108 <117> m.w.N.; 167, 163 <188 Rn. 55>).
II.
73
Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss.
74
1. Statthafter Gegenstand der Vorlage ist mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal eines formellen nach Inkrafttreten
des Grundgesetzes verkündeten Gesetzes. Zwar bezieht sich der Wortlaut der
Vorlagefrage lediglich auf eine Voraussetzung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F., nämlich die Vorgabe der Durchführung der Zwangsmaßnahme in einem
Krankenhaus. Diese Voraussetzung ist mit der in § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. unmittelbar anschließenden Konkretisierung „in dem die gebotene
medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen
Nachbehandlung sichergestellt ist“ indes insoweit untrennbar verbunden, als die
Konkretisierung nicht isoliert bestehen bleiben kann. Auch die Voraussetzung „im
Rahmen eines stationären Aufenthalts“ in § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
ist nach verständiger Auslegung des Vorlagebeschlusses Gegenstand der Vorlage.
Denn die Vorlagefrage betrifft die Vereinbarkeit einer Regelung mit dem
Grundgesetz, die „durch die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung
der ärztlichen Zwangsmaßnahme“ hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigungen in
Kauf nimmt. Eine solche Verbringung könnte auch dann notwendig werden, wenn die
Voraussetzung „im Rahmen eines stationären Aufenthalts“ isoliert bestehen
bliebe, insbesondere wenn die Wohneinrichtung der Betroffenen des
Ausgangsverfahrens die Anforderungen an einen stationären Aufenthalt nicht
erfüllte.
75
Schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen ist nicht Gegenstand der Vorlage.
Vielmehr ist der Gesetzgeber auf dem Rechtsgebiet ärztlicher Zwangsmaßnahmen
gegenüber Betreuten mit dem Erlass von § 1906a BGB a.F. bereits tätig geworden,
das vorlegende Gericht hält die geschaffene Vorschrift in Anwendungsfällen wie
jenem, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, für mit der aus Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar.
76
2. Das vorlegende Gericht hat die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten
Rechtsfrage hinreichend dargelegt. Es hat ausreichend erörtert, dass und weshalb
die im Ausgangsverfahren eingelegte Rechtsbeschwerde bei Gültigkeit des § 1906a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. zurückzuweisen sei, während sie bei Ungültigkeit
der Rechtsvorschrift Erfolg haben könne.
77
a) Das vorlegende Gericht hat seiner Vorlageentscheidung die Rechtsauffassung
zugrunde gelegt, der mit der Rechtsbeschwerde entsprechend § 62 Abs. 1, Abs. 2
Nr. 2 FamFG verfolgte Antrag auf Feststellung, dass die Entscheidungen des
Gerichts des ersten Rechtszugs und des Beschwerdegerichts die Betroffene in
ihren Rechten verletzt hätten, sei nicht bereits unabhängig von der Gültigkeit
des 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. in jedem Fall zurückzuweisen. Dies ist
jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar. Die Gültigkeit des § 1906a Abs. 1
Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung
nur dann erheblich, wenn die Voraussetzung des § 62 Abs. 1 FamFG für den
verfolgten Feststellungsantrag, nach der sich „die angefochtene Entscheidung in
der Hauptsache erledigt“ haben muss, erfüllt ist; andernfalls wäre die
Rechtsbeschwerde unabhängig von der Gültigkeit der beanstandeten Regelung
bereits wegen des Nichtvorliegens der Erledigung der Hauptsache zurückzuweisen.
An der Erledigung der angefochtenen Entscheidung im Sinne des § 62 Abs. 1 FamFG
bestehen indes keine durchgreifenden Zweifel. Zwar erscheint nicht von
vornherein ausgeschlossen, dass mit dem im Ausgangsverfahren ursprünglich
gestellten Hauptantrag (siehe dazu bereits Rn. 20f.) ein grundsätzliches
Feststellungsinteresse an der Genehmigungsfähigkeit einer stationsäquivalenten
Zwangsbehandlung im Wohnverbund der Betroffenen verfolgt worden sein könnte, das
sich nicht auf das an die Wirksamkeit des Beschlusses des Gerichts des ersten
Rechtszugs unmittelbar anschließende Zeitintervall von sechs Wochen beschränkt.
Indes greifen diese Zweifel nicht durch. Für eine Bezogenheit des Hauptantrags
auf das unmittelbar bevorstehende Behandlungsintervall und damit die vom
vorlegenden Gericht angenommene Erledigung der Hauptsache mit Ablauf des 1.
November 2022 spricht insbesondere eine Auslegung der Anträge im Lichte des §
329 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 312 Nr. 3, § 324 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr.
3 FamFG, der bestimmt, dass die Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten darf.
78
b) Kein Darlegungsmangel folgt ferner daraus, dass die
Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeit des 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
für das Ausgangsverfahren nicht abschließend feststeht. Das Vorlagegericht legt
zwar dar, im Fall einer Ungültigkeit der vorgelegten Rechtsvorschrift sei die
Sache gegebenenfalls zur weiteren Sachaufklärung im Hinblick auf im
Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellende Tatsachen nach § 74 Abs. 6 Satz 2
FamFG zurückzuverweisen. Bei der weiteren Sachaufklärung könne sich
herausstellen, dass es für das Ergebnis des Ausgangsverfahrens nicht auf die
Verfassungsmäßigkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ankomme. Als mit
der Rechtsbeschwerde (§§ 70 ff. FamFG) angerufenes Gericht ist das vorlegende
Gericht indes nur mit der Prüfung von Rechtsverletzungen befasst und nicht in
der Lage, die gebotenen Ermittlungen selbst durchzuführen (vgl. § 72 Abs. 1, §
74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO), so dass die Notwendigkeit einer weiteren
Sachverhaltsaufklärung der Zulässigkeit der Vorlage nicht entgegensteht (vgl.
BVerfGE 142, 313 <333 f. Rn. 59>).
79
c) Daraus, dass das Vorlagegericht nicht näher erläutert, weshalb eine
Ungültigkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. den Erfolg der
Rechtsbeschwerde der Betroffenen im Ausgangsverfahren zur Folge haben könne,
folgt ebenfalls kein Darlegungsmangel. Denn käme das Bundesverfassungsgericht zu
der Überzeugung, dass die Rechtsvorschrift mit dem Grundgesetz unvereinbar ist,
hielte dies für die Betroffene ersichtlich jedenfalls die Chance offen, den
Erfolg der Rechtsbeschwerde zu erreichen.
80
d) Das vorlegende Gericht hat ausreichend begründet, dass die vorgelegte
Rechtsvorschrift des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. trotz ihres
Außerkrafttretens mit Ablauf des 31. Dezember 2022 weiterhin
entscheidungserheblich für das Ausgangsverfahren ist. Es hat nachvollziehbar
ausgeführt, für die Feststellung einer Rechtsverletzung im Sinne des § 62 Abs. 1
FamFG sei die Rechtslage im Jahr 2022 maßgeblich.
81
3. Das Vorlagegericht hat seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. hinreichend dargelegt. Es hat unter
Auseinandersetzung mit der Rechtslage und der maßgeblichen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nachvollziehbar ausgeführt, die „strikte Koppelung“
der Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen an deren Durchführung in einem
Krankenhaus sei in Fällen wie dem vorliegenden mit der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar, weil Betroffene den Schutz
einer ärztlichen Zwangsmaßnahme nur unter Hinnahme von für die Erreichung des
Schutzziels nicht erforderlichen gesundheitlichen Belastungen erhielten. Dabei
hat es insbesondere die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische
Entscheidung maßgebend genannten Gründe erörtert, ärztliche Zwangsmaßnahmen
außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus auszuschließen, und
alle Gründe als nicht vertretbar eingeordnet. Dass die Darlegung des vorlegenden
Gerichts an den Prüfungsmaßstab der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden
Schutzpflicht anknüpft, wäre selbst dann unschädlich, wenn die
Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Norm ausschließlich nach der
abwehrrechtlichen Dimension des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beurteilen wäre. Denn
im Zentrum der Begründung des Vorlagegerichts steht ein Verstoß der
beanstandeten Rechtsnorm gegen das Gebot schonender Mittelauswahl. Die
Begründung bezieht sich folglich in der Sache hinreichend auch auf den Maßstab
der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der abwehrrechtlichen Dimension des
vorgenannten Grundrechts.
82
4. Das vorlegende Gericht hat auch die Unmöglichkeit einer verfassungskonformen
Auslegung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vertretbar begründet. Es hat
ausreichend dargelegt, eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass eine
Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung der Betroffenen genehmigungsfähig sei,
widerspräche dem Wortlaut der Vorschrift und dem klar erkennbaren Willen des
Gesetzgebers.
III.
83
Nach dem maßgeblichen Maßstab (1) bedarf die Vorlagefrage, die lediglich einen
Teil der Anwendungsfälle der vorgelegten Rechtsvorschrift betrifft (2), mit
Rücksicht auf die Befriedungsfunktion des konkreten Normenkontrollverfahrens der
Erweiterung (3).
84
1. Das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der konkreten Normenkontrolle
nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG eine Regelung grundsätzlich nur insoweit
am Maßstab des Grundgesetzes, als es für die im zugrunde liegenden
Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf ihre Gültigkeit ankommt (vgl.
BVerfGE 117, 272 <291 f.>; 122, 151 <180>; 126, 369 <387>; 145, 106 <140 Rn.
95>). Mit Rücksicht auf die Befriedungsfunktion des Normenkontrollverfahrens
kann es die Vorlagefrage indes insbesondere um weitere Anwendungsfälle der
vorgelegten Rechtsvorschrift erweitern (vgl. BVerfGE 132, 302 <316 Rn. 39>; 135,
1 <12 Rn. 33 f.>).
85
2. Die Vorlagefrage ist vorliegend mehrfach beschränkt, nämlich sowohl
hinsichtlich der Ausgangssituation der betroffenen Person als auch hinsichtlich
der Art der anstelle der stationären Form gewünschten Behandlung. Die
Vorlagefrage ist zunächst auf den Personenkreis freiheitsentziehend
untergebrachter Betreuter bezogen, die aus medizinischer Sicht gleichermaßen in
Form der stationsäquivalenten Behandlung im Sinne des § 39 Abs. 1 Sätze 4 und 5
SGB V in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in der ihre gebotene
medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung
sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden könnten und die durch die Verbringung
in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme nach einer
im Zeitpunkt der Prüfung der Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. angestellten Prognose voraussichtlich in ihrer Gesundheit beeinträchtigt
werden.
86
Der Wortlaut der Vorlagefrage bezieht sich zwar auf von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen „Betroffene“, die in einer Einrichtung in nicht näher bestimmter
Weise „untergebracht“ sind. Anhaltspunkte dafür, dass das Vorlagegericht über
die für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Anwendungsfälle von auf
Grundlage des § 1906 Absätze 1 und 2 BGB a.F. freiheitsentziehend
untergebrachten Betreuten hinaus weitere Anwendungsfälle des § 1906a Abs. 1 Satz
1 Nr. 7 BGB a.F. zur Prüfung stellen wollte, ergeben sich nach verständiger
Auslegung des Vorlagebeschlusses jedoch nicht.
87
Keine Anhaltspunkte sind dem Vorlagebeschluss ferner dafür zu entnehmen, dass er
sich über den Wortlaut der Vorlagefrage hinaus, nach dem die ärztliche
Zwangsmaßnahme aus medizinischer Sicht gleichermaßen in der Einrichtung, in der
betroffene Betreute untergebracht sind und in der ihre gebotene medizinische
Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt
ist, durchgeführt werden kann, auf weitere Anwendungsfälle des § 1906a Abs. 1
Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. beziehen soll.
88
Dass die Vorlage lediglich diejenigen Fälle betrifft, in denen die
Zwangsmaßnahme in der Unterbringungseinrichtung gerade in Form einer
stationsäquivalenten Behandlung im Sinne des § 39 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB V
durchführbar ist, folgt nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorlagefrage;
dies ergibt sich indes aus der Begründung des Vorlagebeschlusses und der Fassung
des im Ausgangsverfahren ursprünglich gestellten Hauptantrags, die beide auf
diese Durchführungsform abstellen.
89
Soweit der Wortlaut der Vorlagefrage solche Anwendungsfälle anspricht, in denen
Betreute durch die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der
ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden, ist dies
mit Blick auf die Begründung des Vorlagebeschlusses, der ersichtlich die
Perspektive des Betreuungsgerichts und des Beschwerdegerichts des
Ausgangsverfahrens im Zeitpunkt des Ergehens ihrer Beschlüsse zugrunde liegt,
als Ergebnis einer im Zeitpunkt der Prüfung der Voraussetzungen des § 1906a Abs.
1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vorgenommenen Prognose der Beeinträchtigung der
körperlichen Unversehrtheit auszulegen.
90
3. Mit Rücksicht auf die Befriedungsfunktion des Normenkontrollverfahrens ist
die Vorlagefrage allerdings um den Personenkreis nicht freiheitsentziehend
untergebrachter Betreuter und über die stationsäquivalente Behandlung im Sinne
des § 39 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB V hinaus um sämtliche alternative
Behandlungsformen, mit denen der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret
erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung
voraussichtlich nahezu erreicht wird, zu erweitern. Die Vorlage ist ferner um
sämtliche Anwendungsfälle zu erweitern, in denen die voraussichtliche
Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit nicht aus der Verbringung
Betreuter in ein Krankenhaus im Sinne des § 1906a Abs. 4 BGB a.F. resultiert,
sondern aus der Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines
stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus im Sinne des § 1906a Abs. 1 Satz 1
Nr. 7 BGB a.F. Die durch die Vorlage aufgeworfene Frage der Verfassungsmäßigkeit
stellt sich im Kern auch im Hinblick auf diese Anwendungsfälle der vorgelegten
Rechtsvorschrift.
IV.
91
In diesem Umfang prüft das Bundesverfassungsgericht § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. unter allen in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten, unabhängig davon, ob diese im Vorlagebeschluss angesprochen
worden sind oder nicht (vgl. BVerfGE 3, 187 <196 f.>; 141, 1 <14 f. Rn. 31>;
153, 358 <376 Rn. 39> – Versorgungsausgleich – Externe Teilung). Es ist
hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes nicht an den Vorlagebeschluss gebunden (vgl.
BVerfGE 126, 369 <388>; 133, 1 <12 Rn. 41>; 141, 1 <15 Rn. 31>).
C.
92
§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
unvereinbar, soweit Betreuten im Einzelfall nach einer Betrachtung ex ante
aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines
stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger
Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei
einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind
und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche
medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu
erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können,
ohne dass andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer
anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
93
Die formell verfassungsmäßige (I) Rechtsvorschrift greift in den Schutzbereich
des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ein (II). Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche
Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus
durchzuführen, ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt (III).
I.
94
§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist formell verfassungsgemäß.
95
1. Die Befugnis des Bundes zum Erlass des vorgelegten Gesetzes ergibt sich aus
Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG für das bürgerliche Recht. Hierunter fallen alle Normen,
die herkömmlicherweise dem Zivilrecht zugerechnet werden. Wesentlich ist, ob
Rechtsverhältnisse zwischen Privaten und die sich daraus ergebenden Rechte und
Pflichten geregelt werden (vgl. BVerfGE 142, 268 <282 Rn. 54>; 157, 223 <264 f.
Rn. 110 f.> – Berliner Mietendeckel jeweils m.w.N.). Danach unterfällt § 1906a
BGB a.F. dem bürgerlichen Recht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Die in
Buch 4 (Familienrecht) Abschnitt 3 (Vormundschaft, Rechtliche Betreuung,
Pflegschaft) des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingegliederte Vorschrift ist Teil des
Betreuungsrechts, das zu den traditionellen Materien des Zivilrechts zählt (vgl.
Oeter/Münkler, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2024, Art. 74 Rn. 10; Rengeling,
in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 135 Rn. 196). Schwerpunkt der
Regelung ist das Verhältnis zwischen Privaten, nämlich zwischen Betreuten und
Betreuern.
96
2. Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist gewahrt.
97
a) Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, dass ein Gesetz ein Grundrecht unter
Angabe des Artikels nennt, das durch dieses Gesetz eingeschränkt wird oder
aufgrund dieses Gesetzes eingeschränkt werden kann (vgl. BVerfGE 64, 72 <79>;
130, 151 <204>). Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die
aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts
über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden
können. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige
grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm
obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen
oder Schrankenziehungen vornimmt, auf die das Zitiergebot keine Anwendung findet
(vgl. BVerfGE 64, 72 <79 f.>; 162, 378 <417 Rn. 92> – Impfnachweis <Masern>).
Das Zitiergebot erfüllt eine Warn- und Besinnungsfunktion; es soll
sicherstellen, dass der Gesetzgeber nur Grundrechtseingriffe vornimmt, die ihm
als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen
Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt (vgl. BVerfGE 120, 274 <343>; 129, 208
<236 f.>; 154, 152 <237 Rn. 135> – BND – Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung).
Keiner Nennung bedürfen vor diesem Hintergrund jedenfalls Grundrechte, die nicht
zielgerichtet mittelbar eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 28, 36 <46>; 28, 55
<62>). Denn eine Erstreckung des Zitiergebots auf solche Einschränkungen führte
regelmäßig zur vorsorglichen Nennung einer Vielzahl etwaig berührter Grundrechte
und entwertete damit die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots.
98
b) Danach reicht es zur Wahrung des Zitiergebots aus, dass die mit dem
spezifischen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG versehenen
Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG) und
Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) in Art. 6 des Gesetzes zur
Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom
17. Juli 2017 als durch § 1906a BGB a.F. eingeschränkt benannt werden (vgl. BGBl
I S. 2426 <2428>). Insbesondere war daneben keine Nennung des Rechts auf Leben
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 GG geboten. Denn etwaige Einschränkungen des
Rechts auf Leben durch § 1906a BGB a.F. in Einzelfällen erfolgten jedenfalls
nicht zielgerichtet und mittelbar und wären damit nicht vom Zitiergebot umfasst.
II.
99
Ausgehend von den verfassungsrechtlichen Maßstäben im Hinblick auf den
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG (1) und im Hinblick auf
Eingriffe in diesen Schutzbereich (2), die auch in Gestalt staatlicher Maßnahmen
in Umsetzung einer Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in
Betracht kommen (3), berührt § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. den
Schutzbereich des Grundrechts nicht einwilligungsfähiger Betreuter auf
körperliche Unversehrtheit (4) und kommt nach Zielsetzung und Wirkung einem
Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts in seiner abwehrrechtlichen
Dimension jedenfalls als funktionales Äquivalent gleich (5).
100
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG schützt die körperliche Integrität der
Grundrechtsberechtigten und das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht (vgl.
BVerfGE 158, 131 <153 Rn. 56> – Patientenverfügung im Maßregelvollzug; 161, 299
<345 Rn. 111> – Impfnachweis <COVID-19>; 162, 378 <409 Rn. 69, 412 Rn. 78, 437
Rn. 137>). Inhaltlich umfasst das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte
Selbstbestimmungsrecht die Entscheidung des Grundrechtsberechtigten, ob und wie
in seine körperliche Integrität eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 f.
Rn. 74 ff.>; 153, 182 <261 Rn. 208, 264 f. Rn. 212 f.> – Suizidhilfe). Dieses
Selbstbestimmungsrecht gewährleistet einsichts- und urteilsfähigen
Grundrechtsberechtigten (nachfolgend: Einwilligungsfähige) im Grundsatz das
Recht, mit freiem Willen über Eingriffe in ihre körperliche Integrität zu
entscheiden, ohne ihre Entscheidungen am Maßstab objektiver Vernünftigkeit
ausrichten zu müssen (vgl. BVerfGE 161, 299 <345 Rn. 111>; 162, 378 <437 Rn.
137, 440 f. Rn. 144>). Geschützt ist grundsätzlich auch die Selbstbestimmung
nicht einsichtsfähiger, nicht urteilsfähiger sowie nicht einsichts- und nicht
urteilsfähiger Grundrechtsberechtigter mit natürlichem Willen in Bezug auf ihre
körperliche Integrität (vgl. BVerfGE 128, 282 <300>; 158, 131 <152 f. Rn. 56>;
162, 378 <409 Rn. 69, 437 Rn. 137, 440 f. Rn. 144>). Der Schutz des
Selbstbestimmungsrechts nicht einwilligungsfähiger Betreuter ist indes weniger
intensiv ausgeprägt als der Schutz des Selbstbestimmungsrechts
einwilligungsfähiger Betreuter (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 75 ff., 343 Rn.
83>; 158, 131 <155 f. Rn. 64, 158 ff. Rn. 69 ff.>; 162, 378 <441 Rn. 144>).
101
2. Der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ist nicht auf rechtsförmige
unmittelbare gezielte (finale) Eingriffe beschränkt, die durch ein vom Staat
verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot,
also imperativ, erfolgen (vgl. BVerfGE 105, 279 <300>; 161, 299 <345 Rn. 113>;
162, 378 <409 f. Rn. 72, 413 f. Rn. 80 f.>). Auch staatliche Maßnahmen, die
diese Voraussetzungen nicht erfüllen, einem solchen Eingriff aber in ihrer
Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent gleichkommen, müssen wie ein
Eingriff behandelt werden (vgl. BVerfGE 161, 299 <345 Rn. 113>; 162, 378 <409 f.
Rn. 72, 413 f. Rn. 80 f.>). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Staat
eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit rechtsförmig und gezielt,
aber mittelbar unter Einbindung eines privaten Dritten herbeiführt (vgl. BVerfGE
10, 302 <327>; 161, 299 <346 Rn. 114>). Weiterhin kann dies bereits dann der
Fall sein, wenn der Staat rechtsförmig etwa durch die Erteilung einer
Genehmigung die Mitverantwortung für eine von einem Verhalten privater Dritter
ausgehende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit übernimmt (vgl.
BVerfGE 51, 324 <346, 348 f.>; 53, 30 <58>; 66, 39 <59>). Eine mittelbar durch
eine staatliche Maßnahme eintretende Beeinträchtigung der körperlichen
Unversehrtheit, die ein bloßer Reflex der nicht entsprechend ausgerichteten
Regelung ist, kommt einem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG hingegen
nicht als funktionales Äquivalent gleich (vgl. BVerfGE 161, 299 <346 Rn. 114>;
162, 378 <410 Rn. 72>).
102
Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG setzt keine schädigende
Zielrichtung voraus. Dem Eingriffscharakter einer Beeinträchtigung der
körperlichen Unversehrtheit steht folglich nicht entgegen, dass diese zum Zweck
der Heilung erfolgt (vgl. BVerfGE 128, 282 <300>; 142, 313 <339 f. Rn. 74>; 158,
131 <153 Rn. 57>).
103
3. Auch Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch staatliche Maßnahmen,
die der Umsetzung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber Dritten oder
gegenüber dem betroffenen Grundrechtsberechtigten selbst dienen, sind an Art. 2
Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG in seiner abwehrrechtlichen Dimension zu messen (vgl.
BVerfGE 115, 118 <160>; 142, 313 <340 f. Rn. 78, 342 f. Rn. 82>). Die Wahl der
zur Umsetzung einer Schutzpflicht des Staates ergriffenen Mittel kann nur auf
solche Maßnahmen fallen, die mit der Verfassung in Einklang stehen (vgl. BVerfGE
115, 118 <160>).
104
Eine solche Schutzpflicht folgt vorliegend aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Hiernach
hat der Staat hilfsbedürftigen Menschen, die im Hinblick auf ihre
Gesundheitssorge unter Betreuung stehen und bei einem drohenden erheblichen
gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht
erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, notfalls auch gegen
ihren natürlichen Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren (vgl.
BVerfGE 142, 313 <336 Rn. 67>; 158, 131 <155 f. Rn. 64>). Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verdichtet sich bei Betreuten, die
aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen
Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht
nach dieser Einsicht handeln können, die allgemeine Schutzpflicht unter engen
Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht, ein System der Hilfe und des
Schutzes für diese Menschen vorzusehen. Ärztliche Untersuchungs- und
Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter
Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter
vorgenommen werden dürfen (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 Rn. 71>; 158, 131 <156 Rn.
64>). Danach muss der Gesetzgeber für Fälle, in denen drohende erhebliche
Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich einer Lebensgefahr durch nicht zu
eingriffsintensive Behandlungen mit hohen Erfolgsaussichten abgewehrt werden
können, die Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme gegenüber nicht
einwilligungsfähigen Betreuten vorsehen (vgl. BVerfGE 142, 313 <341 f. Rn. 80>;
158, 131 <156 Rn. 64>). Völkerrechtliche Vorgaben, insbesondere die Europäische
Menschenrechtskonvention und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen, stehen dieser Pflicht des Staates nicht
entgegen (vgl. BVerfGE 128, 282 <306 f.>; 142, 313 <345 ff. Rn. 87 ff.>).
105
4. Auf dieser Grundlage berührt § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. den
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG in mehrfacher Weise: In
Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB a.F. berührt die
beanstandete Regelung das Selbstbestimmungsrecht nicht einwilligungsfähiger
Betreuter in Bezug auf ihre körperliche Integrität, indem die Möglichkeit
eröffnet wird, den der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme
entgegenstehenden natürlichen Willen nicht einwilligungsfähiger Betreuter durch
eine Einwilligung des Betreuers, die nach § 1906a Abs. 2 BGB a.F. in ihrer
Wirksamkeit von der Genehmigung durch das Betreuungsgericht abhängt, zu
überwinden. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird weiterhin durch die von § 1906a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 in Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB
a.F. eröffnete Möglichkeit eingeschränkt, im Wege einer Einwilligung des
Betreuers mit Genehmigung des Betreuungsgerichts einen etwaig gebildeten
natürlichen Willen nicht einwilligungsfähiger Betreuter, der einer Durchführung
der ärztlichen Zwangsmaßnahmen gerade im Rahmen eines stationären Aufenthalts in
einem Krankenhaus entgegensteht, zu überwinden. Schließlich berührt § 1906a Abs.
1 Satz 1 Nr. 7 in Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB a.F.
den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG über den Aspekt der
Selbstbestimmung hinausgehend in der Komponente der körperlichen Integrität
nicht einwilligungsfähiger Betreuter, jedenfalls soweit im Zuge der Durchführung
der ärztlichen Zwangsmaßnahmen Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität
zum Zweck der Heilung ermöglicht werden. Diese Berührungen des Schutzbereichs
des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG liegen bereits unabhängig davon vor, ob
Betroffene zusätzlich unter Überwindung ihres natürlichen Willens zur
Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in das Krankenhaus verbracht werden
(vgl. § 1906a Abs. 4 i.V.m. § 1906 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB a.F.) oder ob eine
solche Verbringung sogar unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgeführt wird
(vgl. § 326 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 312 Nr. 3 FamFG).
106
5. Die von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 in Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1
Nummern 1 bis 6 BGB a.F. ausgehenden Beeinträchtigungen der körperlichen
Unversehrtheit müssen jedenfalls wie ein Eingriff in den Schutzbereich des Art.
2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG behandelt werden.
107
Zwar überwinden die gesetzlichen Regelungen den der Durchführung einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus entgegenstehenden natürlichen Willen nicht einwilligungsfähiger
Betreuter im Einzelfall nicht unmittelbar; ebensowenig beeinträchtigen sie im
Einzelfall unmittelbar die körperliche Integrität nicht einwilligungsfähiger
Betreuter zum Zweck der Heilung. § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. kommt in
Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 und § 1906a Abs. 2 BGB a.F.
nach seiner Zielsetzung und Wirkung einem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt.
2 GG als funktionales Äquivalent indes jedenfalls gleich. Denn unmittelbar
überwunden wird der natürliche Wille eines nicht einwilligungsfähigen Betreuten
im Einzelfall durch die Einwilligung des Betreuers in die Durchführung einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.) und die Genehmigung dieser
Einwilligung durch das Betreuungsgericht (§ 1906a Abs. 2 BGB a.F.). Auf diese
Überwindung zielt der Staat mit § 1906a Absätze 1 und 2 BGB a.F. in
rechtsförmiger Weise in Umsetzung seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten ab (vgl. BTDrucks 18/11240, S.
12) und bindet den Betreuer zu diesem Zweck bewusst ein. Schließlich kommt die
beanstandete gesetzliche Regelung nach ihrer Zielsetzung und Wirkung einem
Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nicht einwilligungsfähiger Betreuter
auch deshalb gleich, weil sie rechtsförmig durch das zwingende Erfordernis einer
betreuungsgerichtlichen Genehmigung (§ 1906a Abs. 2 BGB a.F.) für jeden
Einzelfall der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme die Übernahme der
Mitverantwortung durch den Staat für mittelbar durch die
Einwilligungsentscheidung des Betreuers und die Durchführung der ärztlichen
Zwangsmaßnahme durch private Dritte herbeigeführte Beeinträchtigungen des
Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Integrität vorsieht.
III.
108
Der mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundene Eingriff in den
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ist verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt, soweit Betreuten aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche
Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus
durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit
zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese
Beeinträchtigungen in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind
und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche
medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu
erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden könnten,
ohne dass andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer
anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
Der Eingriff in das Grundrecht nicht einwilligungsfähiger Betreuter auf
körperliche Unversehrtheit erfolgt zwar „auf Grund eines Gesetzes“ im Sinne des
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG und genügt den Anforderungen des Grundsatzes des
Gesetzesvorbehalts (1). Mit der beanstandeten gesetzlichen Regelung verfolgt der
Gesetzgeber auch verfassungsrechtlich legitime Zwecke (2), zu deren Erreichung
die Regelung im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet (3) und erforderlich (4)
ist. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines
stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erweist sich im
Hinblick auf die vorbezeichneten Anwendungsfälle indes als verfassungsrechtlich
unverhältnismäßig im engeren Sinne (5).
109
1. § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist mit den Schrankenanforderungen des
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG und den Anforderungen des Grundsatzes des
Gesetzesvorbehalts vereinbar.
110
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG gestattet Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit lediglich „auf Grund eines Gesetzes“. In Bezug auf das von Art. 2
Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
begründet Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt (vgl.
BVerfGE 161, 299 <346 Rn. 115>; 162, 378 <414 Rn. 83>). Demokratieprinzip (Art.
20 Absätze 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten
aber, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. „Wesentlich“
bedeutet zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“. Eine
Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen
Leitlinien selbst zu bestimmen, kann etwa dann bestehen, wenn miteinander
konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und
nur schwer auszumachen sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der
Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung
sind (vgl. BVerfGE 161, 299 <349 Rn. 125>; 162, 378 <418 Rn. 95>).
111
Diesen Anforderungen genügt § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 in Verbindung mit §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 und § 1906a Abs. 2 BGB a.F. Dass die
gesetzliche Regelung im Einzelfall nicht unmittelbar selbst, sondern mittelbar
unter Einbindung Dritter in den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit
eingreift (siehe bereits Rn. 106), steht einer Wahrung der
Schrankenanforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG nicht entgegen (vgl. BVerfGE
159, 223 <341 Rn. 272>; 161, 299 <346 Rn. 114 f., 349 ff. Rn. 124 ff.>). Auch
hat der Gesetzgeber mit der Vorgabe des Durchführungsorts ärztlicher
Zwangsmaßnahmen in § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. selbst die für den
fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien festgelegt.
112
2. Mit der ausnahmslosen Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.,
ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus durchzuführen, verfolgt der Gesetzgeber verfassungsrechtlich
legitime Zwecke.
113
a) Durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgende Eingriffe in
Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber mit
der gesetzlichen Regelung einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt.
Ob dies der Fall ist, unterliegt der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht.
Es ist dabei nicht auf die Berücksichtigung solcher Zwecke beschränkt, die der
Gesetzgeber selbst ausdrücklich benannt hat (vgl. BVerfGE 159, 223 <298 Rn. 169>
m.w.N. – Bundesnotbremse I <Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen>; 161, 163 <269
Rn. 291>; 163, 107 <138 Rn. 85 f.> – Tierarztvorbehalt; 167, 163 <212 f. Rn.
115>). Der Normzweck ergibt sich regelmäßig aus dem objektivierten Willen des
Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 157, 223 <263 Rn. 106>; 161, 63 <93 Rn. 57> –
Windenergie-Beteiligungsgesellschaften; 167, 163 <213 Rn. 115>). Er ist mit
Hilfe der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu ermitteln, das heißt
anhand des Wortlauts der Norm, der Gesetzesmaterialien und ihrer
Entstehungsgeschichte, ihrer systematischen Stellung sowie nach Sinn und Zweck,
wobei sich diese Methoden nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen (vgl.
BVerfGE 157, 223 <263 Rn. 106>; 161, 63 <93 Rn. 57>; 167, 163 <213 Rn. 115>).
Insoweit sind insbesondere, aber nicht ausschließlich, solche Zwecke bei der
verfassungsrechtlichen Überprüfung zu berücksichtigen, die nach dem
gesetzgeberischen Willen naheliegen oder aber im verfassungsgerichtlichen
Verfahren von den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen vorgebracht
werden (vgl. BVerfGE 163, 107 <139 Rn. 87> m.w.N.; 167, 163 <213 Rn. 115>). Die
Berücksichtigung unbenannter oder erst nach Verabschiedung des Gesetzes objektiv
hinzugetretener Zwecke findet dort ihre Grenze, wo das eindeutige
gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht würde
(vgl. BVerfGE 167, 163 <213 Rn. 115>).
114
Legitim ist grundsätzlich jedes öffentliche Interesse, das verfassungsrechtlich
nicht ausgeschlossen ist. Welche Zwecke legitim sind, hängt dabei auch vom
jeweiligen Grundrecht ab, in das eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 124, 300
<331>).
115
Als legitimen Zweck eines Eingriffs in die von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
geschützte körperliche Unversehrtheit nicht einwilligungsfähiger Betreuter hat
das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz die Erfüllung einer staatlichen
Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber ebendiesen Betreuten
anerkannt (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 ff. Rn. 71 ff.>; 158, 131 <155 f. Rn.
64>). Diese Schutzpflicht gibt dem Staat auf, hilfsbedürftigen Menschen, die bei
einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit
ärztlicher Maßnahmen nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln
können, unter engen Voraussetzungen als ultima ratio auch unter Überwindung
ihres entgegenstehenden natürlichen Willens Schutz durch ärztliche Versorgung zu
gewähren (vgl. BVerfGE 142, 313 <336 Rn. 67, 338 Rn. 71, 340 f. Rn. 78>; 158,
131 <155 f. Rn. 64>). Danach muss der Gesetzgeber für Fälle, in denen drohende
erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich einer Lebensgefahr durch
nicht zu eingriffsintensive Behandlungen mit hohen Erfolgsaussichten abgewehrt
werden können, die Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme gegenüber nicht
einwilligungsfähigen Betreuten vorsehen (vgl. BVerfGE 142, 313 <341 f. Rn. 80>;
158, 131 <156 Rn. 64>). Hiermit einhergehend ist in der verfassungsgerichtlichen
Rechtsprechung als weiterer verfassungsrechtlich legitimer Zweck die strengeren
Anforderungen unterliegende Sicherung des ultima-ratio-Gebots im Hinblick auf
solche ärztlichen Zwangsmaßnahmen anerkannt (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 ff. Rn.
71 ff.>; 158, 131 <157 ff. Rn. 67 ff.>), ferner der Schutz der Betroffenen vor
von ärztlichen Zwangsmaßnahmen ausgehenden besonderen Behandlungsrisiken (vgl.
BVerfGE 142, 313 <342 Rn. 80>). Soweit die Möglichkeit einer ärztlichen
Zwangsmaßnahme unter Berücksichtigung des ultima-ratio-Gebots eröffnet ist, ist
die Sicherung einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf das zurücktretende
Grundrecht der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG als legitimer
Zweck anerkannt (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 f. Rn. 78, 342 Rn. 82>),
insbesondere die Sicherstellung einer angemessenen medizinischen Versorgung der
Betroffenen durch qualifiziertes ärztliches Personal (vgl. BVerfGE 158, 131 <157
Rn. 68> m.w.N.). Mit Blick auf den Gewährleistungsgehalt des Art. 13 Abs. 1 GG
ist der Schutz eines elementaren Lebensraums, in dem Grundrechtsberechtigte in
Ruhe gelassen werden, ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck (vgl. BVerfGE
139, 245 <265 Rn. 56>; 165, 1 <70 Rn. 130> – Polizeiliche Befugnisse nach SOG
MV).
116
b) Ausgehend davon verfolgt der Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, bei der Umsetzung seiner aus Art.
2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht namentlich die Möglichkeit einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten für
Fälle vorzusehen, in denen drohende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen
einschließlich einer Lebensgefahr durch nicht zu eingriffsintensive Behandlungen
mit hohen Erfolgsaussichten abgewehrt werden können, materielle und
verfahrensrechtliche Sicherungen zu gewährleisten. Diese ihrerseits durch
grundrechtliche Schutzpflichten unterlegten Sicherungen bestehen darin,
Betroffene in ihrem privaten Wohnumfeld vor Zwangsmaßnahmen zu schützen (aa),
die Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams
prüfen zu lassen (bb), auf Fehlanreizen beruhendes Ergreifen nicht
erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen zu verhindern (cc) und eine
angemessene fachliche Versorgung der Betroffenen sicherzustellen (dd).
117
aa) Nach der Begründung des Gesetzentwurfs dient § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. zunächst dem Zweck, Betroffene in ihrem privaten Wohnumfeld vor
Zwangsmaßnahmen zu schützen. Betroffene sollten dort vertrauensvolle
Unterstützung erhalten und sich nicht Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sehen. Dabei
sollten Heimbewohner denselben Schutz genießen wie Betroffene, die zu Hause
gepflegt werden (vgl. BTDrucks 18/11617, S. 6). Insbesondere widersprächen
ambulante ärztliche Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Bereich den Grundsätzen
einer modernen Psychiatrie, wonach Menschen mit psychischen Krankheiten gerade
in ihrem Wohn- und sonstigen persönlichen Umfeld vertrauensvolle Unterstützung
und Hilfe und nicht staatlich genehmigten Zwang benötigten (vgl. BTDrucks
18/11240, S. 15). Dieses gesetzgeberische Anliegen ist gerade legitim mit Blick
auf die Wertungen des Art. 13 Abs. 1 GG, der Einzelnen im Hinblick auf ihre
Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit einen
elementaren Lebensraum gewährleistet, in dem sie in Ruhe gelassen werden (vgl.
BVerfGE 139, 245 <265 Rn. 56>; 165, 1 <70 Rn. 130>).
118
bb) Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs soll die Vorgabe eines
stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. zudem sicherstellen, dass die gebotene sorgfältige Prüfung der
Voraussetzungen der ärztlichen Zwangsmaßnahme, insbesondere deren Notwendigkeit
und Verhältnismäßigkeit, nach Möglichkeit durch ein multiprofessionelles Team
unter Einschluss auch des Pflegepersonals durchgeführt wird (vgl. BTDrucks
18/11240, S. 15). Um ärztliche Zwangsmaßnahmen entsprechend dem
ultima-ratio-Gedanken auf das unvermeidbare Mindestmaß zu reduzieren, soll der
stationäre Aufenthalt insbesondere zeitlich so ausgestaltet werden, dass die
gebotene sorgfältige Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die
beabsichtigte ärztliche Zwangsmaßnahme durch den verantwortlichen Arzt und den
Betreuer im Rahmen dieses Aufenthalts möglich ist, was nur bei einem
vollstationären Aufenthalt der Fall sei (vgl. BTDrucks 18/11240, S. 20). Dieser
Zweck ist mit Blick auf die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG folgende
Schutzpflicht des Staates, ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht
einwilligungsfähigen Betreuten nur unter engen materiellen Voraussetzungen und
als letztes Mittel vorzusehen (vgl. BVerfGE 142, 313 <336 Rn. 67, 338 Rn. 71,
340 f. Rn. 78>; 158, 131 <155 f. Rn. 64>), legitim.
119
cc) Nach der Begründung des Gesetzentwurfs sollen durch die ausnahmslose Vorgabe
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F., ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen
eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, hinreichende
Hürden für ärztliche Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden. Bei einer Ausweitung
ärztlicher Zwangsmaßnahmen auf Heime oder sonstige Einrichtungen, wie etwa
spezialisierte ambulante Zentren, bestehe die Gefahr, dass es zu einer
deutlichen Zunahme von Zwangsbehandlungen käme und die Alternativen nicht immer
sorgfältig geprüft würden. Weiterhin sei davon auszugehen, dass ärztliche
Zwangsmaßnahmen vielfach dadurch vermieden werden könnten, dass Heimbewohner mit
Demenz, mit einer geistigen Behinderung oder mit einer psychischen Krankheit in
der Einrichtung eine vertrauensvolle Unterstützung erhielten und mit der Zeit
von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme überzeugt werden könnten.
Derartige Bemühungen würden durch die Zulassung ärztlicher Zwangsmaßnahmen in
Heimen konterkariert (vgl. BTDrucks 18/11617, S. 5 f.).
120
Aus alledem ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. das Ziel verfolgt, rechtliche Hürden zu errichten, die ein auf
Fehlanreizen – namentlich Gründen der Zeit- und Aufwandsersparnis – beruhendes
vorschnelles Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen ohne
ausreichende Prüfung weniger eingriffsintensiver Alternativen verhindern sollen
(vgl. BTDrucks 18/11240, S. 15). Mit Blick auf die Schutzpflicht des Staates aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG, nach der materiell sicherzustellen ist, dass die
Möglichkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen
Betreuten nur unter engen Voraussetzungen und als letztes Mittel besteht (vgl.
BVerfGE 142, 313 <336 Rn. 67, 338 Rn. 71, 340 f. Rn. 78>; 158, 131 <155 f. Rn.
64>), ist auch dieser Zweck verfassungsrechtlich legitim.
121
dd) Schließlich kann ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs nur bei einer
stationären Krankenhausbehandlung im Sinne des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. davon ausgegangen werden, dass die im jeweiligen Einzelfall medizinisch
oder psychologisch erforderliche Begleitung beziehungsweise Pflege des
Betroffenen vor und vor allem nach der Behandlung gesichert ist (vgl. BTDrucks
18/11240, S. 15). Das Krankenhaus müsse aufgrund seiner medizinischen
Ausstattung die institutionellen Rahmenbedingungen dafür bieten, dass die
zwangsweise Durchführung der Behandlung fachgerecht und den konkreten
Bedürfnissen des Betreuten entsprechend gewährleistet sei. Ferner müsse
sichergestellt werden, dass im Krankenhaus auch eine gegebenenfalls medizinisch
erforderliche Nachsorge durchgeführt werden könne. Hierzu gehörten auch etwaige
Maßnahmen zur therapeutischen Aufarbeitung der Zwangsbehandlung. Der Betreute
dürfe nicht unmittelbar nach Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme sich
selbst überlassen bleiben, wenn ein weiterer therapeutischer Bedarf bestehe
(vgl. BTDrucks 18/11240, S. 20).
122
Danach verfolgt der Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
ersichtlich das Ziel, eine angemessene fachliche Versorgung der von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen betroffenen Betreuten sicherzustellen. Im Hinblick auf die aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG folgende Schutzpflicht des Staates, im Fall der
Eröffnung der Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme das zurücktretende
Grundrecht der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
verfahrensrechtlich möglichst weitgehend zu sichern (vgl. BVerfGE 142, 313 <340
f. Rn. 78, 342 Rn. 82>; 158, 131 <157 f. Rn. 68> m.w.N.), ist auch dieser Zweck
verfassungsrechtlich legitim.
123
3. § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist zur Erreichung dieser legitimen
Zwecke im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet.
124
a) Für die verfassungsrechtliche Eignung einer gesetzlichen Regelung zur
Erreichung eines verfassungsrechtlich legitimen Zwecks genügt bereits die
Möglichkeit, durch die Regelung die Erreichung des Gesetzeszwecks zu fördern.
Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des
Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt
(vgl. BVerfGE 158, 282 <336 Rn. 131> m.w.N. – Vollverzinsung; 161, 63 <114 Rn.
110>; 167, 163 <217 Rn. 125>).
125
b) Danach ist § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. im verfassungsrechtlichen
Sinne geeignet zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele, Betroffene in ihrem
privaten Wohnumfeld vor Zwangsmaßnahmen zu schützen (aa), die Voraussetzungen
ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams prüfen zu lassen
(bb), auf Fehlanreizen beruhendes Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher
Zwangsmaßnahmen zu verhindern (cc) und eine angemessene fachliche Versorgung der
Betroffenen sicherzustellen (dd).
126
aa) Die Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts des § 1906a Abs. 1 Satz
1 Nr. 7 BGB a.F. ist zum Schutz des privaten Wohnumfelds Betroffener vor
Zwangsmaßnahmen geeignet. Dass im privaten Wohnumfeld insbesondere psychisch
erkrankter Menschen nicht-ärztliche Zwangsmaßnahmen weiterhin möglich sind, etwa
in Form einer Freiheitsentziehung durch mechanische Vorrichtungen wie Bettgitter
auf der Grundlage von § 1906 Abs. 4 BGB a.F. (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 82, 148
f.), steht der verfassungsrechtlichen Eignung nicht entgegen. Denn § 1906a Abs.
1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. trägt jedenfalls dazu bei, die Zahl von Zwangsmaßnahmen
im privaten Wohnumfeld der Betroffenen zu reduzieren.
127
bb) § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist auch im verfassungsrechtlichen
Sinne geeignet, die Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch
multiprofessionelle Teams prüfen zu lassen. Zwar ist der Regelung nicht die
Vorgabe zu entnehmen, dass sich Betroffene bereits während der Prüfung der
Voraussetzungen einer ärztlichen Zwangsmaßnahme durch den Betreuer im Hinblick
auf die Erteilung einer Einwilligung (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.) und durch
das Betreuungsgericht im Hinblick auf die Genehmigung der Einwilligung (§ 1906a
Abs. 2 BGB a.F.) in einem Krankenhaus aufhalten müssen. Auch das Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit enthält eine solche Vorgabe nicht. Aus den eingegangenen
Stellungnahmen ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Betroffene in
der Praxis in ein Krankenhaus mit dem Ziel aufgenommen werden, dort die
Voraussetzungen einer ärztlichen Zwangsmaßnahme zu prüfen. Zwar gibt es Fälle,
in denen eine zwangsweise ärztliche Maßnahme gegenüber einem ohnehin bereits
krankenhausstationär behandelten Patienten erst erwogen und dann nach
Ausschöpfung aller Alternativen bewilligt, genehmigt und schließlich
durchgeführt wird. In der Praxis treten aber auch Fälle auf, in denen der
Patient oder die Patientin ausschließlich zu einer zuvor bewilligten,
genehmigten und geplanten Durchführung einer ärztlichen Zwangsmedikation in ein
Krankenhaus aufgenommen wird. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche
Zwangsmaßnahmen in einem Krankenhaus durchzuführen, kann daher nicht dazu
beitragen, Erkenntnisse eines multiprofessionellen Teams in die Prüfung der
Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch den Betreuer und durch das
Betreuungsgericht einzubringen. Die verfassungsrechtliche Eignung folgt
allerdings jedenfalls aus der Möglichkeit, dass die im Krankenhaus auf Grundlage
des Behandlungsverhältnisses zum Betroffenen zu treffende Entscheidung, ob eine
bereits bewilligte und betreuungsgerichtlich genehmigte ärztliche Zwangsmaßnahme
tatsächlich durchgeführt wird, gerade auch unter Einbindung multiprofessioneller
Teams erfolgt, die in diesem Zuge das Vorliegen von Voraussetzungen der
ärztlichen Zwangsmaßnahme nochmals prüfen.
128
cc) Die zwingende Vorgabe eines Krankenhausaufenthalts ist weiterhin im
verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, auf Fehlanreizen beruhendes Ergreifen
nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen zu verhindern.
129
Die gesetzgeberische Annahme, für Heime und sonstige Einrichtungen könne bei
einer Ausweitung ärztlicher Zwangsmaßnahmen ein Anreiz bestehen, ohne eine
vorangehende sorgfältige Prüfung von Alternativen und ohne einen vorangehenden
Überzeugungsversuch im Sinne des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB a.F. auf eine
ärztliche Zwangsmaßnahme zurückzugreifen, ist nachvollziehbar, auch weil sich
die Durchführung der Zwangsmaßnahme im Einzelfall tatsächlich als weniger
aufwendig und zeitökonomischer darstellen kann. Insbesondere bei angespannter
Personalsituation und Zeitknappheit könnten Verantwortliche dazu verleitet sein,
vorschnell ärztliche Zwangsmaßnahmen durchzuführen, um die personal- und
zeitintensive Prüfung weniger eingriffsintensiver Alternativen zu vermeiden.
130
Dies allein genügt für die Annahme der verfassungsrechtlichen Eignung indes
nicht. Ob eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Einzelfall durchgeführt wird,
entscheiden die Behandelnden nämlich nicht allein. Der Gesetzgeber hat mit §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB a.F. weitere Sicherungen errichtet, die
ärztliche Zwangsmaßnahmen nur ausnahmsweise erlauben, insbesondere erst dann,
wenn zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen
Drucks versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen
Maßnahme zu überzeugen (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB a.F.), und wenn darüber
hinaus der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartende
Beeinträchtigung deutlich überwiegt (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BGB a.F.).
Diesen Vorgaben haben alle ärztlichen Zwangsmaßnahmen zu genügen, unabhängig vom
Ort ihrer Durchführung. Über ihre Einhaltung wacht auf erster Stufe der Betreuer
der Betroffenen, dessen Einwilligung nach dem gesetzgeberischen Schutzkonzept
notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme
ist (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.). Auf zweiter Stufe sieht das
gesetzgeberische Schutzkonzept die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. durch das Betreuungsgericht vor, ohne dessen
Genehmigung eine ärztliche Zwangsmaßnahme nicht durchgeführt werden darf (§
1906a Abs. 2 BGB a.F.). Dass diese Sicherungsmechanismen ein auf Fehlanreizen
beruhendes Ergreifen ärztlicher Zwangsmaßnahmen nicht erkennen und ausschließen
würden, ist jedenfalls nicht ersichtlich. Hierauf kann insbesondere nicht aus
dem Ergebnis der Evaluierung (siehe Rn. 17) geschlossen werden, nach dem
betreuungsgerichtliche Genehmigungen in etwa der Hälfte der beobachteten Fälle
im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgten.
131
Allerdings kann § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. jedenfalls dazu beitragen,
bereits im Vorfeld der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 1906a
Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. durch den Betreuer und das Betreuungsgericht etwaige auf
Fehlanreizen beruhende Anregungen nicht erforderlicher ärztlicher
Zwangsmaßnahmen und damit die abstrakte Gefahr der Bewilligung und Genehmigung
nicht erforderlicher Zwangsmaßnahmen zu verringern. Denn die zwingende Vorgabe
eines Krankenhausaufenthalts kann die mit der Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen verbundenen Aufwände und Mühen nach den vorliegenden
Stellungnahmen jedenfalls in einzelnen Fällen in einem Maß erhöhen, das weniger
eingriffsintensive Alternativen aus Sicht der in Heimen und sonstigen
Einrichtungen Verantwortlichen als vorzugswürdig erscheinen lassen kann. Die
hierauf beruhende Möglichkeit der Reduzierung auf Fehlanreizen beruhender nicht
erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen ist zur Erreichung des verfolgten
Ziels im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet.
132
dd) § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist auch im verfassungsrechtlichen
Sinne geeignet, eine angemessene fachliche Versorgung der von ärztlichen
Zwangsmaßnahmen betroffenen Betreuten sicherzustellen. Die Regelung gibt
ausdrücklich vor, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus
durchzuführen ist, „in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten
einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“. Die
hiermit verbundenen Anforderungen an die institutionelle, personelle und
sachliche Ausstattung werden in der Begründung des Gesetzentwurfs konkretisiert,
nach der insbesondere auch eine erforderliche psychologische Begleitung vor und
nach der Behandlung gesichert sein müsse. § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
trägt damit zumindest dazu bei, ein angemessenes fachliches Versorgungsniveau zu
gewährleisten.
133
4. Die ausnahmslose Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F., ärztliche
Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus
durchzuführen, ist zur Erreichung der genannten Zwecke auch im
verfassungsrechtlichen SiSinne erforderlich.
134
a) Eine Regelung ist im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich, wenn kein
anderes, gleich wirksames Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels zur
Verfügung steht, das den Grundrechtsberechtigten weniger stark und Dritte und
die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der
alternativen Mittel zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig
feststehen (vgl. BVerfGE 161, 299 <378 Rn. 187>; 162, 378 <428 Rn. 117>; 166, 1
<63 Rn. 139>; stRspr).
135
Im Hinblick auf ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen
Betreuten in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
gegenüber ebendiesen Betreuten hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
dass solche Zwangsmaßnahmen nur als letztes Mittel und ausschließlich dann
eingesetzt werden dürfen, wenn mildere Mittel nicht (mehr) in Betracht kommen,
eine weniger in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Behandlung mithin
aussichtslos ist (vgl. BVerfGE 158, 131 <157 Rn. 67>).
136
b) Nach diesem Maßstab ist § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. zur Erreichung
der genannten Zwecke im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich.
137
Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären
Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist zur Erreichung der
gesetzgeberischen Ziele erforderlich. Die Betroffenen weniger stark und Dritte
und die Allgemeinheit nicht stärker belastende alternative Maßnahmen, mit denen
die Zwecke des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. – Schutz vor Zwangsmaßnahmen
im privaten Wohnumfeld, Prüfung der Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen
durch multiprofessionelle Teams, Verhinderung von auf Fehlanreizen beruhendem
Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen und Sicherstellung
einer angemessenen fachlichen Versorgung – gleich wirksam erreicht würden, sind
nicht ersichtlich. Insbesondere wäre eine theoretisch denkbare Ausweitung der
Orte, an denen ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden dürfen, auf
Arztpraxen oder andere von den Betroffenen nicht bewohnte Einrichtungen nicht
gleich wirksam, weil nicht eindeutig feststeht, dass an diesen alternativen
Durchführungsorten ein identisches Versorgungsniveau wie in Krankenhäusern
gewährleistet ist, das insbesondere eine angemessene Ausstattung für den Fall
von – auch nicht vorhersehbaren – Komplikationen umfasst. Auch eine theoretisch
denkbare vom Durchführungsort unabhängige Prüfung der Voraussetzungen ärztlicher
Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams wäre nicht gleich wirksam. Aus
der Stellungnahme des GKV-Spitzenverbands (siehe Rn. 53) ergibt sich im Hinblick
auf die sogenannte stationsäquivalente psychiatrische Behandlung im häuslichen
Umfeld durch mobile ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams
(vgl. § 39 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur
Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und
psychosomatische Leistungen vom 19. Dezember 2016 [BGBl I S. 2986]), dass diese
hinsichtlich Intensität und Multiprofessionalität hinter einer vollstationären
Krankenhausbehandlung zurückbleibt, so dass insoweit, mangels anderweitiger
Anhaltspunkte aber auch für andere Behandlungsformen die Gleichwertigkeit der
alternativen Maßnahme zur Zweckerreichung nicht eindeutig feststeht.
138
5. Der mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundene Eingriff in den
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ist indes nicht durchgängig
angemessen (vgl. Rn. 108).
139
a) Die verfassungsrechtliche Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im
engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu
erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs
stehen (vgl. BVerfGE 155, 119 <178 Rn. 128> – Bestandsdatenauskunft II; 161, 299
<384 Rn. 203>; 166, 1 <71 Rn. 155>). Angemessen und damit verhältnismäßig im
engeren Sinne ist eine gesetzliche Regelung dann, wenn bei der Gesamtabwägung
zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der
ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt wird (vgl.
BVerfGE 141, 82 <100 f. Rn. 53> m.w.N.). Dabei ist ein angemessener Ausgleich
zwischen dem Eingriffsgewicht der Regelung und dem verfolgten gesetzgeberischen
Ziel sowie der zu erwartenden Zielerreichung herzustellen (vgl. BVerfGE 148, 40
<58 Rn. 49>; vgl. zum Ganzen BVerfGE 163, 107 <152 Rn. 119>; 167, 163 <224 Rn.
146>; stRspr).
140
In Bezug auf ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen
Betreuten, die in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz
1 GG gegenüber ebendiesen Betreuten erfolgen, ergeben sich aus dem Grundsatz der
Angemessenheit umfangreiche konkrete Anforderungen: Notwendige Voraussetzung
jeder ärztlichen Zwangsmaßnahme ist, dass Betroffene krankheitsbedingt nicht in
der Lage sind, die medizinische Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu
erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 Rn.
73>). Die Durchführung einer dem Schutz des Grundrechts des Betroffenen aus Art.
2 Abs. 2 Satz 1 GG dienenden ärztlichen Zwangsmaßnahme gegen dessen freien
Willen ist ausgeschlossen (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 75>). Beachtlich ist
auch der ursprüngliche freie Wille der Betreuten, soweit er auf Grundlage
hinreichend tragfähiger Anhaltspunkte, etwa einer relevanten Patientenverfügung
oder früher gegenüber Dritten geäußerter Behandlungswünsche, feststellbar ist
(vgl. BVerfGE 142, 313 <342 Rn. 80, 342 f. Rn. 82 f.>). Weiterhin dürfen
ärztliche Zwangsmaßnahmen nur erfolgen, wenn das mit der Maßnahme verfolgte Ziel
unter Berücksichtigung ihrer Erfolgsaussichten die Schwere des Eingriffs
eindeutig überwiegt. Eine solche Eindeutigkeit liegt insbesondere vor, wenn
drohende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich einer
Lebensgefahr durch nicht zu eingriffsintensive ärztliche Maßnahmen mit hohen
Erfolgsaussichten abgewehrt werden können (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 78,
341 f. Rn. 80, 343 Rn. 83>). In jedem Fall darf eine ärztliche Zwangsmaßnahme
ausschließlich als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden (vgl. BVerfGE
142, 313 <338 Rn. 71, 343 Rn. 82, 344 f. Rn. 86>). Im Hinblick auf den einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme entgegenstehenden natürlichen Willen nicht
einwilligungsfähiger Betreuter ist insbesondere zunächst ernsthaft, mit dem
nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks zu versuchen, diese
von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen (vgl. BVerfGE 142,
313 <344 f. Rn. 86>; 158, 131 <157 Rn. 67> m.w.N.). In verfahrensrechtlicher
Hinsicht unabdingbar sind die Anordnung und Überwachung der Zwangsmaßnahme durch
qualifiziertes ärztliches Personal, ihre vorherige Ankündigung jedenfalls bei
planmäßigen ärztlichen Maßnahmen sowie eine vorausgehende Prüfung der Maßnahme
durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit von der Einrichtung und die Pflicht
zur Dokumentation (vgl. BVerfGE 128, 282 <315 ff.>; 158, 131 <157 f. Rn. 68>
m.w.N.).
141
b) Nach diesem Maßstab ist die Angemessenheit vorliegend nicht durchgängig
gewahrt. Die beanstandete gesetzliche Regelung greift mit hohem, in Einzelfällen
sogar sehr hohem Gewicht in das Grundrecht nicht einwilligungsfähiger Betreuter
auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ein (aa). Dem
steht das hohe Gewicht der vom Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB
a.F. verfolgten Zwecke gegenüber, die ihrerseits durch grundrechtliche
Schutzpflichten unterlegt sind (bb). In der Gesamtabwägung mit den verfolgten
Zwecken erweist sich der Eingriff im Hinblick auf die vorgenannten
Anwendungsfälle als unverhältnismäßig im engeren Sinne (cc). Diese
Unverhältnismäßigkeit lässt sich nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. auflösen (dd).
142
aa) Das Gewicht des mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundenen
Eingriffs in das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte
Selbstbestimmungsrecht (1) und die von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte
körperliche Integrität (2) ist hoch, in Einzelfällen sogar sehr hoch.
143
(1) Jede ärztliche Zwangsmaßnahme auf Grundlage von § 1906a Abs. 1 Satz 1, Abs.
2 BGB a.F. überwindet einen der Durchführung der Maßnahme entgegenstehenden
natürlichen Willen der betroffenen Betreuten und greift deshalb mit hohem
Gewicht in das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte
Selbstbestimmungsrecht nicht einwilligungsfähiger Betreuter in Bezug auf ihre
körperliche Integrität ein. Hinzutreten können abhängig vom Einzelfall durch §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ausgelöste Belastungen, die das Gewicht des
Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht weiter erhöhen:
144
Soweit von ärztlichen Zwangsmaßnahmen Betroffene einen natürlichen Willen
gebildet haben, der einer Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahmen gerade im
Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus unter Berücksichtigung
auch des dort vorhandenen Behandlungsangebots und der dort gegebenen
Behandlungsmodalitäten entgegensteht, ermöglicht § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 in
Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 und § 1906a Abs. 2 BGB a.F.
die Überwindung auch dieses von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützten
Willens. Hierdurch wird nicht nur die Möglichkeit Betroffener verkürzt, auf den
Durchführungsort der Maßnahme Einfluss zu nehmen; vielmehr beschränkt die
zwingende Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts auch den Kreis der in
Betracht kommenden Behandelnden auf in Krankenhäusern tätige Ärztinnen und Ärzte
und in Krankenhäusern angebotene Behandlungsmethoden. Damit ist Betroffenen etwa
die Wahl verwehrt, die ärztliche Zwangsmaßnahme von möglicherweise favorisierten
Behandelnden ihres Vertrauens durchführen zu lassen. Die Wirkungen dieser
Beschränkungen können damit im Einzelfall auch den Erfolg der Zwangsmaßnahme
betreffen.
145
Weiterhin erlaubt § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. Betreuten nicht, mit
ihrem ursprünglichen von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützten freien
Willen Einfluss auf den Durchführungsort einer ärztlichen Zwangsmaßnahme zu
nehmen. Soweit im Einzelfall auf Grundlage hinreichend tragfähiger Anhaltspunkte
feststellbar ist, dass sich der ursprüngliche freie Wille Betroffener gegen die
Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme gerade in einem Krankenhaus
richtet, wäre dieser Wille zwar nach § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB a.F. zu
beachten (vgl. BTDrucks 18/11240, S. 19 f.); dies führte angesichts der
zwingenden Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. indes dazu, dass die
notwendige ärztliche Maßnahme unterbleiben müsste. § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. lässt Betroffenen folglich keinen Raum, mit ihrem ursprünglichen freien
Willen positiv einen von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. abweichenden
Durchführungsort zu bestimmen.
146
Soweit sich Betroffene, die sich nicht bereits in dem Krankenhaus befinden, mit
natürlichem Willen gegen den für die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme
notwendigen Ortswechsel wenden, sieht § 1906a Abs. 4 in Verbindung mit § 1906
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB a.F. vor, dass auch dieser Wille durch eine
Einwilligung des Betreuers mit Genehmigung des Betreuungsgerichts überwunden
werden kann und die Betroffenen gegen ihren natürlichen Willen in das
Krankenhaus verbracht werden können (vgl. BTDrucks 18/11240, S. 21; 18/12842, S.
8); widersetzen sich Betroffene der Verbringung als solcher auch körperlich,
erlaubt § 326 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 312 Nr. 3 FamFG sogar
die Anwendung unmittelbaren Zwangs aufgrund gerichtlicher Anordnung. Hieraus
folgende Beeinträchtigungen des Selbstbestimmungsrechts sind auch bei der
Würdigung des Eingriffsgewichts des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. zu
berücksichtigen, weil die Verbringung in ein Krankenhaus die Folge der
Beschränkung ärztlicher Zwangsmaßnahmen auf die dort durchzuführenden ist.
147
(2) Das Gewicht des durch die ärztliche Zwangsmaßnahme als solche auf Grundlage
von § 1906a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB a.F. bewirkten Eingriffs in die von Art. 2
Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte körperliche Integrität nicht
einwilligungsfähiger Betreuter hängt zunächst von der konkreten ärztlichen
Maßnahme ab und kann sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Einzelfall nicht
unerheblich unterscheiden. Insbesondere können durch § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. hervorgerufene Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität
hinzutreten, die das Eingriffsgewicht erhöhen:
148
Soweit sich von ärztlichen Zwangsmaßnahmen Betroffene nicht ohnehin bereits an
dem von § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vorgegebenen Durchführungsort
befinden, ruft die zwingende Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts in
bestimmten Fällen die vorhersehbare konkrete Gefahr einer erheblichen
Verschlechterung ihres Gesundheitszustands hervor. Aus den eingegangenen
Stellungnahmen und den Äußerungen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich
insbesondere, dass an Demenz erkrankte Patientinnen und Patienten durch einen
Umgebungswechsel der besonderen Gefahr eines Verwirrtheitszustands und auch den
damit verbundenen weiteren – unter Umständen gravierenden – Beeinträchtigungen
ihrer Gesundheit ausgesetzt sein können. Darüber hinaus ist mit dem zwingenden
Aufenthalt in einem Krankenhaus in bestimmten Konstellationen vorhersehbar ein
gesteigertes Risiko der Ansteckung mit spezifischen Infektionskrankheiten
verbunden. Hinzu tritt vornehmlich bei längeren stationären
Krankenhausaufenthalten die vorhersehbare Gefahr von Beeinträchtigungen aufgrund
einer Entfremdung von der gewohnten Umgebung.
149
In Fällen, in denen sich Betroffene auch dem Ortswechsel als solchem körperlich
widersetzen, drohen im Zusammenhang mit der Anwendung unmittelbaren Zwangs zum
Zweck ihrer Verbringung in das Krankenhaus auf Grundlage von § 326 Abs. 1, Abs.
2 Satz 1 in Verbindung mit § 312 Nr. 3 FamFG zusätzliche Beeinträchtigungen der
körperlichen Integrität.
150
bb) Die vom Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verfolgten
Zwecke sind allerdings von hohem Gewicht.
151
Indem der Gesetzgeber in § 1906a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB a.F. die Möglichkeit
ärztlicher Zwangsmaßnahmen als letztes Mittel vorsieht, setzt er seine aus Art.
2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht gegenüber nicht einwilligungsfähigen
Betreuten für Fälle um, in denen drohende erhebliche
Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich einer Lebensgefahr durch nicht zu
eingriffsintensive Behandlungen mit hohen Erfolgsaussichten abgewehrt werden
können. Diese dem Individualschutz der Betroffenen selbst dienende Schutzpflicht
hat hohes Gewicht. Denn die staatliche Gemeinschaft darf hilfsbedürftige nicht
einwilligungsfähige Betreute in diesen Fällen nicht einfach sich selbst
überlassen (vgl. BVerfGE 142, 313 <339 Rn. 73, 340 f. Rn. 78>).
152
Die hierauf aufbauend mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verfolgten
legitimen Zwecke – Schutz vor Zwangsmaßnahmen im privaten Wohnumfeld, Prüfung
der Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams,
Verhinderung von auf Fehlanreizen beruhendem Ergreifen nicht erforderlicher
ärztlicher Zwangsmaßnahmen und Sicherstellung einer angemessenen fachlichen
Versorgung – sind ebenfalls sehr gewichtig. Dies folgt bereits daraus, dass
sämtliche Zwecke ihrerseits durch grundrechtliche Schutzpflichten aus Art. 2
Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG beziehungsweise aus Art. 13 Abs. 1 GG unterlegt sind
(siehe dazu bereits Rn. 112 f., 115, 117). Besonders bedeutsam ist das vom
Gesetzgeber mit der Umsetzung dieser Schutzpflichten verfolgte Ziel
sicherzustellen, dass die Möglichkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht
einwilligungsfähigen Betreuten nur unter engen Voraussetzungen und als letztes
Mittel besteht (vgl. BVerfGE 142, 313 <336 Rn. 67, 338 Rn. 71, 340 f. Rn. 78>;
158, 131 <155 Rn. 64>). Auch das mit der Umsetzung der Schutzpflichten
verbundene gesetzgeberische Anliegen, im Fall der Eröffnung der Möglichkeit
einer ärztlichen Zwangsmaßnahme das zurücktretende Grundrecht der Betroffenen
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG möglichst weitgehend zu sichern, insbesondere
vermeidbare erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit
auszuschließen, ist von erheblichem Gewicht (vgl. BVerfGE 142, 313 <341 Rn. 78,
342 Rn. 82>; 158, 131 <157 f. Rn. 68> m.w.N.).
153
cc) In der Gesamtabwägung mit den verfolgten Zwecken erweist sich der mit §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundene Eingriff in die körperliche
Unversehrtheit gleichwohl im Hinblick auf einzelne Anwendungsfälle als
unverhältnismäßig im engeren Sinne. Die Unverhältnismäßigkeit der Regelung folgt
nicht bereits daraus, dass die stationäre Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen in einem Krankenhaus im Hinblick auf typische Anwendungsfälle
vorgesehen ist (1). Unangemessen ist der Eingriff indes, soweit Betreuten im
Einzelfall aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen im
Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus auch dann
durchzuführen sind, wenn damit verbundene erhebliche Beeinträchtigungen der
körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und
zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der
Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der
Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische
Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht
wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass
andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen
grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen (2).
154
(1) Dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. für den Regelfall die Durchführung
ärztlicher Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus normiert, erweist sich nicht als unangemessen. Zwar ist bei der
gesetzgeberischen Ausgestaltung der Voraussetzungen und Modalitäten ärztlicher
Zwangsmaßnahmen der Verschiedenartigkeit und den jeweiligen Umständen der
einzelnen Anwendungsfälle angemessen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 142, 313
<343 Rn. 83>). Indes sind die Belastungen der betroffenen Betreuten, die
aufgrund der Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts zu dem mit jeder
Zwangsmaßnahme verbundenen Eingriffsgewicht hinzutreten, mitunter gering. Auch
ist gegen die gesetzgeberische Erwägung, ein Krankenhaus sei der beste und
sicherste Ort, um im Fall der Eröffnung der Möglichkeit einer ärztlichen
Zwangsmaßnahme die möglichst weitgehende Sicherung des zurücktretenden
Grundrechts der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG sicherzustellen,
verfassungsrechtlich nichts zu erinnern. An diesem Durchführungsort ist
jedenfalls die medizinische Versorgung der Betroffenen durch ärztliches Personal
auf hohem Niveau regelmäßig gewährleistet.
155
(2) Indes ist der mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundene Eingriff
unangemessen, soweit Betreuten aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe eines
stationären Krankenhausaufenthalts erhebliche Beeinträchtigungen der
körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und
zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen in der Einrichtung, in der sie
untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die
konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung
voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant
reduziert werden könnten.
156
In solchen Anwendungsfällen, in denen Betroffenen aufgrund der ausnahmslosen
Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts erhebliche Beeinträchtigungen
der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützten körperlichen Unversehrtheit,
die über die mit jeder Zwangsmaßnahme verbundenen ganz erheblichen Belastungen
noch hinausgehen, zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen, ist das
Eingriffsgewicht der beanstandeten Regelung im Vergleich zum Regelfall erheblich
erhöht. Dies kann auch Anwendungsfälle umfassen, in denen Betroffenen aufgrund
der Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. sogar ganz erhebliche
Beeinträchtigungen drohen. Denn nach der Regelung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr.
6 BGB a.F. setzt die Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme voraus, dass
der zu erwartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich
überwiegt. Danach müssen Betroffene eine durch die Vorgabe des § 1906a Abs. 1
Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. drohende Gefahr ganz erheblicher Beeinträchtigungen der
körperlichen Unversehrtheit etwa hinnehmen, um eine medizinisch notwendige
ärztliche Maßnahme zu erhalten, wenn die Verwirklichung dieser Gefahr ex ante
deutlich weniger wahrscheinlich ist als die Verwirklichung eines ganz
erheblichen Risikos, das durch die Zwangsmaßnahme abgewendet werden soll.
157
Die durch das Hinzutreten dieser aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe des § 1906a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. drohenden erheblichen Beeinträchtigungen bedingte
besondere Schwere des Eingriffs ist den Betroffenen nicht zumutbar, soweit die
Beeinträchtigungen in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in
welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche
medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu
erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden könnten.
158
Eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne scheidet allerdings aus, soweit die
Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus im Einzelfall
aus medizinischer Sicht unvermeidbar ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn
eine hinreichend sichere Durchführung der konkreten ärztlichen Maßnahme
voraussichtlich spezifische Anforderungen an die institutionelle, personelle
oder sachliche Ausstattung des Durchführungsorts stellen wird, die
ausschließlich ein Krankenhaus erfüllt, was jedenfalls bei aufwendigen und
risikoreichen ärztlichen Zwangsmaßnahmen der Fall sein kann.
159
Unzumutbar ist der mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundene Eingriff
indes, soweit in Anwendungsfällen zwei Voraussetzungen zusammentreffen: Die
erste liegt darin, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme aus medizinischer Sicht in
der Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind und in welcher der
Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische
Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht
wird, insbesondere angesichts des konkreten Krankheitsbilds und der anstehenden
ärztlichen Maßnahme nicht von einer signifikanten Verbesserung des konkreten
medizinischen Versorgungsniveaus in einem Krankenhaus auszugehen ist,
durchgeführt werden kann. Die zweite Voraussetzung besteht darin, dass nach
einer Betrachtung ex ante zu erwarten ist, dass die aufgrund der ausnahmslosen
Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. drohenden erheblichen
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit in dieser Einrichtung
vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können. In diesen
Anwendungsfällen des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist kein überwiegendes
verfassungsrechtlich geschütztes Interesse erkennbar, das es rechtfertigen
könnte, Betroffenen in einer Situation äußerster Schutzbedürftigkeit die
Hinnahme voraussichtlich vermeidbarer erheblicher Beeinträchtigungen ihrer
körperlichen Unversehrtheit zuzumuten. Dies betrifft insbesondere
Anwendungsfälle, in denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betroffenen zum
wiederholten Male durchgeführt werden und sich daraus hinreichend tragfähige
Anknüpfungstatsachen für Prognosen künftiger Beeinträchtigungen ergeben. Ein
etwaiges gesetzgeberisches Verallgemeinerungsinteresse müsste jedenfalls hinter
das Grundrecht der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit zurücktreten. Auch
die vom Gesetzgeber mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verfolgten Zwecke
oder die Grenzen der Fähigkeit des Gesetzgebers zur Regelung der Materie
rechtfertigen die Hinnahme voraussichtlich vermeidbarer erheblicher
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit in diesen Anwendungsfällen
nicht.
160
Es ist derzeit bereits nicht hinreichend erkennbar, dass die vom Gesetzgeber
neben § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vorgesehenen Sicherungsmechanismen
nicht ausreichten. Diese umfassen materiellrechtliche und verfahrensrechtliche
Elemente: Materiellrechtlich sind zunächst die Betreuer (§ 1901 Abs. 2 Satz 1
BGB a.F.) und im Rahmen der Aufsichtsführung über die Tätigkeit der Betreuer die
Betreuungsgerichte (§ 1908i Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1837 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F.)
an das Wohl der Betreuten gebunden (vgl. BTDrucks 11/4528, S. 133). Konkrete
insbesondere das Wohl der Betreuten, ihren freien Willen und das
ultima-ratio-Gebot berücksichtigende Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein
müssen, damit eine ärztliche Zwangsmaßnahme gegenüber Betreuten einwilligungs-
und genehmigungsfähig ist, formuliert § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 6 BGB
a.F. Verfahrensrechtliche Sicherungen insbesondere des ultima-ratio-Gebots sind
in Form des Erfordernisses der Einwilligung der Betreuer der Betroffenen (§
1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F.) und in Form des Erfordernisses der auf
sachverständiger Expertise basierenden Genehmigung durch das Betreuungsgericht
(§ 1906a Abs. 2 BGB a.F., § 321 Abs. 1, § 331 Satz 1 Nr. 2 FamFG) vorgesehen.
Erst recht ist nicht hinreichend erkennbar, dass und weshalb keine alternativen
oder ergänzenden Möglichkeiten gesetzlicher Regelungen bestehen sollten, um –
trotz etwaiger Anreize für Heime oder sonstige Einrichtungen zu vorschnellem
Rückgriff auf ärztliche Zwangsmaßnahmen (vgl. Rn. 129) – konsequent
sicherzustellen, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich als letztes
Mittel (ultima ratio) ergriffen werden (vgl. zu entsprechenden Vorschlägen von
an der Gesetzgebung Beteiligten Rn. 13, 48 bis 50).
161
Die Ausnahmslosigkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist keine
angemessene Sicherung des ultima-ratio-Grundsatzes. Sie vermag zwar wie jede
Erschwerung ärztlicher Zwangsmaßnahmen deren Zahl tendenziell zu reduzieren. Im
Lichte des hier zu erfüllenden Schutzauftrags für die körperliche Unversehrtheit
muss aber auch der Sicherungsmechanismus hinreichend sensibel für das jeweilige
Gewicht des zu schützenden Individualrechtsguts sein. Dies vermag der pauschale
Krankenhausvorbehalt nicht zu leisten.
162
Dabei kann in dieser Entscheidung offenbleiben, ob und gegebenenfalls unter
welchen Voraussetzungen die Unzumutbarkeit des mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. verbundenen Eingriffs über Hauptsacheverfahren hinaus auch für
Verfahren der einstweiligen Anordnung mit ihrem abgesenkten Prüfungsmaßstab bei
der Sicherung des ultima-ratio-Gebots zu bejahen ist.
163
Vermeidbar im vorstehenden Sinne (siehe Rn. 159) sind aufgrund der ausnahmslosen
Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. drohende erhebliche
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit allerdings nur, soweit in der
Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind, keine anderen
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen
grundrechtlich geschützten Position der Betroffenen mit einiger
Wahrscheinlichkeit drohen, deren Gewicht das Gewicht der dort voraussichtlich
vermeidbaren Beeinträchtigungen nicht signifikant unterschreitet. Dies gilt
insbesondere mit Blick auf die von Art. 13 Abs. 1 GG geschützten Positionen der
Betroffenen. Insbesondere insoweit können Beeinträchtigungen, die den
Betroffenen bei einer Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einem
alternativen Durchführungsort außerhalb des Krankenhauses drohen, bei dem es
sich nicht um die Einrichtung handelt, in der die Betroffenen untergebracht
sind, geringer sein als die drohenden Beeinträchtigungen bei einer Durchführung
der ärztlichen Zwangsmaßnahme in der Unterbringungseinrichtung. Indes sind
Anwendungsfälle des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F., in denen aufgrund der
ausnahmslosen Vorgabe des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. drohende
erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit an einem
alternativen hinreichend geeigneten Durchführungsort außerhalb eines
Krankenhauses voraussichtlich vermeidbar wären, bei dem es sich nicht um die
Einrichtung handelt, in der die Betroffenen untergebracht sind, nicht Gegenstand
des vorliegenden konkreten Normenkontrollverfahrens (siehe dazu bereits Rn. 85).
164
Der Gesetzgeber durfte die Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen im Rahmen
eines stationären Krankenhausaufenthalts unter den bestehenden medizinischen
Gegebenheiten als Regelfall vorsehen. Er ist aus verfassungsrechtlicher Sicht
nicht verpflichtet, im Hinblick auf den Durchführungsort ärztlicher
Zwangsmaßnahmen eine Regelung zu schaffen, nach der aus der Bandbreite aller in
Betracht kommenden Durchführungsorte stets der im jeweiligen Einzelfall auf der
Grundlage einer Bewertung ex ante individuell am besten geeignete Ort
auszuwählen wäre. Eine solche Regelung wäre für Betroffene zwar möglicherweise
mit geringeren Einschränkungen verbunden, soweit der den individuellen
Präferenzen, Erwartungen und speziellen Eigenheiten am besten entsprechende
Durchführungsort auszuwählen wäre. Erforderlich würde allerdings eine
umfangreiche, unter Umständen ihrerseits grundrechtsinvasive
Sachverhaltsaufklärung insbesondere im Hinblick auf die individuellen
Präferenzen und Erwartungen der Betroffenen, das an dem alternativen
Durchführungsort gewährleistete medizinische Versorgungsniveau und sonstige
relevante Umstände des Einzelfalls, die mit dem Ziel in Konflikt geriete, eine
Entscheidung über die ärztliche Zwangsmaßnahme grundrechtsschonend und innerhalb
angemessener Zeit zu treffen.
165
dd) Die Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7
BGB a.F. im Hinblick auf einzelne Anwendungsfälle lässt sich ausgehend von dem
anwendbaren Maßstab (1) durch eine verfassungskonforme Auslegung nicht auflösen
(2).
166
(1) Aus der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes
ergibt sich das Gebot, dieses im Zweifel verfassungskonform auszulegen (vgl.
BVerfGE 2, 266 <282>; 122, 39 <60>). Durch den Wortlaut des Gesetzes (vgl.
BVerfGE 122, 39 <61>; 124, 25 <39>; 159, 183 <218 Rn. 88>), den
Gesamtzusammenhang des Gesetzes (vgl. BVerfGE 83, 201 <215>; 88, 145 <166>),
seine Entstehungsgeschichte und seinen Sinn und Zweck (vgl. BVerfGE 88, 145
<166>; 112, 164 <183>; 122, 39 <61>) werden der verfassungskonformen Auslegung
Grenzen gezogen. Ein verfassungskonformes Normverständnis kommt dann nicht in
Betracht, wenn es in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des
Gesetzgebers träte (vgl. BVerfGE 122, 39 <61>; 128, 157 <179>; 162, 1 <171 Rn.
387> – Bayerisches Verfassungsschutzgesetz).
167
(2) Danach ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr.
7 BGB a.F., nach der eine ärztliche Zwangsmaßnahme in einzelnen Anwendungsfällen
auch außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt
werden könnte, ausgeschlossen. Eine solche Auslegung überschritte bereits den
Wortlaut des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F., der die Durchführung
ärztlicher Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem
Krankenhaus ausnahmslos vorgibt. Unabhängig davon kommt eine solche
verfassungskonforme Auslegung auch deshalb nicht in Betracht, weil sie dem in
der Begründung des Gesetzentwurfs ausdrücklich geäußerten Willen des
Gesetzgebers, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen nur im Rahmen eines stationären
Aufenthalts in einem Krankenhaus zulässig sein sollen (vgl. BTDrucks 18/11240,
S. 15, 20), widerspräche.
D.
168
Die zur Prüfung vorgelegte Rechtsnorm des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
ist mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unvereinbar, soweit Betreuten aufgrund
der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären
Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen
der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen
und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen in der Einrichtung, in der
die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im
Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich
der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder
jedenfalls signifikant reduziert werden könnten, ohne dass andere
Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen
grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen. In diesem
Umfang ist die Unvereinbarkeit der Norm mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
auszusprechen, wobei sie bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, die
spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026 zu treffen ist, weiter
angewendet werden kann (I). Die Unvereinbarkeitserklärung ist auf die
inhaltsgleiche Nachfolgenorm des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. zu
erstrecken (II).
I.
169
Im Verfahren der konkreten Normenkontrolle erklärt das Bundesverfassungsgericht
nach § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG eine Rechtsnorm
grundsätzlich für nichtig, die zu seiner Überzeugung mit dem Grundgesetz
unvereinbar ist. Allerdings kommt unter bestimmten Voraussetzungen lediglich die
Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz durch bloße
Unvereinbarkeitserklärung in Betracht (vgl. BVerfGE 161, 163 <297 Rn. 369>; 166,
1 <88 Rn. 187>). So verhält es sich insbesondere, wenn der Gesetzgeber
verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das ist
grundsätzlich bei Verletzungen des Gleichheitssatzes anzunehmen, kommt jedoch
auch dann in Betracht, wenn der Verfassungsverstoß nicht in einer Verletzung von
Art. 3 Abs. 1 GG besteht (vgl. BVerfGE 166, 1 <89 Rn. 187> m.w.N.). Das
Bundesverfassungsgericht kann auch die teilweise Nichtigkeit oder die teilweise
Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm mit dem Grundgesetz aussprechen, etwa in Bezug
auf einen Teil der von ihr erfassten Anwendungsfälle (vgl. BVerfGE 117, 163
<164, Nr. 1 der Entscheidungsformel>; 142, 313 <313 f., Nr. 1 der
Entscheidungsformel>).
170
Danach ist vorliegend nur die Feststellung der teilweisen Unvereinbarkeit des §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG zu
treffen. Der Verfassungsverstoß betrifft nicht den gesamten Anwendungsbereich
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F., sondern lediglich einzelne von diesem
erfasste Anwendungsfälle. Es bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie der
Gesetzgeber den festgestellten Verfassungsverstoß beseitigen kann, ohne dass er
verfassungsrechtlich auf eine dieser Möglichkeiten festgelegt wäre. Dem
Gesetzgeber steht es etwa frei, das Erfordernis der Durchführung ärztlicher
Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus
grundsätzlich beizubehalten und lediglich einen Ausnahmetatbestand für die
beanstandeten Anwendungsfälle zu eröffnen; auch in der näheren Ausgestaltung
eines solchen Ausnahmetatbestands stehen ihm mehrere Möglichkeiten offen. Er ist
auch nicht von vornherein daran gehindert, das Erfordernis eines stationären
Krankenhausaufenthalts aufzuheben und durch eine für alle Anwendungsfälle
flexiblere Regelung zu ersetzen (vgl. aber Rn. 140).
171
Im Zuge der Neuregelung hat der Gesetzgeber in jedem Fall sicherzustellen, dass
die Grundrechte sämtlicher Betroffener durch strenge materielle und
verfahrensrechtliche Anforderungen möglichst weitgehend gesichert werden (vgl.
BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 78 ff.> m.w.N.; vgl. Rn. 140). Insbesondere ist zu
gewährleisten, dass eine ärztliche Zwangsmaßnahme in jedem Fall ausschließlich
als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden darf (vgl. BVerfGE 142, 313
<336 Rn. 67, 338 Rn. 71, 340 f. Rn. 78>; 158, 131 <155 f. Rn. 64>). Soweit die
Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme unter Berücksichtigung des
ultima-ratio-Gebots zu eröffnen ist, sind vermeidbare erhebliche
Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Positionen der Betroffenen
auszuschließen. Dabei ist sicherzustellen, dass an sämtlichen Orten, an denen
ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden dürfen, der Krankenhausstandard im
Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich
der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, insbesondere angesichts
des konkreten Krankheitsbilds und der anstehenden ärztlichen Maßnahme nicht von
einer signifikanten Verbesserung des konkreten medizinischen Versorgungsniveaus
in einem Krankenhaus auszugehen ist. Weiterhin sind Beeinträchtigungen der
körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten
Position der Betroffenen, die an dem konkreten Durchführungsort einer ärztlichen
Zwangsmaßnahme mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen, so weit wie möglich zu
reduzieren. Hierbei sind insbesondere Anwendungsfälle in den Blick zu nehmen, in
denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten zum wiederholten Male
durchgeführt werden und in denen sich aus vorangehenden Genehmigungsverfahren
gegebenenfalls besondere Erkenntnisse zu den ihnen mit einiger
Wahrscheinlichkeit drohenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit
ergeben.
II.
172
Ausgehend von dem anwendbaren Maßstab (1) ist die teilweise
Unvereinbarkeitserklärung auf § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. zu erstrecken
(2). Eine Erstreckung der teilweisen Unvereinbarkeitserklärung auf § 1906a Abs.
5 Satz 2 in Verbindung mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. oder auf § 1832
Abs. 5 in Verbindung mit § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. kommt hingegen
nicht in Betracht (3).
173
1. Nach § 78 Satz 2 in Verbindung mit § 82 Abs. 1 BVerfGG kann das
Bundesverfassungsgericht in konkreten Normenkontrollverfahren „weitere
Bestimmungen des gleichen Gesetzes“ gleichfalls für nichtig erklären, die „aus
denselben Gründen“ mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Weitere Bestimmungen
des gleichen Gesetzes sind auch inhaltsgleiche Nachfolgenormen desselben
Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 65, 237 <243 f.>; 94, 241 <265 f.>; 149, 222 <291 f.
Rn. 154>; 155, 119 <235 Rn. 267>). Eine weitere Bestimmung ist mit dem
Grundgesetz aus denselben Gründen unvereinbar, wenn eine eigenständige
verfassungsrechtliche Würdigung nicht erforderlich wird (vgl. BVerfGE 148, 147
<179 Rn. 81>; 158, 282 <380 Rn. 241>). Die Erstreckung steht im Ermessen des
Bundesverfassungsgerichts und dient insbesondere der Rechtsklarheit (vgl.
BVerfGE 133, 377 <423 Rn. 106>; 150, 244 <308 Rn. 171>; 155, 119 <235 f. Rn.
267>). § 78 Satz 2 BVerfGG erlaubt auch, die weitere Bestimmung lediglich für
mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären (vgl. BVerfGE 128, 326 <404>; 132,
179 <192 Rn. 41>; 149, 222 <291 f. Rn. 154>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats
vom 9. April 2024 - 1 BvR 2017/21 -, Rn. 116 – Vaterschaftsanfechtung).
174
2. Nach diesem Maßstab ist die teilweise Unvereinbarkeitserklärung im Interesse
der Rechtsklarheit auf § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. zu erstrecken. Die
Vorschrift ersetzte die für das Ausgangsverfahren weiterhin
entscheidungserhebliche (siehe bereits Rn. 80) verfahrensgegenständliche Norm
des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. mit Wirkung ab dem 1. Januar 2023 ohne
inhaltliche Änderungen (siehe bereits Rn. 16). Die teilweise Unvereinbarkeit des
§ 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. mit dem Grundgesetz folgt aus denselben
Gründen, aus denen auch die Feststellung der teilweisen Unvereinbarkeit des §
1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
auszusprechen ist. Eine eigenständige verfassungsrechtliche Würdigung ist nicht
erforderlich.
175
3. Die Voraussetzungen für eine Erstreckung der teilweisen
Unvereinbarkeitserklärung auf § 1906a Abs. 5 Satz 2 in Verbindung mit § 1906a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. oder auf § 1832 Abs. 5 in Verbindung mit § 1832
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. liegen hingegen nicht vor. § 1906a Abs. 5 Satz 2
BGB a.F. erklärt § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. und § 1832 Abs. 5 BGB n.F.
erklärt § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. für entsprechend anwendbar auf
Anwendungsfälle, in denen Betroffene einen Bevollmächtigten mit der Einwilligung
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme ihnen gegenüber betraut haben. Die Beurteilung,
ob die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines
stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, im Hinblick auf
solche Anwendungsfälle mit dem Grundgesetz vereinbar ist, erforderte eine
eigenständige verfassungsrechtliche Würdigung. Dies gilt insbesondere mit Blick
auf das Eingriffsgewicht. Da Betroffene die Vertretungsmacht, aufgrund derer
Bevollmächtigte in eine ärztliche Zwangsmaßnahme ihnen gegenüber einwilligen
können, selbst rechtsgeschäftlich begründet haben, können sich Änderungen des
Gewichts des Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
in der Komponente des Selbstbestimmungsrechts ergeben.
III.
176
Eine Unvereinbarkeitserklärung hat die Wirkung, dass Gerichte und Verwaltung die
Norm, soweit sich dies aus der Entscheidung ergibt, nicht mehr anwenden dürfen
(vgl. BVerfGE 55, 100 <110>; 61, 319 <356>; 135, 238 <245 Rn. 24>). Die
Unvereinbarkeitserklärung kann jedoch mit der Anordnung einer Fortgeltung
verbunden werden. Das kommt in Betracht, wenn die Besonderheit der für
verfassungswidrig erklärten Norm es aus verfassungsrechtlichen Gründen,
insbesondere aus solchen der Rechtssicherheit, notwendig macht, die
verfassungswidrige Vorschrift als Regelung bis zum Inkrafttreten einer
Neuregelung anwendbar zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht,
der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der
bisherige (vgl. BVerfGE 165, 1 <100 Rn. 201>; 166, 1 <89 Rn. 187>; BVerfG,
Urteil des Ersten Senats vom 9. April 2024 - 1 BvR 2017/21 -, Rn. 111). So
verhält es sich insbesondere, wenn die sofortige Unanwendbarkeit der Norm dem
Schutz von Rechtsgütern von überragender verfassungsrechtlicher Bedeutung die
Grundlage entziehen würde oder ein rechtliches Vakuum zu befürchten wäre, und
eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für
eine Übergangszeit hinzunehmen ist (vgl. BVerfGE 166, 1 <89 Rn. 187> m.w.N.;
BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 9. April 2024 - 1 BvR 2017/21 -, Rn. 111).
177
Hieran gemessen ist die Unvereinbarkeitserklärung mit der Anordnung zu
verbinden, dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. und § 1832 Abs. 1 Satz 1
Nr. 7 BGB n.F., soweit sie verfassungswidrig sind, für ihren jeweiligen
zeitlichen Anwendungsbereich vorübergehend bis zum Inkrafttreten einer
Neuregelung fortgelten. Bei einer Unanwendbarkeit der Rechtsnormen entfiele in
Bezug auf die beanstandeten Anwendungsfälle zeitweilig die mit dem Erfordernis
eines stationären Krankenhausaufenthalts verbundene Sicherung des
zurücktretenden Grundrechts der Betroffenen, ohne dass das für die Durchführung
ärztlicher Zwangsmaßnahmen notwendige Versorgungsniveau anderweitig durch eine
hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung gewährleistet wäre. Hierdurch
entstünde mit Blick auf die Rechtswirkungen, die trotz der Unanwendbarkeit der
beanstandeten Normen weiterhin von diesen ausgehen, ein noch verfassungsfernerer
Zustand als bei einer vorübergehenden weiteren Anwendbarkeit der Normen.
IV.
178
Für den Gesetzgeber begründet die Unvereinbarkeitserklärung die Verpflichtung,
eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen (vgl. BVerfGE 55, 100
<110>; 133, 377 <423 Rn. 108>; 161, 163 <298 Rn. 372>). Soweit ihm das
Bundesverfassungsgericht hierfür keine Frist setzt, ist der Gesetzgeber
verfassungsrechtlich allerdings nicht gebunden, bis zu einem bestimmten
Zeitpunkt eine Neuregelung zu treffen (vgl. BVerfGE 55, 100 <110>).
179
Aufgrund der Bandbreite der in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten und
der Komplexität der bei der Gestaltung zu berücksichtigenden rechtlichen und
tatsächlichen Erwägungen wird dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung bis zum
Ablauf des 31. Dezember 2026 eingeräumt.
E.
180
Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.
Harbarth
Ott
Christ
Radtke
Härtel
Wolff
Eifert
Meßling
Abweichende Meinung
des Richters Wolff
zum Urteil des Ersten Senats vom 26. November 2024
- 1 BvL 1/24 -
1
Der Auffassung des Senats, aus dem Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2
GG (Urteil Rn. 100 ff.) ergebe sich die Notwendigkeit der Schaffung einer
gesetzlichen Grundlage für eine ambulante Zwangsbehandlung, vermag ich mich
nicht anzuschließen.
2
1. Ich stimme der Senatsmehrheit insoweit zu, als Fallgestaltungen denkbar sind,
in denen die vom Gesetzgeber als zwingende gesetzliche Voraussetzung für eine
medizinische Zwangsbehandlung gemäß § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.
vorgesehene Behandlung in einem Krankenhaus (mit entsprechender vorausgehender
Verbringung dorthin) eine Belastung beim Betroffenen auslöst, die den Eingriff
im Einzelfall unverhältnismäßig werden lassen kann. Die Zahl der Fälle dürfte,
die Ergebnisse der Evaluierung zugrunde gelegt (Urteil Rn. 17), nicht groß sein,
insbesondere dann nicht, wenn man auch darauf abstellt (vgl. Urteil Rn. 142
ff.), dass sich der natürliche Wille der Betroffenen gerade gegen eine
Behandlung im Krankenhaus richtet und in Heimen und sonstigen Einrichtungen in
diesen Konstellationen häufig eine einvernehmliche Behandlung möglich und somit
keine Zwangsbehandlung nötig ist (vgl. Urteil Rn. 14).
3
2. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG fordert als Abwehrrecht aber zunächst nur,
dass der unverhältnismäßige Eingriff – hier die Behandlung in einem Krankenhaus
– unterbleiben muss. Als Abwehrrecht fordert Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG
nicht, dass der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage für einen Eingriff schaffen
muss, der diese Unverhältnismäßigkeit vermeidet. Unterbleibt der Eingriff
insgesamt, entfällt auch die mit ihm verbundene Unverhältnismäßigkeit. Die
Abwehrfunktion der Grundrechte verbürgt das Recht, einen unverhältnismäßigen
Eingriff abzuwehren, nicht aber das Recht, an seiner Stelle einen
verhältnismäßigen Eingriff verlangen zu können, auch nicht, wenn man die
Voraussetzungen denkbar eng fasst, wie es dem Senat ersichtlich vorschwebt
(siehe etwa Urteil Rn. 155 ff.). Liegt eine solche Situation im Einzelfall vor,
muss „nur“ der Eingriff unterbleiben. Die gemäß § 1906a Abs. 2 BGB a.F.
erforderliche richterliche Billigung der Zwangsbehandlung darf in diesen Fällen
nicht erfolgen. Die vorgelegte gesetzliche Regelung gewährleistet daher
ausreichenden Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen und ist insoweit
verfassungsgemäß.
4
3. a) Ein Anspruch auf Schaffung einer Eingriffsgrundlage für eine ambulante
Zwangsbehandlung für diese Fälle, in denen gerade die Zwangsbehandlung im
Krankenhaus zu einer Unverhältnismäßigkeit der Belastung führt, kann sich daher
nur aus der Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ergeben, wie nicht
nur der Bundesgerichtshof in der hiesigen Vorlage, sondern auch der Senat in der
Entscheidung vom 26. Juli 2016 - 1 BvL 8/15 - (BVerfGE 142, 313) der Sache nach
annimmt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermittelt
die sich aus der objektiven Bedeutung der Freiheitsrechte gerade auch bei Art. 2
Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ergebende Schutzpflicht einen Anspruch des
Grundrechtsträgers oder der ‑trägerin gegen den Gesetzgeber auf Tätigwerden nur,
wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die
getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig
unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich
hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 142, 313 <337 f. Rn. 70>; 157,
30 <114 Rn. 152>, 158, 170 <191 Rn. 50>; 160, 79 <105 Rn. 71>; stRspr). Für
unter Betreuung stehende Menschen, die die Erforderlichkeit einer medizinischen
Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen
oder nicht danach handeln können, folgt daraus die Pflicht des Gesetzgebers, ein
System der Hilfe und des Schutzes zu schaffen (vgl. BVerfGE 142, 313 <338 Rn.
71>).
5
Anders als noch bei der der gerade zitierten Entscheidung vom 26. Juli 2016 ‑ 1
BvL 8/15 - (BVerfGE 142, 313) zugrunde liegenden Rechtslage hat der Gesetzgeber
mit § 1906a BGB a.F. und damit auch mit dem hier in Rede stehenden § 1906a Abs.
1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ein System der Hilfe und des Schutzes geschaffen. Dies
genügt grundsätzlich, da der Senat seinerzeit zu Recht darauf hinwies, dass der
Gesetzgeber zwar keinen Spielraum hinsichtlich der Frage hätte, ob überhaupt
verbindliche Regeln für die ärztliche Behandlung in ihrer Gesundheitssorge
Betreuter vorzusehen seien, sehr wohl aber hinsichtlich der hier relevanten
Frage, wie die Regeln auszugestalten seien (vgl. BVerfGE 142, 313 <341 f. Rn. 80
f.>).
6
b) Bezogen auf die oben zitierte allgemeine Formel zur Schutzpflicht (Rn. 4) ist
die Fallgruppe des Fehlens jeglicher Schutzvorkehrungen daher hier nicht mehr
gegeben. Ein weitergehender Anspruch würde folglich nur bestehen, wenn die
getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig
unzulänglich wären, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie
erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben. Die hier in Rede stehende
Belastung für den Grundrechtsträger beruht auf einem Tatbestandsmerkmal der
Eingriffsnorm (Durchführung im Rahmen eines stationären Aufenthalts im
Krankenhaus gemäß § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.), das selbst eine
Schutzfunktion für den von § 1906a Abs. 1 BGB a.F. ermöglichten Eingriff
wahrnimmt (Urteil Rn. 116). Die Monopolisierung der medizinischen
Zwangsbehandlung im Krankenhaus soll unstreitig den in der Zwangsbehandlung
liegenden erheblichen Eingriff für die Betroffenen verfahrensmäßig absichern.
Bei einer solchen Lage lässt sich meines Erachtens nur dann von einer
offensichtlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Schutzzielerreichung im
Sinne der obigen Formel sprechen, wenn die durch die gegenwärtige Rechtslage
herbeigeführte Belastung für den Einzelnen außer Verhältnis zu ihrem Zweck, hier
der Absicherung des erheblichen Eingriffs, steht.
7
Angesichts der (auch nach der mündlichen Verhandlung) unsicheren
Tatsachengrundlage hinsichtlich der Belastungswirkungen des Eingriffs, der
möglichen Erfolge der in Rede stehenden Behandlungen, der Belastungswirkung der
Verbringung ins Krankenhaus, der Belastungswirkung der in Rede stehenden
Alternativbehandlungen und der sich hieraus ergebenden Risiken sowie der
Uneinigkeit der sachverständigen Gruppen sehe ich mich nicht in der Lage, eine
die Schutzpflicht verletzende, offensichtlich ungeeignete oder völlig
unzulängliche Rechtslage anzunehmen. Durch die Einführung weiterer (auch noch so
eng gefasster) Formen der Zwangsbehandlung wird nach meiner Einschätzung
vielmehr eine Gefahr der Absenkung der materiellen Eingriffsschwelle begründet.
Ob diese Gefahr der Absenkung des Schutzstandards hinzunehmen ist, hat bei einer
so unsicheren Erkenntnisgrundlage, wie sie hier vorliegt, ausschließlich der
Gesetzgeber zu entscheiden. Angesichts des ersichtlich umsichtigen und die
aktuelle Entwicklung im Blick behaltenden Vorgehens des Gesetzgebers im
Sachbereich der medizinischen Zwangsbehandlung erscheint mir im Festhalten an
den strengen Eingriffsvoraussetzungen und der Weigerung, diese Schutzwirkungen
zu relativieren, auch kein erhebliches Zurückbleiben hinter dem Schutzziel
vorzuliegen, gerade weil auf diese Weise dem nach den Grundsätzen einer modernen
Psychiatrie spezifisch zu schützenden natürlichen Willen besonders Rechnung
getragen wird.
8
Die fehlende Durchführbarkeit der medizinischen Zwangsbehandlung beruht in
diesen Fällen letztlich auf einem Respekt vor diesem natürlichen Willen. Können
Betroffene keinen freien Willen in Bezug auf den Umgang mit einer Krankheit
bilden, bleibt ein etwa vorhandener natürlicher Wille in Bezug auf ihre
Krankheit verfassungsrechtlich auch hier Ausdruck ihres durch das Recht auf
freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit geschützten Selbstbestimmungsrechts, in
das auch unter diesen Voraussetzungen im Falle einer Zwangsbehandlung
eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 142, 313 <340 Rn. 76 >).
9
Dies zugrunde gelegt, wäre auf die Vorlage des Bundesgerichtshofs zu antworten,
dass die vorgelegte Norm (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.) verfassungsgemäß
war.
Wolff
European Case Law Identifier (ECLI):
ECLI:DE:BVerfG:2024:ls20241126.1bvl000124
Zitiervorschlag:
BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 26. November 2024 - 1 BvL 1/24 -, Rn.
1-180,
https://www.bverfg.de/e/ls20241126_1bvl000124
Stellungnahme
im
Verfassungsbeschwerdeverfahren
Bundesverfassungsgericht
2. Senat
Schloßbezirk 3
76131 Karlsruhe
Berlin, den 12.02.2010 / JSC
Unser Zeichen 128/2010 SSC
In dem
Verfassungsbeschwerdeverfahren
des Herrn P.
...
Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V.
Geschäftsstelle:
Haus der Demokratie und
Menschenrechte
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin
E-Mail: die-bpe@gmx.de
http://www.die-bpe.de/forensik/
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 28/2011 vom 15. April 2011
2 BvR 882/09
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen medizinische Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels - Rheinland-pfälzische gesetzliche Regelung verfassungswidrig
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 1999 aufgrund einer Verurteilung wegen im Zustand der Schuldunfähigkeit begangener Gewalttaten im Maßregelvollzug. Die Maßregelvollzugsklinik kündigte ihm schriftlich die Behandlung „mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen Ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, an. Den hiergegen gerichteten Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung wies das Landgericht mit der Maßgabe zurück, dass eine zwangsweise medikamentöse Therapie mittels atypischer Neuroleptika für einen Zeitraum von sechs Monaten zulässig sei. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht hatte keinen Erfolg.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Maßregelvollzugsgesetzes (MVollzG Rh.-Pf.) sind operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen des Untergebrachten nur mit seiner Einwilligung zulässig, wenn sie mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind; sonstige operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen sind ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Ferner bestimmt der im konkreten Fall als Rechtsgrundlage herangezogene § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. in seinem ersten Halbsatz, dass im Übrigen Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden können.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar und nichtig ist. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts wurden aufgehoben, da sie mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für die angekündigte Zwangsbehandlung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen (Zwangsbehandlung) greift in besonders schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein.
Dem Gesetzgeber ist es nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe zuzulassen. Dies gilt auch für eine Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels dient, also darauf gerichtet ist, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen. Zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffs kann das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig ist. Soweit unter dieser Voraussetzung ausnahmsweise eine Befugnis zur Zwangsbehandlung anzuerkennen ist, eröffnet dies keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseite gesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint.
Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Sie dürfen nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Eine weniger eingreifende Behandlung muss aussichtslos erscheinen. Der Zwangsbehandlung muss, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, unabhängig von seiner Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, die auf Vertrauen gegründete Zustimmung des Untergebrachten zu erreichen.
Der in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte ist zudem zur Wahrung seiner Grundrechte in besonders hohem Maße auf verfahrensrechtliche Sicherungen angewiesen. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen ist eine hinreichend konkrete Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit unabdingbar ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch einen Arzt. Zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes und der Verhältnismäßigkeit ist es geboten, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behandlungsmaßnahmen eingehend zu dokumentieren. Im Hinblick auf die besonderen situationsbedingten Grundrechtsgefährdungen, denen der Untergebrachte ausgesetzt ist, muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass der Durchführung einer Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels eine Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung vorausgeht. Die Ausgestaltung der Art und Weise, in der dies geschieht, ist Sache des Gesetzgebers.
Die wesentlichen materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen des Eingriffs bedürfen gesetzlicher Regelung.
Die Eingriffsermächtigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. genügt, auch in Verbindung mit weiteren Bestimmungen des rheinland-pfälzischen Maßregelvollzugsgesetzes, diesen Anforderungen nicht. Insbesondere fehlt es an der gesetzlichen Regelung des unabdingbaren Erfordernisses krankheitsbedingt fehlender Einsichtsfähigkeit. Auch eine Reihe weiterer für den Grundrechtsschutz wesentlicher Eingriffsvoraussetzungen ist nicht oder nur unzureichend geregelt.
http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg11-028.html
Zitierung: BVerfG, 2 BvR 882/09 vom 23.3.2011, Absatz-Nr. (1 - 83), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20110323_2bvr088209.html
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Leitsätze
zum Beschluss des Zweiten Senats
vom 23. März 2011
- 2 BvR 882/09 -
1. Der schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG, der in der medizinischen Behandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen liegt, kann auch zur Erreichung des Vollzugsziels gerechtfertigt sein.
2. Eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels ist nur zulässig, wenn der Untergebrachte krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig ist. Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur als letztes Mittel und nur dann eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Zum Schutz der Grundrechte des Untergebrachten sind besondere verfahrensmäßige Sicherungen geboten.
3. Die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung bedürfen klarer und bestimmter gesetzlicher Regelung. Dies gilt auch für die Anforderungen an das Verfahren.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 882/09 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. David Schneider-Addae-Mensah,
Heidenschanzweg 3, 77694 Kehl -
gegen a) den Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 18. März 2009 - 1 Ws 365/08 (Vollz) -,
b) den Beschluss des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 16. Oktober 2008 - 2 StVK 255/06 -,
c) die Ankündigung der Zwangsmedikation des Beschwerdeführers durch Schreiben des Pfalzklinikums Klingenmünster vom 28. September 2006 - Dr. Atm./Zs. -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau,
Huber,
Hermanns
am 23. März 2011 beschlossen:
1. § 6 Absatz 1 Satz 2 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (Maßregelvollzugsgesetz - MVollzG -) vom 23. September 1986 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz, Seite 223), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2004 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz, Seite 571), ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
2. Die Beschlüsse des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 16. Oktober 2008 - 2 StVK 255/06 - und des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 18. März 2009 - 1 Ws 365/08 (Vollz) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Landau in der Pfalz zurückverwiesen.
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
4. Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (Maßregelvollzugsgesetz - MVollzG).
2
§ 6 MVollzG Rh.-Pf. lautet wie folgt:
3
§ 6 Zulässigkeit von Maßnahmen
4
(1) Operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind, sind nur mit seiner Einwilligung zulässig; sonstige operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen sind ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Im übrigen können Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden; zum allgemeinen Gesundheitsschutz oder zur Hygiene sind sie zulässig, wenn sie nicht mit einem Eingriff verbunden sind.
5
(2) Eine zwangsweise Ernährung des untergebrachten Patienten ist zulässig, wenn und solange Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für seine Gesundheit besteht, er ohne Bewußtsein ist, er aus anderen Gründen zur natürlichen Nahrungsaufnahme nicht in der Lage ist und keinen körperlichen Widerstand leistet oder er seinen Willen infolge Krankheit nicht frei bestimmen kann. Der untergebrachte Patient, der die Nahrungsaufnahme verweigert, ist über die Gefahren und Folgen seines Verhaltens zu belehren.
6
(3) Zur zwangsweisen Durchführung von Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ist die Einrichtung nicht verpflichtet, solange von einer freien Willensbestimmung des untergebrachten Patienten ausgegangen werden kann; dies gilt nicht bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen.
7
(4) Ist der untergebrachte Patient nicht in der Lage, Grund, Bedeutung und Tragweite der Maßnahmen einzusehen oder seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen, so ist die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters maßgebend. Besitzt der untergebrachte Patient zwar die in Satz 1 genannten Fähigkeiten, ist er aber in der Geschäftsfähigkeit beschränkt, so ist neben seiner Einwilligung die seines gesetzlichen Vertreters erforderlich.
8
(5) Die Maßnahmen müssen für den untergebrachten Patienten zumutbar sein und dürfen nicht außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Erfolg stehen. Sie dürfen nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden. Die Leistung Erster Hilfe bleibt hiervon unberührt; der gesetzliche Vertreter des untergebrachten Patienten ist über den Vorfall, der die Leistung Erster Hilfe erforderlich machte, zu unterrichten.
9
(6) Über eine gegen den Willen des untergebrachten Patienten durchgeführte Maßnahme sind die Aufsichtsbehörde und ein von der obersten Aufsichtsbehörde zu bestimmender Arzt sowie der gesetzliche Vertreter des untergebrachten Patienten zu unterrichten.
10
Der Gesetz gewordenen Fassung von § 6 MVollzG Rh.-Pf. liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales und Gesundheit des Landtags Rheinland-Pfalz (LTDrucks 10/2613) zugrunde. Die ursprüngliche Fassung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LTDrucks 10/1669, S. 7) war wegen mangelnder Bestimmtheit der Abgrenzung der verschiedenen Regelungen des Absatzes 1 voneinander kritisiert worden (vgl. Landtag Rheinland-Pfalz, Ausschuss für Soziales und Gesundheit, Protokoll der 23. Sitzung vom 4. Februar 1986, S. 2). In der Aussprache, die der Abstimmung im Ausschuss vorausging, erläuterte ein Ministerialbeamter zum Verständnis der Beschlussempfehlung (Landtag Rheinland-Pfalz, Ausschuss für Soziales und Gesundheit, Protokoll der 26. Sitzung vom 25. April 1986, S. 1), in Absatz 1 könne deutlich eine vierfache Abstufung der verschiedenen Maßnahmen gesehen werden. Nach dem ersten Halbsatz des § 6 dürften Maßnahmen, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko des Patienten verbunden seien, nur mit Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden. Nach dem zweiten Halbsatz seien sonstige Maßnahmen ohne Einwilligung des Patienten nur zulässig bei Lebensgefahr, schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Durch den Beginn des folgenden Satzes mit den Worten „Im übrigen“ sei dieser Satz unterhalb der Ebene des Satzes 1 angesiedelt. Maßnahmen zur Erreichung des Vollzugsziels dürften ohne Einwilligung des Patienten nur durchgeführt werden, wenn sie nicht mit einem gesundheitlichen Risiko verbunden seien. Der zweite Halbsatz mache deutlich, dass diese Maßnahmen nur angewendet werden könnten, wenn sie nicht mit einem Eingriff verbunden seien. Bei der Schlussabstimmung im Plenum des Landtags bestätigte eine Abgeordnete, dass „in § 6 gravierende Eingriffe - da sind wir einer Meinung -, wie Operationen, Untersuchungen und Behandlungen, die ein wesentliches gesundheitliches Risiko in sich bergen oder aber eine Gefahr für das Leben bedeuten können, nur mit Einwilligung des untergebrachten Patienten oder seines Vertreters erfolgen“ dürften (Landtag Rheinland-Pfalz, Protokoll der 76. Sitzung vom 11. September 1986, S. 4602 <4606>).
II.
11
1. Der Beschwerdeführer ist aufgrund Urteils des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) seit dem 16. Dezember 1999 im Pfalzklinikum Klingenmünster im Maßregelvollzug untergebracht. Er hatte aufgrund einer wahnhaften Störung im Zustand der Schuldunfähigkeit mit einer Weinflasche auf seine schlafende Ehefrau eingeschlagen und versucht, diese zu ersticken. Danach hatte er mit einer weiteren Weinflasche auf seine im Bett liegende Tochter eingeschlagen.
12
Von Ende Dezember 1999 bis Ende Februar 2000 wurde der Beschwerdeführer mit einem atypischen Neuroleptikum behandelt. Die weitere Behandlung verweigerte der Beschwerdeführer wegen der Nebenwirkungen. Im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung stellte die externe Sachverständige Prof. Dr. N. im Jahre 2005 fest, dass die für die Anlasstat ursächliche paranoide Psychose fortbestehe. Die einzige Chance, den psychischen Zustand zu verbessern, liege in einer medikamentösen Behandlung mit Neuroleptika. Von Februar bis Ende November 2006 stand der Beschwerdeführer unter Betreuung für den Bereich der Gesundheitsfürsorge. Eine vom damaligen Betreuer beantragte und vom Vormundschaftsgericht erteilte Genehmigung für die Behandlung des Beschwerdeführers mit Neuroleptika hob das Landgericht auf mit der Begründung, die Behandlung sei, da keine Gefahr eines schweren und länger dauernden Schadens mit ihr verbunden sei, nicht gemäß § 1904 BGB genehmigungsbedürftig. Das Vormundschaftsgericht lehnte mit entsprechender Begründung die Erteilung der Genehmigung ab.
13
2. Mit angegriffenem Schreiben vom 28. September 2006 kündigte daraufhin die Klinik dem Beschwerdeführer die Behandlung „mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen Ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, an. Während der Verabreichung müssten in regelmäßigen Abständen Blutentnahmen durchgeführt werden, da die Medikamente unter Umständen zu Blutbildveränderungen führen oder auch den Stoffwechsel der Leber beeinträchtigen könnten. In der Verabreichung von Medikamenten bestehe die einzige Möglichkeit, die wahnhaften Überzeugungen des Beschwerdeführers zu korrigieren. Nach § 6 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. könnten Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden. Dem Beschwerdeführer stehe es frei, gegen die angekündigten Maßnahmen Beschwerde bei der Strafvollstreckungskammer einzulegen.
14
3. a) Der Beschwerdeführer legte „Beschwerde“ ein und beantragte eine externe fachärztliche Begutachtung. Die angedrohte Behandlung sei mit einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit verbunden und deshalb nicht gegen seinen Willen zulässig. Die Gefahr ergebe sich schon aus der von der Klinik selbst angeführten Möglichkeit von Blutbildveränderungen und Funktionsbeeinträchtigungen der Leber. Darüber hinaus wirkten die Medikamente persönlichkeitsverändernd. Dass das Vormundschaftsgericht das Vorliegen eines schweren und länger andauernden gesundheitlichen Schadens verneint habe, stehe dem nicht entgegen, denn die Voraussetzungen des § 1904 BGB und des § 6 MVollzG Rh.-Pf. seien nicht gleichbedeutend. Ärztliche Eingriffe dürften zudem, auch wenn sie nicht mit einer erheblichen Gesundheitsgefahr verbunden seien, gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 MVollzG Rh.-Pf. nur bei Lebensgefahr oder schwerwiegender Gesundheitsgefahr für den Untergebrachten oder für Dritte gegen seinen Willen vorgenommen werden. Hieran fehle es. Eine Zwangsmedikation missachte ferner den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Schon die Geeignetheit der Behandlung sei - eine psychische Erkrankung unterstellt - zweifelhaft. Bereits in der Vergangenheit habe eine solche Behandlung nicht angeschlagen. Die Behandlung sei auch nicht erforderlich; der Beschwerdeführer nehme an Therapiesitzungen teil, halte sein Umfeld sauber und verhalte sich erstaunlich diszipliniert.
15
b) Die Klinik wies in ihrer Stellungnahme vom 2. November 2006 darauf hin, dass die frühere Behandlungsdauer mit dem Medikament Zyprexa zu kurz gewesen sei, um eine wesentliche Besserung der Symptomatik zu erreichen. Eine Mindestbehandlungsdauer von sechs Monaten sei erforderlich. Bei dem Beschwerdeführer bestehe keine Krankheitseinsicht; er halte in unkorrigierbarer Weise an seinen paranoiden Beziehungs- und Beeinträchtigungsideen fest. Den Sinn der Behandlung vermöge er deshalb nicht einzusehen. Er fürchte vielmehr, dass seine Fähigkeit, sich gegen schädliche Substanzen zur Wehr zu setzen, durch die Medikamente beeinträchtigt werde. Ohne medikamentöse Therapie würde die Unterbringung auf eine reine Verwahrung hinauslaufen und zu einer Verfestigung der Störung führen. Zu diesem Schluss komme auch die Sachverständige Prof. Dr. N. Als Erfolg könne schon gewertet werden, wenn eine Teilkorrektur und Entdynamisierung der Problematik erreicht werden könne. Die vom Beschwerdeführer befürchteten Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit oder Müdigkeit könnten durch eine fachgerechte Behandlung sehr gering gehalten werden.
16
c) Das Landgericht legte die Beschwerde als Antrag gemäß § 138 Abs. 3, § 109 Abs. 1 StVollzG aus und wies mit angegriffenem Beschluss vom 16. Oktober 2008 den Antrag mit der Maßgabe zurück, dass eine zwangsweise medikamentöse Therapie mittels atypischer Neuroleptika für einen Zeitraum von sechs Monaten zulässig sei.
17
Die Zwangsbehandlung eines nach § 63 StGB Untergebrachten stelle einen massiven Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dar. Ihre Zulässigkeit richte sich nach § 6 MVollzG Rh.-Pf.
18
Das Einwilligungserfordernis des § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. für Behandlungsmaßnahmen mit wesentlichem gesundheitlichen Risiko oder Lebensgefahr sei hier nicht einschlägig. Zutreffende Diagnose und fachgerechte Medikation vorausgesetzt, sei die Behandlung mit Neuroleptika generell nicht mit einer Lebensgefahr oder einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit verbunden. Auch nach Einschätzung der behandelnden Fachärzte bestehe lediglich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt schwerwiegender und länger dauernder Schäden.
19
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 MVollzG Rh.-Pf. seien Maßnahmen ohne jede Einwilligung nur bei - hier nicht vorliegender - besonderer Gefahrenlage erlaubt. Rechtsgrundlage für die Zwangsbehandlung der Anlasserkrankung sei deshalb § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. Soweit nach dem Wortlaut dieser Bestimmung („Im übrigen können Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden; ...“) jede Zwangsbehandlung erlaubt sei, bedürfe die Vorschrift allerdings der verfassungskonformen Auslegung dahingehend, dass eine Unter- und eine Obergrenze zulässiger Behandlung zu beachten seien. Im konkreten Fall bestünden gegen die beabsichtigte Zwangsbehandlung keine Bedenken. Der Beschwerdeführer leide seit Jahren an einer schweren psychischen Erkrankung in Form von Wahnvorstellungen. Infolgedessen hätten ihm bislang keine Lockerungen bewilligt werden können. Vielfältige Versuche, seine Einwilligung in eine medikamentöse Therapie zu erreichen, seien gescheitert. Der Beschwerdeführer sei infolge seiner Erkrankung nicht in der Lage, die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen zu beurteilen. Er sei deshalb auch nicht zur Einwilligung in der Lage. Das Selbstbestimmungsrecht des Untergebrachten und eine in weniger gewichtigen Fällen grundsätzlich bestehende „Freiheit zur Krankheit“ fänden dort ihre Grenze, wo eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung abgewendet werden müsse. Die vorgesehene Behandlung mittels atypischer Neuroleptika minimiere eventuell eintretende Nebenwirkungen. Durch die geplanten regelmäßigen Kontrollen könnten schwere oder länger andauernde Schäden ausgeschlossen werden. Dass bei der früheren Behandlung kein Erfolg eingetreten sei, hätten die Ärzte nachvollziehbar mit der kurzen Behandlungsdauer erklärt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt. Die Zwangsbehandlung stelle das letztmögliche Mittel dar. Die zu erwartenden Nebenwirkungen seien vergleichsweise gering. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei eine Besserung der Anlasserkrankung zu erwarten.
20
Die Behandlung sei aber nach den ärztlichen Darlegungen nur für eine Dauer von sechs Monaten gerechtfertigt; danach müsse gegebenenfalls ein externer Sachverständiger hinzugezogen werden. In jedem Fall bedürfe die neue Entschließung über die Erforderlichkeit der Fortführung der Zwangsmedikation der Dokumentation sowie der Bekanntgabe an den Untergebrachten.
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4. a) Mit der Rechtsbeschwerde (§§ 116 ff. StVollzG) rügte der Beschwerdeführer erneut, § 6 MVollzG Rh.-Pf. erlaube die angekündigte Behandlung nicht. Dieser fehle die notwendige Rechtsgrundlage. Die Strafvollstreckungskammer habe die Unverhältnismäßigkeit der Zwangsbehandlung verkannt. Hinsichtlich der - sehr wohl auch bei atypischen Neuroleptika bestehenden - Gefahr schwerer Nebenwirkungen habe sie den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Vernachlässigt worden sei das Risiko, dass sich durch die Behandlung ein psychischer Defekt erst bilde oder verstärke.
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b) Das Oberlandesgericht verwarf mit angegriffenem Beschluss vom 18. März 2009 die Rechtsbeschwerde als unbegründet. Die rechtlichen Grundlagen der Zwangsbehandlung seien von der Strafvollstreckungskammer zutreffend dargelegt worden. Mit § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. habe der Landesgesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien sicherstellen wollen, dass während der Vollziehung einer Maßregel der Besserung und Sicherung der Patient nicht nur verwahrt, sondern auch, wenn notwendig gegen seinen Willen, behandelt werde, um einerseits den Untergebrachten zu befähigen, ein in der Gemeinschaft eingegliedertes Leben zu führen, und andererseits die Allgemeinheit vor weiteren rechtswidrigen Taten zu schützen. Damit diene die Behandlung dem Ziel der Wiederherstellung der psychischen Gesundheit und damit auch der Beendigung der Unterbringung. Dass die Zwangsbehandlung nicht schrankenlos möglich, sondern nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beschränken sei, ergebe sich aus § 6 Abs. 5 MVollzG Rh.-Pf. Die im Falle des Beschwerdeführers vorgesehene Gabe atypischer Neuroleptika diene, wie es § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. voraussetze, dem Vollzugsziel. Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer seien auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Behandlung zu einer Persönlichkeitsveränderung im Kernbereich führen könnte, wie sie nach den ausdrücklichen Bestimmungen verschiedener Landesgesetze einer Zwangsbehandlung entgegenstünde. Die vom Beschwerdeführer als Anlagen vorgelegten Veröffentlichungen über Neuroleptika seien nicht geeignet, eine andere Bewertung herbeizuführen. Sie spiegelten lediglich die Bandbreite der allgemeinen Diskussion über die Vor- und Nachteile dieser Medikamente wider, hätten aber keine Aussagekraft für den konkreten Einzelfall. Dass Art und Dosierung der zukünftigen Behandlung nicht im Einzelnen festgelegt worden seien, sei unschädlich; insoweit handele es sich um zunächst von den behandelnden Ärzten in eigener Verantwortung zu entscheidende Fragen.
III.
23
Mit der Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts sowie gegen die Ankündigung der Zwangsmedikation seitens der Klinik richtet, rügt der Beschwerdeführer, seine Rechte aus Art. 2 Abs. 2, Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 EMRK sowie sein Recht auf ein faires Verfahren seien verletzt.
24
Schon die Androhung der Zwangsmedikation stelle einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dar. Für den Eingriff fehle es an einer ausreichenden Rechtsgrundlage. § 6 MVollzG Rh.-Pf. erlaube die Zwangsmedikation bei schweren physischen und psychischen Eingriffen nur mit Einwilligung des Betroffenen. Um eine im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. gefährliche Behandlung, die nicht ohne Einwilligung vorgenommen werden dürfe, handele es sich angesichts der unterschiedlichen Wirkungen unterschiedlicher Neuroleptika schon deshalb, weil das konkret einzusetzende Medikament nicht angegeben und die Behandlung auch sonst nicht näher konkretisiert worden sei. Denn von diesbezüglicher Konkretisierung hingen Eingriffsintensität und Verhältnismäßigkeit ab. Mit erheblichen gesundheitlichen Auswirkungen sei auch bei Beschränkung der Medikation auf atypische Neuroleptika zu rechnen. Der gegenwärtige Stand der Wissenschaft erlaube keine zuverlässigen Aussagen über die Wirkungsweise und die Nebenwirkungen typischer wie atypischer Neuroleptika. Die Gerichte hätten versäumt, dem nachzugehen. Die Ungefährlichkeit der geplanten Behandlung ergebe sich, weil die frühere Behandlung nur über einen kurzen Zeitraum erfolgt sei, auch nicht aus dieser früheren Behandlung. Die Zwangsmedikation sei unverhältnismäßig, da weder ihre Geeignetheit feststehe noch ihre Erforderlichkeit und Angemessenheit gegeben sei. Zudem werde in die Entscheidungsfreiheit des Beschwerdeführers eingegriffen, indem er mit der Warnung, er könne sonst nie entlassen werden, unter Druck gesetzt werde. Seine Fähigkeit, die gesundheitlichen Auswirkungen der Behandlung selbst abzuschätzen, werde dadurch verdeutlicht, dass er nicht unter Betreuung stehe. Kranke dürften nicht gezwungen werden, gesund zu werden. Art. 2 Abs. 1 GG schütze auch vorsätzliche Selbstschädigungen. Der Beschwerdeführer werde unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG zum Objekt gemacht.
IV.
25
Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, die Landesregierung und der Landtag von Rheinland-Pfalz, der Bundesgerichtshof, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener Stellung genommen. Der Bundesrat und die Parlamente und Regierungen der übrigen Länder haben von der Gelegenheit zur Äußerung keinen Gebrauch gemacht.
26
1. Für die Bundesregierung hat das Bundesministerium der Justiz zur Zwangsbehandlung auf betreuungsrechtlicher Grundlage ausgeführt: Die Bestellung eines Betreuers für einen Volljährigen setze voraus, dass dieser aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung keinen freien Willen mehr bilden könne. Maßstab für das Handeln des Betreuers seien die Wünsche und das Wohl des Betreuten. Liege keine Patientenverfügung vor, habe sich der Betreuer am mutmaßlichen Willen des Betreuten zu orientieren. Eine Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht komme nur in Betracht, wenn eine Betreuerbestellung gegen den (natürlichen) Willen des Betreuten möglich war, weil ein entgegenstehender Wille nicht frei gebildet wurde, der ärztliche Eingriff zum ausschließlich subjektiv verstandenen Wohl des Betreuten notwendig sei und der Betreute auch insoweit keinen der Behandlung entgegenstehenden Willen frei gebildet habe. Das Betreuungsrecht erkenne damit sowohl die Freiheit zur Krankheit als auch die Freiheit zur Selbstschädigung an. Eine „Besserung“ des Betreuten gegen seinen freien Willen erlaube das Betreuungsrecht dagegen nicht. Das finde zwar nicht überall Zustimmung. Insbesondere Eltern bäten häufig dringend um staatliche Zwangsmaßnahmen zum Schutz ihrer drogenabhängigen volljährigen Kinder. Aus Sicht der Bundesregierung gebe das aber keinen Anlass, vom Konzept des geltenden Betreuungsrechts abzuweichen. Ob Maßnahmen der Zwangsbehandlung nach Gefahrenabwehrrecht oder, im Falle einer Unterbringung im Maßregelvollzug, nach Maßregelvollzugsrecht zulässig und von den spezifischen Zwecksetzungen dieser Rechtsgrundlagen gedeckt seien, ergebe sich aus Landesrecht.
27
2. a) Für die rheinland-pfälzische Landesregierung hat das Ministerium der Justiz Stellung genommen. Die vorgesehene Behandlung mit Neuroleptika sei aus rechtlichen und medizinischen Gesichtspunkten notwendig. Das Maßregelvollzugskrankenhaus habe einen auf das Vollzugsziel ausgerichteten Behandlungsauftrag (§ 5 Abs. 1 und 2 MVollzG Rh.-Pf.), der es verpflichte, die Erkrankung des untergebrachten Patienten umfassend zu behandeln. § 6 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. erlaube Eingriffe, die mit einem besonderen Risiko für den Untergebrachten verbunden sind, nur mit dessen Einwilligung; andere Eingriffe seien dagegen ohne Einwilligung zulässig. Dabei sei zu unterscheiden zwischen operativen Eingriffen und einfachen Eingriffen, etwa mittels einer Spritze. Im vorliegenden Fall seien nur einfache Eingriffe, nämlich die intramuskuläre Injektion des Medikaments und die gewöhnliche Blutentnahme aus der Vene, vorgesehen. Beides könne ohne Einverständnis des untergebrachten Patienten erfolgen. Von dem Medikament selbst gehe kein wesentliches Gesundheitsrisiko im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. aus. Ohne die Behandlung sei die Gesundheit des Beschwerdeführers durch die Anlasserkrankung schwerwiegend gefährdet. Die Medikation dürfe im vorliegenden Fall auch zwangsweise erfolgen. Das Vollzugskrankenhaus habe sich lange und intensiv bemüht, das Einverständnis des Beschwerdeführers zu erlangen. Die ihm drohenden Freiheitsbeschränkungen seien ihm im Hinblick auf den zu erwartenden Heilungserfolg, der mittelfristig zur Entlassung aus dem Maßregelvollzug führen könne, zumutbar und stünden nicht außer Verhältnis zum erwarteten Erfolg.
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b) Mit Schreiben vom 2. November 2010 hat das rheinland-pfälzische Ministerium der Justiz ein zwischenzeitlich im Verfahren der Überprüfung der Unterbringung eingeholtes Gutachten des Facharztes für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P. nachgereicht, dem zufolge beim Beschwerdeführer weiterhin eine wahnhafte Erlebnisverarbeitung mit dem Thema der Beeinträchtigung und Vergiftung feststellbar ist. Es handele sich um eine zeitlich überdauernde psychische Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Im zwischenzeitlich mehr als zehnjährigen Krankheitsverlauf sei es zu einer beträchtlichen Chronifizierung gekommen; bedeutsame Abnahmen der Symptomausprägung seien nicht feststellbar. Eine Verbesserung der Verlaufsprognose sei nur durch eine konsequente medikamentöse Behandlung mit einem antipsychotischen Präparat („frühere Bezeichnung: Neuroleptikum“) zu erzielen. Diese Medikamente seien nach klinischer und wissenschaftlicher Erkenntnis bei der Auflösung von Wahnphänomenen und Halluzinationen wirksam, würden das Misstrauen und die feindselige Ablehnung des Patienten eindämmen und damit die Grundlage eines therapeutischen Bündnisses und weitergehender psycho- und sozialtherapeutischer Maßnahmen bilden. Die bislang ausgebliebene Verminderung der deliktrelevanten Symptomatik sei ausschließlich auf die Verweigerung der gebotenen pharmakologischen Behandlung zurückzuführen. Die unterbliebene Behandlung belaste die Kriminalprognose, weil die Ansprechbarkeit auf medikamentöse Interventionen mit der Dauer der unbehandelten Psychose deutlich abnehme. Ob die Behandlung künftig Erfolg verspreche, müsse angesichts des langjährig sich selbst überlassenen Spontanverlaufs offen bleiben. Ohne Behandlung bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer aufgrund der anhaltenden deliktrelevanten Wahnsymptomatik dauerhaft keine Chance auf Resozialisierung habe.
29
3. Der Landtag des Landes Rheinland-Pfalz hält die angewendete landesgesetzliche Vorschrift für verfassungskonform. § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. verletze nicht die Menschenwürde. Der Maßregelvollzug solle dem Patienten die Chance eröffnen, wieder ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen; dementsprechend sei er zu behandeln (§ 5 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf.). Das Vollzugsziel rechtfertige allerdings nicht jede mögliche Behandlung gegen den Willen des Patienten. Dem trage § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. Rechnung, denn die Regelung ermächtige, wie aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, § 6 Abs. 3, § 6 Abs. 5 Satz 1 MVollzG Rh.-Pf. ersichtlich, nur zu im Einzelfall verhältnismäßigen Maßnahmen. § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein die körperliche Unversehrtheit beschränkendes Gesetz. Das Bestimmtheitsgebot sei beachtet. Die Formulierung „im übrigen“ in § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. schränke die nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. zulässigen Maßnahmen weiter ein. Der Eingriff sei demnach nur zulässig, wenn die Maßnahmen nicht mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des Patienten verbunden seien. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit sei § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. unbedenklich. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur zwangsweisen Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt ergebe sich, dass auch gegen den Willen des Grundrechtsträgers Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die nicht mit einer Gefahr für das Leben oder einem wesentlichen Gesundheitsrisiko für den Betroffenen verbunden sind, allein zu seinem Schutz zulässig sein könnten. Sofern der Patient die Bedeutung des Eingriffs oder der Verweigerung nicht erfassen könne, sei nach § 6 Abs. 4 MVollzG Rh.-Pf. zu verfahren. Sofern der Patient zur freien Willensbestimmung in der Lage sei, sei eine Zwangsbehandlung durch § 6 Abs. 5 Satz 1 MVollzG Rh.-Pf. verboten. Die in § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. vorgesehenen Zwangsmaßnahmen seien zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet. Grundsätzlich bestehe die Möglichkeit, etwa durch eine medikamentöse Zwangsbehandlung eine Besserung des Gesundheitszustands des Patienten und dessen Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu erreichen oder den Weg für eine dahin führende freiwillige Behandlung zu ebnen. Weniger eingreifende Mittel stünden nicht zur Verfügung. Soweit die Bestellung eines Betreuers als weniger einschränkend erwogen werde, sei zu berücksichtigen, dass eine von diesem genehmigte Zwangsbehandlung die gleiche Eingriffsintensität habe. Zudem könne der Landesgesetzgeber nicht auf bundesrechtlich zu regelnde Eingriffsbefugnisse nach dem Betreuungsrecht verwiesen werden. Die Regelung beachte auch das Übermaßverbot. Bestehe durch die Behandlung weder Lebensgefahr noch ein wesentliches gesundheitliches Risiko, sei eine Abwägung mit dem Risiko unbefristeter Fortdauer der Unterbringung im Maßregelvollzug im Falle der Nichtbehandlung der Anlasserkrankung geboten. Sofern eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels gegen den freien Willen des Patienten nicht bereits als gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 MVollzG Rh.-Pf. unzulässig anzusehen sei, könne § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. unter Berücksichtigung von § 6 Abs. 3 MVollzG Rh.-Pf. entsprechend verfassungskonform ausgelegt werden.
30
4. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Stellungnahme des XII. Zivilsenats zur Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht übersandt. Der Betreuer dürfe als gesetzlicher Vertreter des Betreuten für diesen in medizinische Behandlungen einwilligen, wenn der Betreute dazu selbst nicht in der Lage, insbesondere nicht einsichts- oder steuerungsfähig, sei. Der Betreuer sei indes nicht befugt, den einer solchen Behandlung entgegenstehenden Willen des Betreuten durch Zwang zu überwinden. Die Befugnis hierzu könne sich nur aus einem formellen Gesetz ergeben, das Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß der vom Betreuten unter Zwang zu duldenden Behandlung hinreichend bestimme. Allein aus den Vertretungsvorschriften der §§ 1901, 1902 BGB ergebe sich eine solche Zwangsbefugnis nicht. Jedoch sei § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB sinnvoll dahin auszulegen, dass der Betreute nicht nur seine freiheitsentziehende Unterbringung, sondern auch die Maßnahmen, deretwegen er untergebracht werden dürfe, zu dulden habe. § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB knüpfe die Zulässigkeit einer freiheitsentziehenden Unterbringung an ein doppeltes Notwendigkeitskriterium: Die Unterbringung müsse erforderlich sein, weil die medizinische Maßnahme notwendig sei und ohne die freiheitsentziehende Unterbringung faktisch nicht durchgeführt werden könne. Soweit medizinische Zwangsbehandlungen zulässig seien, sei in jedem Fall die dem Betreuten zustehende „Freiheit zur Krankheit“ zu beachten.
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5. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. hält eine zwangsweise Behandlung gegen den erklärten Willen des Betroffenen für grundsätzlich verfassungs- und menschenrechtswidrig. Im Speziellen sei die Behandlung mit nicht näher konkretisierten Neuroleptika im vorliegenden - exemplarischen - Fall grundgesetzwidrig und finde keine Grundlage in § 6 MVollzG Rh.-Pf.
32
Maßnahmen, die mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden seien, dürften nach § 6 MVollzG Rh.-Pf. ausschließlich mit dessen Einwilligung vorgenommen werden. Auch atypische Neuroleptika zeichneten sich durch vielfältige und teilweise häufige Nebenwirkungen aus. Da demnach mit der Verabreichung von Neuroleptika ein wesentliches gesundheitliches Risiko für den Beschwerdeführer einhergehe, finde die Zwangsbehandlung schon keine einfachgesetzliche Grundlage in § 6 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. Selbst wenn man mit den Fachgerichten die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. nicht als erfüllt ansehen wolle, greife die Zwangsbehandlung hier verfassungswidrig in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Es handele sich um eine rein vorsorgliche Maßnahme, die die Voraussetzungen für eine spätere Entlassungsfähigkeit des Patienten schaffen solle. Dem Untergebrachten stehe jedoch die Freiheit zur Krankheit zu. Die Abwägung mit dem Freiheitsrecht des Betroffenen führe zu keinem anderen Ergebnis. Eine Saldierung unterschiedlicher Grundrechtspositionen des Betroffenen selbst sei unzulässig; die Wertung und Hierarchisierung der betroffenen Grundrechte stehe allein ihrem Träger zu. Gegen eine Zwangsbehandlung der Anlasskrankheit spreche auch, dass es für den erfolgreichen Verlauf einer Therapie nicht zweckdienlich - da motivationsabträglich und vertrauenszerstörend - sei, Zwang einzusetzen. Ohne konkrete Aussicht auf Behandlungserfolg sei eine Zwangstherapie verfassungsrechtlich nicht zulässig.
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§ 6 MVollzG Rh.-Pf. sei unvereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention. Art. 12 Abs. 2 der Konvention verpflichte die Staaten, die Rechtsfähigkeit im Sinne einer rechtlichen Handlungsfähigkeit anzuerkennen. Geschützt sei dabei nicht allein die Fähigkeit, Träger von Rechten zu sein, sondern auch die Fähigkeit, diese Rechte auszuüben. Zwangsbehandlung könne auch nicht als eine Maßnahme verstanden werden, die im Sinne von Art. 12 Abs. 3 der Konvention der Person mit Behinderung die Unterstützung biete, der sie zur Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit bedürfe, denn die rechtliche Handlungsfähigkeit werde ihr mit der Zwangsbehandlung gerade genommen.
34
6. Für die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) haben deren Präsident, Prof. Dr. Dr. Frank Schneider, und deren Gesundheitspolitischer Sprecher, Prof. Dr. Jürgen Fritze, eine eingehende Stellungnahme zur Frage des möglichen Nutzens sowie der Risiken und möglichen Nebenwirkungen der Behandlung eines psychisch Kranken mit einem Neuroleptikum abgegeben.
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Die Wiedergabe des Kenntnisstandes zu einzelnen Nebenwirkungen zeigt unter anderem eine teilweise erhebliche Streuung der bei unterschiedlichen Untersuchungen angegebenen Häufigkeiten sowie, jedenfalls hinsichtlich motorischer Störungen, eine Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens von der Dauer der Verabreichung. Zusammenfassend kommt die Stellungnahme zu folgenden Ergebnissen: An der antipsychotischen Wirksamkeit der Neuroleptika gegen die Zielsymptome gebe es keinen Zweifel. Diese Wirksamkeit sei im Wesentlichen in Studien bei der Schizophrenie nachgewiesen. Kranke mit psychotischen Symptomen anderer Ursache könnten ebenfalls von Neuroleptika profitieren, auch wenn hierfür keine ausdrückliche arzneimittelrechtliche Zulassung bestehe. Es sei unmöglich, für den einzelnen Patienten a priori zu sagen, welches Neuroleptikum den größten Therapieerfolg und die geringsten Nebenwirkungen verspreche; es sei deshalb unvermeidlich, dem einzelnen Patienten die Chance zu geben, nacheinander mehrere Neuroleptika auszuprobieren. Die verschiedenen verfügbaren Neuroleptika unterschieden sich in ihrer Wirksamkeit nicht in einem für den einzelnen Patienten relevanten Maße. Sie hätten häufig objektiv erkennbare und subjektiv wahrgenommene Nebenwirkungen insbesondere auf Motorik und vegetative Funktionen. In Abhängigkeit von ihrem Rezeptorbindungsprofil unterschieden sie sich im Spektrum ihrer häufigen Nebenwirkungen. Die häufigen Nebenwirkungen seien grundsätzlich nach Absetzen reversibel. Nach Absetzen hinterließen Neuroleptika keine bleibenden Persönlichkeitsveränderungen. Lebensbedrohliche Nebenwirkungen seien möglich; sie kämen sehr selten (<1/10.000) bis gelegentlich (=1/1.000 bis <1/100) vor. Eine Ausnahme stelle Clozapin (bis etwa 1/100) dar.
B.
36
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit der Beschwerdeführer die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts angreift. Im Übrigen ist sie unzulässig. Nach der vom Beschwerdeführer nicht substantiiert angegriffenen Auffassung der Fachgerichte sollte durch die Ankündigung der Zwangsmedikation im Schreiben des Pfalzklinikums Klingenmünster vom 28. September 2006 dem Beschwerdeführer lediglich ermöglicht werden, vor Beginn der Zwangsbehandlung in wirksamer Weise, nämlich in Gestalt einer vorbeugenden Unterlassungsklage, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
37
Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie begründet. Die Beschlüsse, mit denen Landgericht und Oberlandesgericht die angekündigte Zwangsbehandlung als rechtmäßig bestätigt haben, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Für die angekündigte Zwangsbehandlung fehlt bereits die erforderliche, den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende gesetzliche Grundlage.
38
Die medizinische Zwangsbehandlung eines Untergebrachten greift in schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein (I.). Zwar kann ein solcher Eingriff, auch zur Erreichung des Vollzugsziels, im Einzelfall gerechtfertigt sein. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben sich jedoch strenge Anforderungen an die Zulässigkeit des Eingriffs. Dies betrifft sowohl die materiellen Eingriffsvoraussetzungen als auch deren Sicherung durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen. Die Eingriffsvoraussetzungen müssen in hinreichend klarer und bestimmter Weise gesetzlich geregelt sein (II.). Diesen Anforderungen genügt die Eingriffsermächtigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. nicht (III.).
I.
39
1. Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen (kurz: Zwangsbehandlung) greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Dieses Grundrecht schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Zu seinem traditionellen Gehalt gehört der Schutz gegen staatliche Zwangsbehandlung (vgl. BVerfGE 79, 174 <201>).
40
2. Dem Eingriffscharakter einer Zwangsbehandlung steht nicht entgegen, dass sie zum Zweck der Heilung vorgenommen wird. Eine schädigende Zielrichtung ist nicht Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (vgl. BVerfGE 89, 120 <130>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997 - 1 BvR 1071/95 -, NJW 1997, S. 3085).
41
Die Eingriffsqualität entfällt auch nicht bereits dann, wenn der Betroffene der abgelehnten Behandlung keinen physischen Widerstand entgegensetzt. Das bloße Aufgeben einer bestimmten Form des Protests kann nicht ohne Weiteres als Zustimmung gedeutet werden. Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten, die ihrer Art nach das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit berührt, greift in dieses Grundrecht allenfalls dann nicht ein, wenn sie von der frei, auf der Grundlage der gebotenen ärztlichen Aufklärung, erteilten Einwilligung des Untergebrachten gedeckt ist. Dies setzt voraus, dass der Untergebrachte einwilligungsfähig ist (vgl. BGHZ 29, 46 <51>; 154, 205 <210>) und keinem unzulässigen Druck ausgesetzt wurde, etwa durch das Inaussichtstellen von Nachteilen im Falle der Behandlungsverweigerung, die sich nicht als notwendige Konsequenzen aus dem Zustand ergeben, in dem der Betroffene unbehandelt voraussichtlich verbleiben oder in den er aufgrund seiner Weigerung voraussichtlich geraten wird.
42
Krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit eines Untergebrachten ändert ebenfalls nichts daran, dass eine gegen seinen natürlichen Willen erfolgende Behandlung, die seine körperliche Integrität berührt, einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG darstellt. Sie kann im Gegenteil dazu führen, dass der Eingriff von dem Betroffenen als besonders bedrohlich erlebt wird, und daher das Gewicht des Eingriffs noch erhöhen (dazu unter 3.). Fehlende Einsichtsfähigkeit lässt den Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG nicht von vornherein entfallen (vgl. BVerfGE 58, 208 <224 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. August 2001 - 1 BvR 618/93 -, NJW 2002, S. 206 <206 f.>; für die Freiheit der Person grundlegend BVerfGE 10, 302 <309>). Auf die Frage, ob für andere Grundrechte etwas anderes gilt (vgl. zur Testierfreiheit BVerfGE 99, 341 <351>), kommt es hier nicht an. Selbst die Einwilligung des für einen einsichts- und einwilligungsunfähigen Untergebrachten bestellten Betreuers nimmt daher der Maßnahme nicht den Eingriffscharakter, der darin liegt, dass sie gegen den natürlichen Willen des Betroffenen erfolgt (vgl. für den Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person durch Unterbringung BVerfGE 10, 302 <309 ff.>; für den in der medizinischen Zwangsbehandlung des Untergebrachten liegenden Eingriff Popp, Zwangsbehandlung von psychisch Kranken im Betreuungsrecht, 2003, S. 75 ff.; Tietze, Ambulante Zwangsbehandlungen im Betreuungsrecht, 2005, S. 56 ff., v. Storch, Der „fürsorgliche“ Entzug von Grundrechten, 2006, S. 30 ff., jeweils m.w.N.).
43
3. Bei der medizinischen Zwangsbehandlung eines Untergebrachten mit Neuroleptika handelt es sich um einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff.
44
Die materiellen Freiheitsgarantien des Art. 2 Abs. 2 GG - darunter das Recht auf körperliche Unversehrtheit - haben unter den grundrechtlich verbürgten Rechten ein besonderes Gewicht (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>). Medizinische Zwangsbehandlungen von Untergebrachten, und hier insbesondere operative Eingriffe und Zwangsmedikationen, stellen zudem eine besonders schwerwiegende Form des Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar (vgl. Wagner, in: Kammeier, Maßregelvollzugsrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. D 146; Lesting, in: Marschner/
Volckart/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 5. Aufl. 2010, Rn. B 208; Marschner, R&P 2005, S. 47 <49>; aus psychiatrischer Sicht Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften <im Folgenden: SAMW>, Zwangsmaßnahmen in der Medizin, Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW, 2005, S. 7; Dreßing/Salize, Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker, 2004, S. 30; Hell, in: Rössler/Hoff, Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, 2005, S. 89 <94>; für den Fall der Durchsetzung mittels unmittelbaren Zwangs s. etwa die Schilderungen bei Schaub-Römer, Zwang in der Psychiatrie, 1997, S. 24 f.; Termeer, in: Kebbel/Pörksen, Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie, 1998, S. 82 f.). Der Betroffene wird genötigt, eine Maßnahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt (vgl. RGSt 25, 375 <377 f.>; 38, 34 <34 f.>; BGHSt 11, 111 <112>; BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2007 - 1 StR 576/07 -, NStZ 2008, S. 278 <279>) und daher normalerweise nur mit der - in strafrechtlicher Hinsicht rechtfertigenden - Einwilligung des Betroffenen zulässig ist. Der in einer medizinischen Zwangsbehandlung liegende Eingriff berührt nicht nur die körperliche Integrität des Betroffenen als solche, sondern in besonders intensiver Weise auch das von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit geschützte Recht auf diesbezügliche Selbstbestimmung. Ein von anderen Menschen gezielt vorgenommener Eingriff in die körperliche Integrität wird als umso bedrohlicher erlebt werden, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sieht. Hinzu kommt, dass der Eingriff in der Unterbringung häufig Menschen treffen wird, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung den Schrecken der Zwangsinvasion in ihre körperliche Integrität und der Beiseitesetzung ihres Willens sowie die Angst davor besonders intensiv empfinden. Für die grundrechtliche Beurteilung der Schwere eines Eingriffs ist auch das subjektive Empfinden von Bedeutung (vgl. BVerfGE 89, 315 <324>). Die Gabe von Neuroleptika gegen den natürlichen Willen des Patienten schließlich stellt - unabhängig davon, ob nach fachgerichtlicher Einschätzung der Eingriff die in § 6 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. statuierten Voraussetzungen der Einwilligungsbedürftigkeit erfüllt oder im betreuungsrechtlichen Zusammenhang die Voraussetzungen der Genehmigungsbedürftigkeit nach § 1904 Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllen würde - einen besonders schweren Grundrechtseingriff auch im Hinblick auf die Wirkungen dieser Medikamente dar. Dies gilt schon im Hinblick auf die nicht auszuschließende Möglichkeit schwerer, irreversibler und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen und die teilweise erhebliche Streuung in den Ergebnissen der Studien zur Häufigkeit des Auftretens erheblicher Nebenwirkungen. Psychopharmaka sind zudem auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet. Ihre Verabreichung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen berührt daher, auch unabhängig davon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetzt wird, in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit.
II.
45
1. Ungeachtet der Schwere des Eingriffs, der in der Zwangsbehandlung eines Untergebrachten liegt, ist es dem Gesetzgeber nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe zuzulassen. Dies gilt auch für eine Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels (§ 136 StVollzG, § 1 Abs. 2 MVollzG Rh.-Pf.) dient, also darauf gerichtet ist, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen.
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a) Als rechtfertigender Belang kommt insoweit allerdings nicht der gebotene Schutz Dritter vor den Straftaten in Betracht, die der Untergebrachte im Fall seiner Entlassung begehen könnte. Dieser Schutz kann auch dadurch gewährleistet werden, dass der Untergebrachte unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibt. Er rechtfertigt daher keinen Behandlungszwang gegenüber einem Untergebrachten, denn dessen Weigerung, sich behandeln zu lassen, ist nicht der Sicherheit der Allgemeinheit vor schweren Straftaten, sondern seiner Entlassungsperspektive abträglich.
47
b) Zur Rechtfertigung des Eingriffs kann aber das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist.
48
aa) Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der - jedenfalls in den Augen Dritter - den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Daher ist es grundsätzlich Sache des Einzelnen, darüber zu entscheiden, ob er sich therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen unterziehen will, die ausschließlich seiner „Besserung“ dienen (vgl. BVerfGE 22, 180 <219 f.>). Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt auch die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind (vgl. BVerfGE 58, 208 <226>; 30, 47 <53>; 22, 180 <219>).
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bb) Das Gewicht, das dem eingeschränkten Grundrecht in der Abwägung mit denjenigen grundrechtlichen Belangen zukommt, die durch den Eingriff in dieses Recht gewahrt werden sollen, kann jedoch nicht vollkommen losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Grundrechtsträgers zu freier Willensentschließung bestimmt werden (vgl. BVerfGE 58, 208 <225>). Der Gesetzgeber ist daher berechtigt, unter engen Voraussetzungen Behandlungsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen des Grundrechtsträgers ausnahmsweise zu ermöglichen, wenn dieser zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat angenommen, dass unter dieser Voraussetzung der schwerwiegende Grundrechtseingriff, der in einer Freiheitsentziehung liegt, zum Schutz des Betroffenen selbst gerechtfertigt sein kann, und die nach Landesunterbringungsrecht für einen solchen Fall vorgesehene Möglichkeit fürsorgerischer Unterbringung zum Zweck der Behandlung gebilligt (vgl. BVerfGE 58, 208 <224 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 - 2 BvR 2270/96, NJW 1998, S. 1774 <1775>).
50
Für den Eingriff, der in der medizinischen Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen liegt, gilt nichts grundsätzlich Anderes. Demgemäß erachtet die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur Maßnahmen der Zwangsbehandlung Untergebrachter - auch solche, die auf deren Entlassungsfähigkeit gerichtet sind - nicht für generell unzulässig (vgl. BGHZ 145, 297 <305>; KG, Beschluss vom 29. August 2007 - 2 Ws 66/07 Vollz -, R&P 2008, S. 39 <40 ff.>; BayObLG, Beschluss vom 14. Oktober 2002 - 3Z BR 172/02 -, R&P 2004, S. 33; LG Heidelberg, Beschluss vom 20. April 2004 - 7 StVK 79/04 -, juris; Bernsmann, in: Blau/Kammeier, Straftäter in der Psychiatrie, 1984, S. 159; Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, 2001, S. 235 f.; v. Storch, a.a.O., S. 39 ff. <42>; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 7. Aufl. 2009, Rn. 362, 365; Rüping, JZ 1982, S. 744 <746 f.>; Rinke, NStZ 1988, S. 10 <12>; Marschner, R&P 1990, S. 66 <70>; a.A. Wagner, in: Kammeier, a.a.O., Rn. D 150; Narr/Saschenbrecker, FamRZ 2006, S. 1079 <1083>).
51
Ist ein Untergebrachter krankheitsbedingt nicht zur Einsicht in die Krankheit fähig, deretwegen seine Unterbringung notwendig ist, oder kann er krankheitsbedingt die nur mit einer Behandlung gegebene Chance der Heilung nicht erkennen oder nicht ergreifen, so ist der Staat nicht durch einen prinzipiellen Vorrang der krankheitsbedingten Willensäußerung verpflichtet, ihn dem Schicksal dauerhafter Freiheitsentziehung zu überlassen. Ein Eingriff, der darauf zielt, die tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung des Untergebrachten wiederherzustellen, kann unter diesen Umständen zulässig sein (vgl. BVerfGE 58, 208 <225>; s. auch BVerwGE 82, 45 <49>; Murswiek, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 209; Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 2 Abs. 2, Rn. 329 m. Fn. 167; Wagner, Selbstmord und Selbstmordverhinderung, 1975, S. 134; Seewald, Das Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 214 ff.; Michale, Recht und Pflicht zur Zwangsernährung bei Nahrungsverweigerungen in Justizvollzugsanstalten, 1983, S. 163 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 220 ff. <221 f.>; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121 f.; Dröge, Die Zwangsbetreuung, 1997, S. 198 f., 207 f.; Heide, a.a.O., S. 217 ff.; v. Storch, a.a.O., S. 39 ff. <42>, m.w.N.). Krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit hindert den Betroffenen, seine grundrechtlichen Belange insoweit wahrzunehmen, als es um die Wiedererlangung der Freiheit geht. Weil der Betroffene insoweit hilfsbedürftig ist (vgl. BVerfGE 58, 208 <225>), darf der Staat - nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - in diejenigen Grundrechte eingreifen, die der Betroffene allein krankheitsbedingt übergewichtet.
52
cc) Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die in Deutschland Gesetzeskraft hat (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl II S. 1419) und als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>), legt kein anderes Ergebnis nahe (vgl. König, BtPrax 2009, S. 105 <107 f.>; Marschner, R&P 2009, S. 135 <136 f.>; a.A. Kaleck/Hilbrans/Scharmer, Ratifikation der UN Disability Convention vom 30. März 2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin, Gutachterliche Stellungnahme, S. 29 ff., 40).
53
Zu den Menschen mit Behinderungen, für die die Gewährleistungen der Konvention gelten, gehören auch psychisch Kranke, wenn die Beeinträchtigung langfristig und von solcher Art ist, dass sie den Betroffenen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern kann (Art. 1 Abs. 2 BRK; vgl. Olzen, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW, Gutachten, 2009, S. 2). Die Regelungen der Konvention, die auf Sicherung und Stärkung der Autonomie behinderter Menschen gerichtet sind - insbesondere Art. 12 Abs. 2 BRK, mit dem die Vertragsstaaten anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen, und Art. 12 Abs. 4 Satz 2 BRK, der die Vertragsstaaten verpflichtet, bei Maßnahmen betreffend die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit die Rechte, den Willen und die Präferenzen der betreffenden Person zu achten - verbieten jedoch nicht grundsätzlich gegen den natürlichen Willen gerichtete Maßnahmen, die an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit anknüpfen. Dies ergibt sich deutlich unter anderem aus dem Regelungszusammenhang des Art. 12 Abs. 4 BRK, der sich gerade auf Maßnahmen bezieht, die den Betroffenen in der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit beschränken. Solche Maßnahmen untersagt die Konvention nicht allgemein; vielmehr beschränkt sie ihre Zulässigkeit, unter anderem indem Art. 12 Abs. 4 BRK die Vertragsstaaten zu geeigneten Sicherungen gegen Interessenkonflikte, Missbrauch und Missachtung sowie zur Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit verpflichtet.
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2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer medizinischen Zwangsbehandlung mit dem Ziel, den Betroffenen entlassungsfähig zu machen, hat strikt dessen krankheitsbedingte Unfähigkeit zu verhaltenswirksamer Einsicht - kurz: krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit - zur Voraussetzung (vgl. Bernsmann, in: Blau/Kammeier, a.a.O., S. 142 <159>; Heide, a.a.O., S. 236; Tietze, a.a.O., S. 120; s. auch Lesting, in: Marschner/Volckart/Lesting, a.a.O., Rn. B 209; Rinke, NStZ 1988, S. 10 <11, 13>; aus psychiatrischer und medizinethischer Sicht Garlipp, BtPrax 2009, S. 55 <57 f.>; Maio, in: Rössler/Hoff, a.a.O., S. 145 <149 ff. m.w.N.>; s. auch Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung, Resolution 46/119 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 17. Dezember 1991, <im Folgenden: UN-Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken>, Grundsatz 11 Absätze 6 ff.; zur möglichen Bedeutung nicht rechtsverbindlicher Entschließungen internationaler Organisationen für die Grundrechtsauslegung BVerfGE 116, 69 <90>).
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Soweit unter dieser Voraussetzung ausnahmsweise eine Befugnis des Staates, den Einzelnen „vor sich selbst in Schutz zu nehmen“ (vgl. BVerfGE 58, 208 <224>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 - 2 BvR 2270/96 -, NJW 1998, S. 1774 <1775>), anzuerkennen ist, eröffnet dies keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseitegesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint (vgl. BVerfGE 58, 208 <226 f.>; Baumann, Unterbringungsrecht, 1966, S. 25; Marschner, in: Marschner/Volckart/Lesting, a.a.O., Rn. 41; Wagner, in: Kammeier, a.a.O., Rn. D 152; zur Gefahr eines fürsorgerischen Paternalismus auch Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, 1992, S. 188 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 228 ff.; Neumann, KritV 1993, S. 276 <286>; Schwabe, JZ 1998, S. 66 <70>). Auf eine eingriffslegitimierende Unfähigkeit zu freier Selbstbestimmung darf daher nicht schon daraus geschlossen werden, dass der Betroffene eine aus ärztlicher Sicht erforderliche Behandlung, deren Risiken und Nebenwirkungen nach vorherrschendem Empfinden im Hinblick auf den erwartbaren Nutzen hinzunehmen sind, nicht dulden will. Erforderlich ist eine krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit oder Unfähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten (vgl. BVerfGE 58, 208 <225>).
56
3. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben sich über das Erfordernis krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit hinaus weitere Anforderungen. Angesichts der besonderen Schwere des Eingriffs ist eine auf die Erreichung des Vollzugsziels gerichtete medizinische Zwangsbehandlung nur unter engen Voraussetzungen zulässig.
57
a) aa) In materieller Hinsicht folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zunächst, dass Maßnahmen der Zwangsbehandlung nur eingesetzt werden dürfen, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen (vgl. BVerfGE 91, 1 <29>; OLG Köln, Beschluss vom 29. Juni 2006 - 16 Wx 141/06 -, NJW-RR 2006, S. 1664 <1665>; aus psychiatrischer Sicht statt vieler Finzen/Haug/Beck/Lüthy, Hilfe wider Willen. Zwangsmedikation im psychiatrischen Alltag, 1993, S. 157). Dies begrenzt auch die zulässige Dauer ihres Einsatzes. Eine zur Erreichung des Vollzugsziels begonnene Zwangsmedikation darf, wenn sie nicht zu einer deutlichen Verbesserung der Heilungs- und Entlassungsaussichten führt, zum Beispiel nicht allein deshalb aufrechterhalten werden, weil sie der Unterbringungseinrichtung die Betreuung des Patienten erleichtert und den dafür notwendigen Aufwand mindert.
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bb) Zwangsmaßnahmen dürfen ferner nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn mildere Mittel keinen Erfolg versprechen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10. Juli 2007 - 17 W 72/07 u.a. -, NJW-RR 2008, S. 230 <231>; Heide, a.a.O., S. 204; Honds, Die Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht, 2008, S. 144 ff. <147>; für Fixierungen OLG Naumburg, Urteil vom 12. Januar 2010 - 1 U 77/09 -, BTPrax 2010, S. 127 <129>; aus psychiatrischer Sicht SAMW, Zwangsmaßnahmen in der Medizin. Medizinisch-ethische Richtlinien, a.a.O., S. 8; Hell, in: Rössler/Hoff, a.a.O., S. 89 <94>; Garlipp, BtPrax 2009, S. 55 <58>). Für eine medikamentöse Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels bedeutet dies erstens, dass eine weniger eingreifende Behandlung aussichtslos sein muss. Zweitens muss der Zwangsbehandlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks (s. B.I.2.) unternommene Versuch vorausgegangen sein, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen (vgl. OLG Celle, a.a.O., S. 231; Wagner, in: Kammeier, a.a.O., Rn. D 147; Volckart/Grünebaum, a.a.O., Rn. 373; Hartmann, Umfang und Grenzen ärztlicher Zwangsbehandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug, 1997, S. 174). Dies gilt, da der grundrechtseingreifende Charakter der Zwangsbehandlung nicht von der Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit des Untergebrachten abhängt (s.o. B.I.2.), unabhängig davon, ob der Untergebrachte einwilligungsfähig ist oder nicht.
59
Auch beim Einwilligungsunfähigen ist daher ärztliche Aufklärung über die beabsichtigte Maßnahme nicht von vornherein entbehrlich. Als Grundlage einer rechtfertigenden Einwilligung kann die Aufklärung eines Einwilligungsunfähigen zwar nicht dienen; unter diesem Gesichtspunkt ist sie ihm gegenüber insofern funktionslos (vgl. Bernsmann, in: Blau/Kammeier, a.a.O., S. 142 <160>; Rinke, NStZ 1988, S. 10 <11>). Unabhängig von der Frage, ob durch Aufklärung eine wirksame Einwilligung zu erlangen ist, darf aber auch ein Einwilligungsunfähiger über das Ob und Wie einer Behandlung, der er unterzogen wird, grundsätzlich nicht im Unklaren gelassen werden (vgl. Volckart/Grünebaum, a.a.O., Rn. 374, m.w.N.; Heide, a.a.O., S. 236; mit Einschränkungen für gutachtlich bestätigte Ausnahmefälle Honds, a.a.O., S. 144 ff. <147>). Eine den Verständnismöglichkeiten des Betroffenen entsprechende Information über die beabsichtige Behandlung und ihre Wirkungen erübrigt sich daher nicht (vgl. auch UN-Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken, Grundsatz 11 Abs. 9).
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Der Grundsatz, dass der Eingriff nicht über das Erforderliche hinausgehen darf, hat auch die Auswahl der konkret anzuwendenden Maßnahmen nach Art und Dauer - einschließlich der Auswahl und Dosierung einzusetzender Medikamente und begleitender Kontrollen - zu bestimmen.
61
cc) Über die Erfordernisse der Geeignetheit und Erforderlichkeit hinaus ist Voraussetzung für die Rechtfertigungsfähigkeit einer Zwangsbehandlung, dass sie für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden ist, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Die Angemessenheit ist nur gewahrt, wenn, unter Berücksichtigung der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten, der zu erwartende Nutzen der Behandlung den möglichen Schaden der Nichtbehandlung überwiegt. Im Hinblick auf die bestehenden Prognoseunsicherheiten und sonstigen methodischen Schwierigkeiten des hierfür erforderlichen Vergleichs trifft es die grundrechtlichen Anforderungen, wenn in medizinischen Fachkreisen ein deutlich feststellbares Überwiegen des Nutzens gefordert wird (vgl. SAMW, a.a.O., S. 7; Garlipp, BtPrax 2009, S. 55 <57 f.>; s. auch Maio, in: Rössler/Hoff, a.a.O., S. 145 <161>). Daran wird es bei einer auf das Vollzugsziel gerichteten Zwangsbehandlung regelmäßig fehlen, wenn die Behandlung mit mehr als einem vernachlässigbaren Restrisiko irreversibler Gesundheitsschäden verbunden ist (vgl. Garlipp, BtPrax 2009, S. 55 <58>; für die Unvereinbarkeit irreversibler Eingriffe mit der UN-Behindertenrechtskonvention Aichele/von Bernstorff, BTPrax 2010, S. 199 <203>; Böhm, BtPrax 2009, S. 218 <220>).
62
b) Aus den Grundrechten ergeben sich Anforderungen in Bezug auf das Verfahren der Behörden und Gerichte (vgl. BVerfGE 52, 380 <389 f.>; 101, 106 <122>; 124, 43 <70>; stRspr). Der in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte, der einer Zwangsbehandlung unterzogen werden soll, ist auf solche Sicherungen in besonders hohem Maße angewiesen.
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aa) Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen und daher auch bei einer Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels dienen soll, ist, wenn die Maßnahme trotz Fehlschlags der gebotenen aufklärenden Zustimmungswerbung (s.o. B.II.3.a)bb)) durchgeführt werden soll, eine Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen. Dies folgt aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), die Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren entfaltet (vgl. BVerfGE 61, 82 <110>; 69, 1 <49>; 116, 135 <156>; 118, 168 <207>). Der Untergebrachte muss Gelegenheit haben, vor Schaffung vollendeter Tatsachen eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen (vgl. Volckart/Grünebaum, a.a.O., Rn. 373; siehe auch Art. 13, 14 Abs. 2 BRK). Dies gilt auch in Fällen, in denen die Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters vorliegt. Hier muss der insoweit von Verfassungs wegen (vgl. BVerfGE 10, 302 <306>) verfahrensfähige Betroffene zumindest, erforderlichenfalls mit Hilfe eines Verfahrenspflegers, rechtzeitig gegen die Erteilung der Einwilligung vorgehen können (vgl. dementsprechend §§ 275, 276 FamFG).
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Die Ankündigung muss in einer Weise konkretisiert sein, die die Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs sichert und eine hierauf gerichtete gerichtliche Überprüfung ermöglicht (vgl. im betreuungsrechtlichen Zusammenhang BGHZ 166, 141 <153>; LG Kleve, Beschluss vom 12. März 2009 - 4 T 67/09 -, juris; LG Saarbrücken, Beschluss vom 23. März 2009 - 5 T 100/09 -, juris). Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme gehört allerdings auch, dass die Flexibilität der fachgerechten ärztlichen Reaktion auf individuelle Unterschiede, wie sie nach der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in der Ansprechbarkeit auf die günstigen und ungünstigen Medikamentenwirkungen bestehen, nicht über Gebühr beeinträchtigt wird. Dem Konkretisierungserfordernis steht nicht entgegen, dass die Planung und die Entscheidung über die Einzelheiten einer Medikation in erster Linie Sache der ärztlichen Beurteilung ist. Dies trifft zwar zu, ändert aber nichts an der Notwendigkeit einer die Effektivität des Rechtsschutzes sichernden Verfahrensgestaltung. Wenn ärztliche Maßnahmen zwangsweise ergriffen werden, ist der damit verbundene schwerwiegende Grundrechtseingriff der grundrechtlich gewährleisteten gerichtlichen Überprüfung - auch der gerichtlichen Überprüfung auf seine Verhältnismäßigkeit, die von der näheren Ausgestaltung der Maßnahme abhängen kann - nicht deshalb entzogen, weil die Angemessenheit der Maßnahme nur auf der Grundlage ärztlichen Sachverstandes beurteilt werden kann. Soweit die gerichtliche Überprüfung nur auf der Grundlage ärztlichen Sachverstandes möglich ist, gehört es zur aus den Grundrechten des Betroffenen folgenden Sachverhaltsaufklärungspflicht der Gerichte (vgl. allg. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfGK 9, 390 <395>; 9, 460 <463 f.>), sich solchen Sachverstandes zu bedienen (vgl. für den Fall der Entscheidung über eine freiheitsentziehende Unterbringung BVerfGE 58, 208 <226>).
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Bei einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika muss unbeschadet der Pflicht, sie auch innerhalb der vorgesehenen Laufzeit jederzeit abzubrechen, wenn der Behandlungsverlauf sie als nicht mehr verhältnismäßig erweist, die Konkretisierung sich unter anderem auf die geplante Dauer der Maßnahme beziehen. Dies erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur im Hinblick darauf, dass die Wahrscheinlichkeit bestimmter Nebenwirkungen von der Verabreichungsdauer abhängt (s.o. A.IV.6.), sondern auch zur Sicherung wiederkehrender umfassender Prüfung der Maßnahme (vgl. für die Notwendigkeit der zeitlichen Befristung jeder Zwangsmaßnahme SAMW, a.a.O., S. 17; Leitfaden zur Qualitätsbeurteilung in Psychiatrischen Kliniken, Projekt 1994-1996 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, 1996, S. 198).
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bb) Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit unabdingbar ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch einen Arzt. Nur dies entspricht auch den völkerrechtlichen Maßgaben, den internationalen Standards in Menschenrechtsfragen und den fachlichen Standards der Psychiatrie (vgl. EGMR, Jalloh v. Deutschland, Urteil vom 11. Juli 2006 - 54810/00 -, Rn. 73; UN-Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken, Grundsatz 10 Abs. 2; SAMW, a.a.O., S. 8; Empfehlung Nr. R(98)7 des Ministerkomitees des Europarats zu ethischen und organisatorischen Aspekten der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten, Anhang, Nr. 21, in: Bundesministerium der Justiz u.a. <Hrsg.>, Empfehlungen des Europarats zum Freiheitsentzug, 2004, S. 163 <168>; Leitfaden zur Qualitätsbeurteilung in Psychiatrischen Kliniken, a.a.O., S. 207; Anderl-Doliwa u.a. <Arbeitskreis der Chefärzte und leitenden Pflegepersonen der psychiatrischen Kliniken des Landes Rheinland-Pfalz>, Leitlinien für den Umgang mit Zwangsmaßnahmen, PsychPflege 2005, S. 100 <102>).
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cc) Als Vorwirkung der grundrechtlichen Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes (s.o. B.II.3.b)aa)) ergibt sich die Notwendigkeit, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behandlungsmaßnahmen, einschließlich ihres Zwangscharakters, der Durchsetzungsweise, der maßgeblichen Gründe und der Wirkungsüberwachung, zu dokumentieren (vgl. zu grundrechtlich begründeten Dokumentationspflichten in anderen Zusammenhängen BVerfGE 65, 1 <70>; 103, 142 <160>; BVerfGK 9, 231 <238>; 12, 374 <376 f.>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Januar 2007 - 2 BvR 1206/04 -, NVwZ 2007, S. 1044, und vom 28. Juli 2008 - 2 BvR 784/08 -, NJW 2003, S. 3053 <3054>; allg. BVerfGE 118, 168 <207>; zur Erforderlichkeit der Dokumentation psychiatrischer Zwangsmaßnahmen vgl. UN-Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken, Grundsatz 10 Abs. 2 und Grundsatz 11 Abs. 10, Abs. 11 Satz 3; Leitfaden zur Qualitätsbeurteilung in Psychiatrischen Kliniken, a.a.O., S. 58, 205; Anderl-Doliwa u.a. <Arbeitskreis der Chefärzte und leitenden Pflegepersonen der psychiatrischen Kliniken des Landes Rheinland-Pfalz>, a.a.O., S. 100 <102>; zur gebotenen Detaillierung SAMW, a.a.O., S. 18). Die Pflicht zu vorheriger Ankündigung der Maßnahme, die effektiven Rechtsschutz ex ante ermöglichen soll, macht eine Dokumentation zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes, den der Betroffene erst später, auch etwa in haftungsrechtlichen Angelegenheiten, sucht, nicht entbehrlich. Unabhängig von der Garantie effektiven Rechtsschutzes ist die Dokumentation auch zur Sicherung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geboten. Nur auf ihrer Grundlage bleibt fachgerechtes und verhältnismäßiges Handeln unter der für Kliniken typischen Bedingung gesichert, dass die zuständigen Akteure wechseln. Erst recht gilt dasselbe für Behandlungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur unter der Voraussetzung wahren, dass die Auswirkungen im Zeitverlauf beobachtet und aus den Ergebnissen dieser Beobachtung die fälligen Konsequenzen gezogen werden. Hinzu kommt schließlich, dass die Dokumentation auch ein unentbehrliches Mittel der systematischen verbesserungsorientierten Qualitätskontrolle und Evaluation ist. Diese ist, soweit es um Zwangsbehandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels geht, sowohl als Element zukunftsgerichteten Schutzes der unmittelbar betroffenen Grundrechte als auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich vorgegebene Resozialisierungsziel geboten (vgl. BVerfGE 116, 69 <91>; zu Defiziten in der damaligen Praxis Ketelsen/Zechert/Klimitz/Rauwald, PsychiatPrax 2001, 28: S. 69 <70>; Steinert, in: Kebbel/Pörksen, Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie, Köln 1998, S. 135 <135, 137>).
68
dd) Art. 2 Abs. 2 GG fordert darüber hinaus spezielle verfahrensmäßige Sicherungen gegen die besonderen situationsbedingten Grundrechtsgefährdungen, die sich ergeben, wenn über die Anordnung einer Zwangsbehandlung außerhalb akuter Notfälle allein die jeweilige Unterbringungseinrichtung entscheidet (vgl. BVerfGE 52, 391 <407 f.>; 53, 30 <60 ff.>; 113, 29 <57 f.>; 124, 43 <70>; stRspr).
69
Die weitreichenden Befugnisse der Unterbringungseinrichtung in Verbindung mit ihrer Geschlossenheit und den dadurch für alle Beteiligten eingeschränkten Möglichkeiten der Unterstützung und Begleitung durch Außenstehende versetzen den Untergebrachten in eine Situation außerordentlicher Abhängigkeit, in der er, vor allem bei schwerwiegenden Eingriffen, besonderen Schutzes dagegen bedarf, dass seine grundrechtlich geschützten Belange etwa aufgrund von Eigeninteressen der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter - insbesondere bei Überforderungen, die im Umgang mit oft schwierigen Patienten leicht auftreten können -, bei nicht aufgabengerechter Personalausstattung oder aufgrund von Betriebsroutinen unzureichend gewürdigt werden (vgl. dementsprechend für das Erfordernis besonderer Sicherungen gegen Interessenkonflikte und missbräuchliche Einflussnahme Art. 12 Abs. 4 Satz 2 BRK; speziell zu medizinischen Eingriffen s. auch UN-Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung, Grundsatz 11 Abs. 6 b und Abs. 13).
70
Hieraus können sich nicht nur besondere verfassungsrechtliche Anforderungen für etwaige gerichtliche Verfahren ergeben (vgl. für das gerichtliche Verfahren über die Fortdauer der Freiheitsentziehung BVerfGE 70, 297 <310 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. März 2009 - 2 BvR 2543/08 -, NStZ-RR 2010, S. 122). Vielmehr muss gesichert sein, dass dem Eingriff eine von der Unterbringungseinrichtung unabhängige Prüfung vorausgeht.
71
In Teilen der Literatur wird bei Zwangsbehandlungen die Einschaltung eines Betreuers als verfassungsrechtlich geboten angesehen oder angenommen, dass einer betreuungsrechtlichen Lösung jedenfalls von Verfassungs wegen Vorrang einzuräumen sei vor der Ersetzung der Entscheidung des Einwilligungsunfähigen durch eine staatliche Behörde (vgl. Tietze, a.a.O., S. 66 ff.; Popp, a.a.O., S. 75 f.; Lipp, Freiheit und Fürsorge, 2000, S. 55 ff., 134 f.; ders., BtPrax 2005, S. 6 <7>; Rinke, NStZ 1988, S. 10 <14>; a.A. Volckart/Grünebaum, a.a.O., Rn. 369; Heide, a.a.O., S. 229; Stalinski, BtPrax 2000, S. 59 ff. <61 f.>; Hoffmann, R&P 2005, S. 52 ff.). Das Maßregelvollzugsrecht kann die Einschaltung eines Betreuers durch entsprechend extensive Einwilligungserfordernisse solcher Art, dass bei fehlender Zustimmung des Betroffenen selbst die ersetzende Einwilligung eines Betreuers erforderlich und ausreichend ist, sicherstellen. Eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, die Rechte des Betroffenen gerade auf diese Weise zu schützen, besteht jedoch nicht. Für den Betroffenen wird der Eingriff, der in einer medizinischen Zwangsbehandlung liegt, nicht dadurch weniger belastend, dass gerade ein Betreuer ihr zugestimmt hat. Die entscheidende objektive Schutzwirkung, die in der Einschaltung eines externen Dritten liegt, kann nicht allein auf diese Weise, sondern auch mit anderen Mitteln erreicht werden. Es sind keine durchgreifenden Gründe ersichtlich, deretwegen eine Betreuerlösung von Verfassungs wegen vorzugswürdig wäre beispielsweise gegenüber einem Richtervorbehalt, wie ihn die Rechtsordnung andernorts für weitaus weniger gravierende Eingriffe vorsieht (§ 81a Abs. 2 StPO), oder gegenüber der Beteiligung einer anderen neutralen Stelle (Ombudsperson, sonstige Behörde), die auch die Aufgabe haben könnte, sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes nicht aufgrund von Beeinträchtigungen des Betroffenen unterbleibt. Zwar kann für den Betroffenen
eine Milderung der Fremdbestimmung darin liegen, dass bei der Auswahl des Betreuers auf seine Wünsche und auf vorhandene Bindungen Rücksicht zu nehmen ist (s. i.E. § 1897 Abs. 4, 5 BGB). Die Realisierung dieses Vorteils stößt aber, gerade bei im Maßregelvollzug Untergebrachten, häufig auf praktische Hindernisse, weil geeignete Personen aus dem persönlichen Umfeld nicht verfügbar sind. Zudem können andere Lösungen mit gewichtigen anderen Vorteilen verbunden sein oder verbunden werden. Dies betrifft etwa die Bedingungen der Einschaltung externen Sachverstandes und die gebotene systematische Evaluation (s.o. B.II.3.b)cc)). Die Ausgestaltung der Art und Weise, in der sichergestellt wird, dass vor Durchführung einer Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels eine - sich nicht in bloßer Schreibtischroutine erschöpfende - Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung stattfindet, ist danach Sache der jeweils zuständigen Gesetzgeber.
72
4. a) Die Zwangsbehandlung eines Untergebrachten ist, wie jeder andere Grundrechtseingriff, nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig, das die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs bestimmt. Dies gilt nicht nur für die materiellen, sondern auch für die formellen Eingriffsvoraussetzungen. Gesetzlicher Regelung bedürfen in verfahrensrechtlicher nicht anders als in materieller Hinsicht die für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlichen Fragen (vgl. BVerfGE 57, 295 <320 f.>; 73, 280 <294, 296>; 82, 209 <224 f., 227>; 120, 378 <429>).
73
Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs müssen hinreichend klar und bestimmt geregelt sein (vgl. für den Strafvollzug i.w.S. BVerfGE 116, 69 <80>, m.w.N.). Der Gesetzgeber ist gehalten, seine Vorschriften so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (vgl. BVerfGE 49, 168 <181>; 59, 104 <114>; 78, 205 <212>; 103, 332 <384>). Die notwendige Bestimmtheit fehlt nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist (vgl. BVerfGE 45, 400 <420>; 117, 71 <111>; stRspr). Die Betroffenen müssen jedoch die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können (vgl. BVerfGE 103, 332 <384>; 113, 348 <375>, m.w.N.), und die gesetzesausführende Verwaltung muss für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden (vgl. BVerfGE 110, 33 <54>; 113, 348 <375>). Zur notwendigen Erkennbarkeit des Norminhalts gehört die Klarheit (vgl. BVerfGE 78, 214 <226>; 115, 166 <190>; 119, 331 <366>; stRspr) und, als deren Bestandteil, die Widerspruchsfreiheit (vgl. BVerfGE 98, 106 <118 f.>; 108, 169 <181, 183>; 119, 331 <366>; stRspr) der Norm. Die Anforderungen an den Grad der Klarheit und Bestimmtheit sind umso strenger, je intensiver der Grundrechtseingriff ist, den eine Norm vorsieht (vgl. BVerfGE 59, 104 <114>; 75, 329 <342>; 86, 288 <311>; 110, 33 <55>; 117, 71 <111>). Für die näheren Anforderungen kann, nicht zuletzt in der Frage, inwieweit Maßgaben, die sich aus dem Grundgesetz ableiten lassen, ausdrücklicher und konkretisierender Festlegung im einfachen Gesetz bedürfen, auch der jeweilige Kreis der Normanwender und Normbetroffenen von Bedeutung sein (vgl. BVerfGE 110, 33 <64>; 123, 39 <81>).
III.
74
Nach diesen Maßstäben stellt § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. keine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Zwangsbehandlung dar. Die Vorschrift genügt nicht den Anforderungen, die an die Klarheit und Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage für einen besonders schweren Grundrechtseingriff (s.o. B.I.3.) zu stellen sind. Weder für aktuell oder potentiell betroffene Untergebrachte noch für die zur Normanwendung in erster Linie berufenen Entscheidungsträger der Unterbringungseinrichtung, die einer klaren, Rechtssicherheit vermittelnden Eingriffsgrundlage auch im eigenen Interesse bedürfen, sind die wesentlichen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels aus dem Gesetz erkennbar.
75
1. Es kann offenbleiben, ob es an der notwendigen Klarheit der gesetzlichen Grundlage bereits deshalb fehlt, weil aus Wortlaut und Systematik der Vorschrift nicht hinreichend deutlich wird, in welchem Verhältnis § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf., dem zufolge „Im übrigen“ Zwangsbehandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des Patienten durchgeführt werden können, zu den Regelungen des vorausgehenden Satzes 1 steht (für unterschiedliche und teilweise ihrerseits unklare Auslegungen der Vorschrift vgl. einerseits Hartmann, Umfang und Grenzen ärztlicher Zwangsbehandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug, 1997, S. 219; andererseits Wagner, in: Kammeier, a.a.O., Rn. D 167; nochmals jeweils anders wohl Volckart/Grünebaum, a.a.O., Rn. 390; Heide, a.a.O., S. 85, 87; ohne Auslegung mit der Feststellung, die Vorschrift sei unklar, Marschner, R&P 1988, S. 19 <21>). Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob insoweit den Gesetzesmaterialien Klärendes zu entnehmen ist (vgl. Landtag Rheinland-Pfalz, Ausschuss für Soziales und Gesundheit, Protokoll der 26. Sitzung vom 25. April 1986, S. 1; Landtag Rheinland-Pfalz, Protokoll der 76. Sitzung vom 11. September 1986, S. 4602 <4606>), und ob es für einen Eingriff der hier in Rede stehenden Art ausreichen könnte, wenn Anhaltspunkte für das Verständnis einer nach Wortlaut und Systematik unklaren Ermächtigungsgrundlage sich erst aus den Gesetzesmaterialien gewinnen ließen.
76
Unabhängig von der Frage, in welchem Verhältnis § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. zu den weiteren Regelungen des Absatzes 1 steht - also bei jeder denkbaren, einschließlich der in den angegriffenen Entscheidungen zugrundegelegten, Deutung dieses Verhältnisses - fehlt es jedenfalls an einer Regelung wesentlicher materieller und verfahrensmäßiger Voraussetzungen (s.o. B.II.2.,3.) für die Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels.
77
a) So fehlt es insbesondere an einer gesetzlichen Regelung des bei Zwangsbehandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels unabdingbaren Erfordernisses krankheitsbedingt fehlender Einsichtsfähigkeit (B.II.2.). § 6 Abs. 4 MVollzG Rh.-Pf., wonach bei fehlender Einsichtsfähigkeit die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters maßgebend ist, setzt voraus, dass nach Absatz 1 der Vorschrift eine Einwilligung überhaupt erforderlich ist. Dies ist aber bei Behandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels gerade nicht durchweg - je nach Deutung der Teilregelungen des § 6 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. und ihres Verhältnisses zueinander sogar nur in sehr eingeschränktem Umfang - der Fall. § 6 Abs. 3 MVollzG Rh.-Pf., wonach die Einrichtung zur zwangsweisen Durchführung von Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 nicht verpflichtet ist, solange von einer freien Willensbestimmung des untergebrachten Patienten ausgegangen werden kann, bindet nur die Pflicht, nicht aber auch die Befugnis zu Maßnahmen der Zwangsbehandlung an die Einsichtsfähigkeit des Untergebrachten. Mit der Regelung des § 6 Abs. 5 Satz 1 MVollzG Rh.-Pf., wonach die Maßnahmen für den untergebrachten Patienten zumutbar sein müssen und nicht außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Erfolg stehen dürfen, sind die materiellen Voraussetzungen der Zulässigkeit des Eingriffs nicht hinreichend konkretisiert.
78
Soweit das Gesetz hinsichtlich der nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotenen Bemühung um das Einverständnis des Betroffenen eine konkretisierende Regelung enthält, greift diese zudem zu kurz, indem sie ein Bemühen um Zustimmung nur unter der Voraussetzung weitreichender Einsichtsfähigkeit vorsieht (§ 5 Abs. 2 MVollzG Rh.-Pf.), während nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Versuch, eine einverständliche Lösung zu erreichen, in weiterem Umfang geboten ist (B.II.3.a)bb)).
79
b) Darüber hinaus fehlt eine gesetzliche Regelung weiterer wesentlicher zur Wahrung der Grundrechte notwendiger verfahrensrechtlicher Eingriffsvoraussetzungen. Vorgesehen ist allerdings, dass Maßnahmen nach § 6 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. nur auf Anordnung und unter der Leitung eines Arztes durchgeführt werden dürfen (§ 6 Abs. 5 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf.). Unzureichend ist jedoch die gebotene Ankündigung (B.II.3.b)aa)) geregelt. Im Rahmen der allgemeinen Regelung über die Anwendung unmittelbaren Zwangs sieht zwar § 22 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 MVollzG Rh.-Pf., ohne nähere Bestimmung der Mindestinhalte, eine vorherige Androhung der Maßnahme für den Fall vor, dass sie mit physischem Zwang („körperliche Gewalt und ihre Hilfsmittel“) durchgesetzt wird. § 22 Abs. 1 MVollzG Rh.-Pf. gestattet allerdings die Anwendung unmittelbaren Zwangs nur für Fälle der Gefährdung von Sicherheit und Ordnung. Welche Bedeutung danach den Bestimmungen des § 22 MVollzG Rh.-Pf. für medizinische Zwangsbehandlungen zur Erreichung des Vollzugsziels zukommt, kann hier offenbleiben. Jedenfalls wären mit einer Regelung, die eine Androhung allein für die Anwendung physischen Zwangs vorschreibt, die Fälle, für die das Ankündigungserfordernis von Verfassungs wegen besteht, nicht ausreichend erfasst. Denn eine Zwangsbehandlung im Sinne einer medizinischen Behandlung, die gegen den Willen des Betroffenen erfolgt - und schon damit einen besonders schweren Eingriff in dessen Grundrechte darstellen kann -, liegt unabhängig davon vor, ob eine gewaltsame Durchsetzung der Maßnahme erforderlich wird oder der Betroffene sich, etwa weil er die Aussichtslosigkeit eines körperlichen Widerstandes erkennt, ungeachtet fortbestehender Ablehnung in die Maßnahme fügt und damit die Anwendung körperlicher Gewalt entbehrlich macht (B.I.1.,2.). Weiter mangelt es an Vorgaben zur Dokumentation des Eingriffs (B.II.3.b)cc)) und an den im Hinblick auf die besondere Situation der Untergebrachten notwendigen verfahrensrechtlichen Vorkehrungen, die sicherstellen, dass vor Durchführung einer Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels eine Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung stattfindet (B.II.3.b)cc)). Die bloße gesetzliche Pflicht zur Meldung durchgeführter Maßnahmen an die Aufsichtsbehörde, einen von dieser zu bestimmenden Arzt und den - etwaigen - gesetzlichen Vertreter (§ 6 Abs. 6 MVollzG Rh.-Pf.) genügt insoweit nicht.
80
2. Den Mängeln der gesetzlichen Regelung kann nicht im Wege verfassungskonformer Auslegung abgeholfen werden. Die verfassungsrechtlichen Defizite können nur durch den Gesetzgeber behoben werden.
C.
81
Die festgestellten Verfassungsverstöße betreffen § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. insgesamt, da der zweite Halbsatz der Vorschrift keine vom ersten unabhängige, selbständige Bedeutung hat (vgl. BVerfGE 8, 274 <301>; 65, 325 <358>; 111, 226 <273>; stRspr). Daher ist § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. insgesamt für nichtig zu erklären. Die Voraussetzungen für eine bloße Unvereinbarerklärung mit befristeter Weitergeltung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber liegen nicht vor. Das hierfür erforderliche Überwiegen der Nachteile des sofortigen Außerkrafttretens der Norm gegenüber den Nachteilen, die mit der vorläufigen Weitergeltung verbunden wären (vgl. BVerfGE 61, 319 <356>; 83, 130 <154>; 85, 386 <401>; 87, 153 <177 f.>; 100, 313 <402>), kann angesichts der Schwere der Grundrechtseingriffe, zu denen § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MVollzG Rh.-Pf. ermächtigt, nicht festgestellt werden.
82
Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen, die mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für den angekündigten Eingriff den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen, sind aufzuheben und die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht Landau in der Pfalz zurückzuverweisen.
83
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Voßkuhle Di Fabio Mellinghoff
Lübbe-Wolff Gerhardt Landau
Huber Hermanns
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20110323_2bvr088209.html
Namensgleichheit mit:
David Schneider (geb. ....) - Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Freiburg (ab , ..., 2019) - im Handbuch der Justiz 1998, 2010 und 2016 unter dem Namen David Schneider nicht aufgeführt.